Montag, 31. Oktober 2016

Herbst

Es ist Herbst. Ich warte auf die Straßenbahn, zittere und friere wie gewohnt und reibe mir die erkalteten Hände. Und dort, neben mir, steht ein Mädchen, eine junge Frau, präziser, und ich kann nicht anders, als schamlos auf ihre Fußknöchel zu starren. Sie trägt flache Sportschuhe, helle, beinah unsichtbare Füßlinge und diese figurenbetonten, hautengen Jeans, deren Hosenbeine immer eine Spur zu kurz sind, bewusst zu kurz (oder aufgebogen). Dadurch entsteht eine gewollte Lücke, ein Stück perfekter, nackter Haut zwischen den unsichtbaren Halbsocken und der zu kurzen Hose – knappe zehn Zentimeter pure Nacktheit, die mich wieder und wieder in den Bann schlägt und fassungslos zurücklässt.

Es scheint mir wie eine gezielte Kampfansage, ein Zeichen der offenen Rebellion inmitten von verhüllten Stiefel- und Strumpfmenschen, das verbindende Element eines empfindlosen Frauentypus, deren stilsicheres Modebewusstsein über der Saison steht. Es ist Herbst, und egal, wohin ich gehe, überall begegnen mir diese gefühllosen, jungen Menschen, die mir ihre nackten Knöchel präsentieren, als wüssten sie nichts von Jahreszeiten oder Temperaturstürzen. Immer wieder haftet mein Blick auf diesen spannenden, unheimlichen, nackten Zentimetern über ihrem Schuh, und immer wieder lässt er mich ungläubig zurück, weil ich nicht begreifen kann, dass diese jungen, barknöcheligen Frauen einfach nicht frieren wollen. Wäre allerdings das Gegenteil der Fall, ja, falls ihnen in dieser Mode tatsächlich kalt ist – warum zeigen sie dann überhaupt ihre unverhüllten Knöchel?  

Immer noch wartend, zieht jedes Gefühl betont langsam aus meinen gefrierkalten Händen und meine Finger wandeln sich in ein lebloses Farbgemisch aus gelb, weiß und blau, während ihr makellos weiblicher, glatter Knöchelglanz gnadenlos gelassen in meine Richtung schimmert und ihr Gesicht keine Miene verzieht, ihr Blick ganz unbeeindruckt und konzentriert auf der mobilen Technik verbleibt. Der eisige Wind peitscht von allen Seiten, demonstriert sein Können und sucht verzweifelt nach Aufmerksamkeit; es lässt sie kalt.

Montag, 24. Oktober 2016

Lektüre und Strafe

Ich habe Schuld und Sühne in meinem Bücherregal stehen. Ich habe es noch nicht gelesen, weil ich sehe, wie dick es ist. Ich glaube, es würde mir gefallen, und mehr noch, es würde mir gut tun, würde meine Weltsicht (und somit mein Dasein) erweitern und auffächern, mich zu einem besseren Menschen machen. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, jede Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, ist das Buch da und wartet darauf, von mir berührt zu werden. Seit Jahren habe ich es nicht mehr angefasst.

Die Wahrheit ist, ich getraue mich nicht, es zu lesen.

Die Größe des Werkes macht mir Angst, erzeugt einen innerlichen Respekt vor der Lektüre, der in Hemmung und Vorsicht umschlägt, eine Vorsicht vor der Aufgabe, der ich mich nicht gewachsen fühle. Ich sage mir, ich muss den richtigen Zeitpunkt wählen, muss die richtige Ruhe finden, um die Aufgabe zu beginnen, denn ohne Vorbereitung ist es unmöglich, sich auf ein solch überlebensgroßes Werk von vollendeter Meisterschaft zu stürzen. So zumindest stellt sich mir das Buch jedes Mal vor, wenn ich, mit sicherem Abstand, seinen Rücken im Regal betrachte.

Der richtige Zeitpunkt ist noch nicht gekommen. Die richtige Ruhe hat sich noch nicht eingestellt.

Ich schreibe „noch nicht“ und spüre bereits seine Nähe zum „nie“, weil sich an meinem Verhältnis zur Lektüre nichts ändert, weil der Roman nicht kleiner wird. Wenn das Buch nur aus einer einzigen Seite bestehen würde, wenn es ein magisches, analoges E-Book wäre, deren Seiteninhalt sich selbst erneuerte und ich nicht wissen könnte, wie viele Seiten noch kämen – dann änderte sich alles. Dann wollte ich das Buch einfach beginnen, einfach lesen, ohne zu wissen, wie viel Zeit ich noch zu investieren, wie viel Seiten ich noch zu absolvieren hätte. Wenn die Angst doch nur kein unerbittliches Gedächtnis hätte.

Und so ist es bei mir mit jeder großen Aufgabe: Sie will gar nicht erst begonnen werden, weil mich der Gedanke an ihre Bewältigung bereits überfordert. Die Angst vor der Größe übersieht sogar ihre Zusammensetzung: Ich kann dreißig schmale Erzählbände lesen, aber ich ziere mich, diesen einen Roman zu beginnen. Ich kann sieben Mal für den nächsten Tag einkaufen, aber nicht ein Mal für die ganze Woche. Ich sehe die Summe, aber nicht die Teile. Die Rechnung, aber nicht die Ersparnis.

Ich könnte mich einfach von dem Buch trennen. Es verschenken und mich von dem Gedanken befreien, es lesen zu müssen – denn das ist der dominante Gedanke: weniger es noch nicht gelesen zu haben, als es noch lesen zu müssen. Als wäre es eine verdammte Pflicht, eine Strafe, mir im Lesen etwas Gutes zu tun.

Nein, es ginge nicht. Ich könnte das Buch verschenken, aber ich kann mich nicht von ihm trennen. Es ruft mich bereits seit Jahren, verlangt nach mir, in jeder Buchhandlung, die ich durchstöbere, in jedem Film, der es zitiert, jedem Artikel, der es verknüpft. Und hier, in meinem Regal, ist es mein unberührter Begleiter, der immer für mich da ist, der noch nicht, der vielleicht morgen, der vielleicht nie von mir angefasst und ausgelesen wird.

Und allein durch seine Präsenz verschmilzt meine Angst vor der Lektüre mit Dostojewskijs Werk zu einer unerklärlichen Kraft, einer absurden Konstante, die mein Leben durchzieht und zusammenfasst und ich wieder einmal vor meinen Gefühlen stehe wie ein naiver, grenzenloser Idiot – den ich auch noch lesen muss.

Dienstag, 11. Oktober 2016

Die Banalität des Guten

Immer noch überfordert es mich regelmäßig, wenn Menschen gut zu mir sind. Arbeitskollegen, die mir Zigaretten und Nachsicht schenken, herzliche Putzfrauen, die mir ständig eine Tasse Kaffee anbieten, der achtsame Supermarktkassier, der mir nachruft, ich hätte meinen Schirm vergessen. Solche Akte der Güte lösen in mir eine seltsame Hilflosigkeit der Sprache aus, ein automatisches Ausgeliefertsein im Widerfahrnis des Guten, das ich nicht einordnen kann.

Dabei sind es weniger die Taten an sich, als vielmehr ihre Auslöser, Beweggründe, die mir jedes Mal unbegreiflich erscheinen. Immer, wenn jemand einfach so gut zu mir ist, bin ich versucht, anzuhalten und nachzufragen, um zu begreifen, nachzuvollziehen, und innerlich stammelt eine überwältigte Stimme irgendwelche fragenden Fragmente, auf der unnützen Suche nach dem Warum des Guten.

Langsam beginne ich zu glauben, manche Menschen sind grundlos gut. In ihrer Natur steckt etwas zutiefst Gütiges, das sie weder verstecken noch leugnen können; sie zeigen dir an deinem ersten Arbeitstag, worauf du zu achten hast, sie entschuldigen sich, wenn du sie in der Straßenbahn anrempelst, sie haben immer etwas bei sich, das sie mit dir teilen können (und es auch tun). Und das alles ganz ohne Motiv, ohne dich oder mich sonderlich gut zu kennen oder etwas in retour zu verlangen. Gut sein ist für sie der banalste Vorgang der Welt. Sie handeln, ohne ihre Güte je zu hinterfragen oder an ihrer Richtigkeit zu zweifeln, weil sie immer schon gut waren. Die Guten sind natürlich gut.

Deshalb fällt es mir so schwer, mit ihren unerwarteten Geschenken umzugehen; ich kann ihre Güte nicht logisch nachvollziehen, weil sie keine Logik verlangt, kann nicht nach tieferen Gründen suchen, weil es keine gibt. Das Gute hat kein Anrecht auf Psychologie. Ich muss es einfach akzeptieren und annehmen, auch wenn es so viel schwerer fällt, als die Schlechtigkeit der Menschen hinzunehmen. Im Gegensatz zum natürlich Guten sind die alltäglichen Spielformen des Schlechten (die Arroganz, die Grobheit, die Erwartung, die Ungeduld, die Einseitigkeit, die Dogmatik, die Ausnutzung ...) immer tiefenbegründet, immer und überall erklärbar, verfolgte man sie nur weit genug zurück.

Gutes geschieht grundlos. Schlechtigkeit und Übel haben immer ein Motiv.

Samstag, 8. Oktober 2016

Amazonen und Faune

Meine Arbeitsdienste führen mich immer wieder in die Ausstellungsräume großflächiger Museen, in denen ich die Sicherheit der Exponate gewährleisten soll. Objektschutz heißt das in der Firmensprache. In der Realität heißt das schlechte Bezahlung und lange Dienstzeiten. Ich stehe mir die Füße wund, beobachte die seltsam lustlose Grundhaltung von Touristengruppen und muss versuchen zu erkennen, welches Smartphone auf Fotomodus gestellt ist. „No photo, please“, sage ich mechanisch und mit einem überraschten Nicken wird das Handy weggesteckt, nachdem der Zeigefinger den Bildauslöser berührt hat.

Seit Wochen bin ich führender Experte in der Ausstellungswelt des Malerfürsten Franz von Stuck, dessen ironische Fabelwesen ich längst nicht mehr sehen kann. Hundert ölbefleckte Natur- und Mythosbilder, und ein einziger Schiele zeigt ihnen die Grenzen auf.

Nicht immer habe ich so gedacht. Am Anfang hatte er auch mich gepackt, der spektakuläre, bunte Überwältigungseffekt des Malerfürsten, der mit jedem Blick schrumpfte und schließlich und endlich verschwand und nichts hinterließ als ernüchterte, enttäuschte Leere. Vielleicht ist das der Preis der Ironie, mit denen er seine Bilder durchzieht, deren attraktive Verpackung die gehaltlose Idee zu übertünchen versucht. Kunst, die nur für den schnellen Blick gemacht worden ist, für das erste Staunen ob der fantastischen Nixen, Götter, Amazonen und Faune in den majestätischen, unikalen Goldrahmen; Antike und Sünde, Kitsch und Prunk. Einem wochenlangen Blick hält ein solches, verschmitzt hingepinseltes Werk nicht stand. Je länger ich in der Ausstellung arbeite, desto grober, unbedachter und leerer erscheint mir eine Vielzahl der Gemälde. Ein wahlloser Schiele dagegen wird sich niemals leer betrachten. Und vielleicht zeigt sich wahre Kunst tatsächlich erst in seiner Langzeitbetrachtung.

Inmitten eines Ausstellungsraumes thront ein breiter Sessel auf einem sanften Podest, ein von den Jahrzehnten gezeichneter, wie mit rotem Moos überzogener Fauteuil, der eins im Atelier der Villa von Stuck ruhte. Ein kunstvolles Einzelstück von roher Kostbarkeit, ein unantastbares Mobiliar ohne Zweck. Heute bin ich im hinteren Museumsabschnitt eingeteilt, drehe meine Kontrollrunden im letzten Raum und blicke hier und da in den Bereich der erfahrenen Kollegin, blicke direkt auf den bemoosten, feuerroten Armsessel, nicke der Kollegin zu und dann wieder kehrt und eine weitere Runde. Wieder einmal sind die Gedanken ganz weit weg und ich ärgere mich, im Dienst nichts niederschreiben zu können, da stehe ich plötzlich wieder an der Grenze meines Bereichs, hebe den Kopf und starre in das Grinsen einer jungen Dame, die seelenruhig auf dem roten Fauteuil sitzt. Es dauert eine Sekunde, bis ich begreife, was ich sehe. Noch eine Sekunde, bis ich sie mit überraschender Strenge auffordere, vom Ausstellungsobjekt zu verschwinden. Noch länger, bis ich begreife, die grinsende Dame gehört einer auffälligen Personengruppe an, zu der sie auf Zehenspitzen zurücktrippelt und aufschließt. Ich verbleibe mit meinem Blick bei der Gruppe, die Arbeit schlägt in Neugier um, nach einiger Zeit kommt die überforderte Kollegin zu mir herüber und rechtfertigt ihre Nichtreaktion beim Fauteuilüberfall. „Ja, das ist schwierig“, sagt sie. „Die sind nämlich behindert. Da weiß man nicht, wie man reagieren soll.“

Fast wird mir schwindlig, bei so viel Menschlichkeit inmitten von fabelhafter Leere.