Sonntag, 9. April 2017

Der andere Bond

Bond passiert immer alles. Immer im Auftrag seiner Majestät, immer auf der Jagd nach koketten Kriminalgesichtern, immer mitten in der globalen Weltenrettung, und immer gelenkt vom unreflektierten Selbstverständnis der Situation, von dieser absoluten, fraglosen Traum- und Pornomentalität. Er ist der sichtbare, der immer präsente. Über ihn weiß ich alles: Wie er seinen Martini genießt, wie er seine Frauen verführt, wie er seine Gegner tötet.

Der andere, unsichtbare, hat mit dem sichtbaren nur wenig gemein. Er macht sich zwar auch einen Martini, wenn er nach der Weltenrettung zurück ins kahle Appartement kommt, in dem sich immer noch die Umzugskisten stapeln – aber er genießt ihn nicht. Er verbringt zwar auch jede Nacht mit einer austauschbaren, unglücklichen Frau – aber er verführt sie nicht. Und noch während er auf ihr liegt, denkt er an die vielen anonymen Gegner, die er zuvor getötet hat, und obwohl er weiß, wie notwendig es war und wie sehr sie alle den Tod verdient haben, da verfolgen sie ihn dennoch, die abrupten Schreie der ungezählten Handlanger. Und dann, später, wenn er wieder alleine im Bett liegt und dem bedrohlichen Ticken der Uhrzeiger lauscht, da fragt er sich erneut, warum er immer noch niemanden hat, den er anrufen möchte, und warum sie ihm immer noch nicht erteilt wurde, die Lizenz zum Leben.

Niemals aber trifft der andere auf den Agenten mit der Doppelnull, auf den nonchalanten Traumtänzer und Riesentöter, der die Gedanken des anderen nicht teilt, weil er keine Zeit für sie hat. Der andere existiert nur in jener kurzen Phase zwischen Verfolgungsjagd und Casino, zwischen Schleichmission und Kreuzlegung, in der leeren Zeit zwischen zwei megalomanen Schurkenplänen. Er ist nicht der Agent ohne Eigenschaften, er ist die Eigenschaft ohne Agent. Er muss die leere Zeit füllen, die ihm der Doppelnull-Smoking überträgt, die Wartezeit, die in keiner rasanten Geschichte Platz findet, die inneren Qualen, die unsichtbaren Zweifel und den elendigen Hass, gegen sich selbst und gegen den Weltenretter, der nie zögert und alles kann, solange er niemals anfängt, darüber nachzudenken.
     
Ich weiß nicht, wer von beiden auf den anderen verzichten könnte.

Mittwoch, 5. April 2017

Ewiges Rätsel

Ich lese Knausgård. Genauer, ich lese seine Essays, nicht das vorangegangene Selbstbeschäftigungsphänomen in sechs Bänden, für das ich keine Ruhe finde. Auch die Essays sind immer einen Tick zu lang, genau jenen Tick aber, den es braucht, um gedanklich abzuschweifen und sich noch während der Lektüre in eigene, wilde Bewusstseinsströme zu stürzen.

Ich lese Knausgård, die Stunde ist sonnenlos, und ich frage mich: Warum nennt ein norwegischer Schriftsteller, der bekanntermaßen Hitler gelesen hat, seinen sechsbändigen, autobiografischen Romanzyklus Min Kamp? Ist es ein Akt der Provokation? Ist es Revolte? Trotz? Oder geht es ihm bloß um die Aufdeckung der Banalität des Kampfbegriffes? Ich weiß es nicht. Und, um ehrlich zu sein, ich möchte es auch nicht wissen. Wüsste ich es, wäre die Titelwahl eindeutig und somit uninteressant, wie alles Eindeutige. Lieber entscheide ich mich dafür, das Wissen nicht zu suchen, obwohl es sich unschwer finden ließe, ein paar Klicks im Netz, ein Artikel, ein Interviewfetzen, es kostete mich keine fünf Minuten. Warum aber verzichte ich auf diesen ach so leichten Wissensgewinn?

Es heißt, Wissen ist Macht, doch das ist unpräzise. Wissen allein ist machtlos, erst die Wissenskontrolle erschafft Macht. Gebe ich vor, was zu wissen und was nicht zu wissen ist, habe ich das Momentum der Geschichte in der Hand. Entscheide ich mich aber freiwillig dafür, etwas nicht wissen zu wollen, falle ich aus dem gewinnorientierten System der Wissenszunahme heraus – aus freien Stücken zu sagen, ich möchte die Beweggründe einer literarischen Kampfansage nicht wissen, weil es dem Werktitel seines Geheimnisses beraubte, das ist die eigentliche, scheinbar schwache Entscheidung, durch die ich mir einen bewussten Rest an Rätsel erhalte. Denn Rätsel ist das kunstvolle Pseudonym des Nichtwissens, das sich erst in seiner Auflösung auflöst; belasse ich es im festen Zustand, hält es ewig. Es überdauert Hitler, es überdauert Knausgård, es überdauert mich und mein gesamtes, rätselhaftes Sein.

Es gibt Tage, nicht wenige, an denen glaube ich, umso weniger zu begreifen, je mehr ich erfahre. Das allwissende Netz trägt seinen gastlichen Teil bei, bewirtet mich mit hochprozentigen Wissensdestillaten, die mich verkatert zurücklassen, während die Konturen des Rätsels nach und nach schwinden. Es ist schade, immer alles erfahren zu können, immer zu sehen, was in dieser oder jener Welt geschieht, was sich wer worüber warum denkt, weshalb das Falsche falsch ist und das Richtige richtig. Es fällt mir schwer, unendlich schwer, mich loszulösen von den Verlockungen des Wissens, mir die Ewigkeit des Nichtwissens aufrechtzuerhalten, das Rätsel in meinem Kopf zu hegen, damit er sich nicht auflöste.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich überhaupt schreibe, warum ich einer Tätigkeit nachkomme, für die ich mich so beschämend unqualifiziert fühle: Weil es mir hilft, das Nichtwissen zu bewahren. Alles, was ich schreibe, ist zutiefst lückenhaft, voller Zweifel, Ängste und Unsicherheiten, und ich werde schon morgen nicht mehr wissen, wie ich diesen Text heute verfassen konnte. Aber eben dieses Nichtwissen um die eigene Form und seinen möglichen Inhalt, dieses unerfüllte Nichtwissen ist es, was es so unwiderstehlich und überdauernd macht, und mit jedem noch so schlechten Satz wirken die Zweifel, Ängste und Unsicherheiten weniger schlimm.

Schreiben ist ein ewiges Rätsel, es ist die Entscheidung, nicht zu wissen, sondern zu suchen, aber nicht nach einer Antwort, sondern nach – ja wonach eigentlich? Nicht einmal das weiß ich genau. Und, um ehrlich zu sein, ich möchte es auch gar nicht wissen.