Mittwoch, 19. Juli 2017

Zeit der Facetten

Immer wieder bedrückt mich das kalte Gefühl, in einer Das-geht-heute-nicht-mehr-Zeit zu leben. Einer Zeit, in der es keine Elfenbeintürme mehr gibt, nicht mehr geben darf, wo das Bild des Literaten nicht mehr funktioniert, der stundenlang im Kaffeehaus an einem einzigen Verlängerten sitzt, raucht, liest, und ein paar Worte, viele Worte, keine Worte zu Papier bringt und dafür bewundert wird. Heute geht das nicht mehr. Der heutige Erfolgsautor macht von sich Selbstbilder als bereitwillige Disziplinmaschine, die kein Problem damit hat, Selbstbilder zu machen, um sich als heutiger Erfolgsautor zu präsentieren, natürlich neben einem irritierend regelmäßigen, gesunden Schreibpensum, für das es Gefallen und Häme gibt, viel Häme, aber auch viel Gefallen, aber weder das eine, noch das andere aus Bewunderung. So etwas wie Bewunderung, das geht heute nicht mehr, weil es zu einfach geworden ist, Gefallen zu zeigen. Echte Bewunderung aber zeigt sich nicht, sie weiß sich selbst im Stillen, sie ist intim, unteilbar und schrecklich schüchtern. Drei Eigenschaften, die heute überhaupt nicht mehr gehen.

Vielleicht stimmt das alles auch nicht, oder nur tendenziell; es ändert nichts an meinem Gefühl. Es gefällt mir nicht, nostalgisch verklärt zu klingen und einer Zeit nachzutrauern, die ich nie gekannt habe. Noch weniger gefallen mir die Tendenzen der Gegenwart. Es gefällt mir nicht, dass ein Leben ohne Netz heute undenkbar ist, und, noch weniger, dass es alle so bereitwillig akzeptieren, dass sich alle vernetzen, weil es eben geht, und niemand mehr leben möchte, wie es heute nicht mehr geht. Sich aus den vernetzten Sozialwerken fernzuhalten und nur bei sich zu sein, sich Tage ohne Termine, Teilungen und Gespräche zu nehmen, das geht heute nicht mehr.

Ich gehe heute nicht mehr.

Ich gehe nach einer heißen Schicht in Richtung untergehender Sonne, der Gehweg trägt feuchte Flecken, Trottoir nannte man ihn früher, aber das geht heute nicht mehr, das klingt antiquiert und nach Kaffeehausliterat, solche Begriffe kann man heute nur noch ironisch sagen, weil sich heute alles ironisch sagen lässt, und vor oder neben mir höre ich plötzlich einen grauen Pferdeschwanz mit Jeansjacke sagen, nachdenklich heiser: „Man kann das Leben leben auf so viele verschiedene Facetten.“

Ich danke dem Betrunkenen für diesen Satz, indem ich ihn nicht vergesse, lächle und gehe weiter, bis ich in der Wohnung stehe. Ich lese ein, zwei Geschichten von Cortazar und schlafe irgendwann ein, träume in der Nacht auf so viele verschiedene Facetten, weiß am nächsten Morgen nicht, warum ich zufrieden bin. Sofort erwacht die Skepsis und schaltet ungeduldig den Computer ein. Denn so etwas wie Zufriedenheit, sagt sie, das geht heute nicht mehr. Wirklich nicht. 

Donnerstag, 13. Juli 2017

Gedanken aus der Sperrholzsavanne

Es ist heiß. Ich stehe in einem neuen Objekt, und die Luft steht mit mir, weil es hier keine Ventilatoren gibt, keine Luftbefeuchter, keine Klimaanlagen. Nichts außer trockener, heißer Luft und 180 Exponaten zur Familie der Felidae – Katzenkunst in allen Formen beherrscht die neue Sonderausstellung, hier im letzten Raum des Museums, direkt unter dem Dach gelegen, und von der Außensonne aufgewärmt zur kunstvollen Hitzekammer, einer Kultursauna, die auch so aussieht: Eine enge, zugestopfte Sperrholzlandschaft mit Baustellencharme, die nach Handwerkerschweiß und Kork riecht, dazwischen ausgestopfte Wildkatzen, gepinselte Fabelwesen und zahllose Raubtierskulpturen, auf denen ich mir Hitzeflimmern einbilde. Der Kurator wolle mit den Sperrholzplatten die natürliche Savannenumgebung der Pelztiere nachbilden, so sagt man. Doch naturgetreu erscheinen mir nur die Temperaturen.

Das gute ist, die wenigsten Hausbesucher finden wirklich hinauf in diese schlecht ausgeschriebene Sperrholzsavanne, und wenn keine Gäste im Raum sind, darf ich immerhin sitzen. Ich sitze und stelle mir einen Menschen vor, der in einer Sauna steht und sich nicht setzen darf. Mittlerweile zählt es achtundzwanzig Grad.

An einem dieser ruhigen, luftbefreiten Tage sitze ich mit meiner Kollegin in der Savanne und wir sprechen über Kunst. Oder genauer, sie spricht mit mir darüber. Mit moderner Kunst könne sie einfach nichts anfangen, sagt sie. Das sei vielleicht engstirnig, doch sie müsse immer etwas Klares in einem Bild sehen, wie bei den alten Meistern eben. Die haben noch Geschichten gemalt, da war immer alles verständlich. Und sie müsse ein Kunstwerk verstehen, wenn sie es betrachtet, sonst könne sie damit nicht umgehen, so ist das eben.

Nicht zum ersten Mal stoße ich auf diese Einstellung, und dennoch wirkt sie auf mich immerzu befremdlich, diese beinahe zwanghafte, selbst auferlegte Verpflichtung, Kunst verstehen zu müssen. Das Bedürfnis, hinter jedem Pinselstrich den Sinn zu suchen.

Ich verstehe den Sinn dieser Sinnsuche nicht. Dieser Wunsch nach einem Sinn erscheint mir immerzu ergebnisorientiert, als ginge es bei einem Kunstwerk nur um ein möglichst klares, eindeutiges Resultat, wie bei einem Fußballspiel. Moderner Fußball, das geht, aber moderne Kunst? Da sehe ich den spielerischen Aufwand oft gar nicht mehr und das Resultat bleibt meist abstrakt und rätselhaft, völlig unverständlich. Sinnlos, sich damit zu beschäftigen.

Es ist interessant zu beobachten, dass ausgerechnet jene Menschen fordern, ein Kunstwerk zu verstehen, die sich mit Kunst wenig bis gar nicht beschäftigen. Sie wollen Kunst verstehen, ohne ein Kunstverständnis aufzubringen. Sie setzen eine Antwort voraus, ohne die Frage zu kennen. Sie suchen Sinn, wo keiner existiert. Denn an sich ist jede Kunst sinnlos, da sie vom Traum abstammt; vom nächtlichen Traum, der frei und nutzlos ist, im besten Sinne, und nichts zu verstehen gibt und nichts hinterlässt, außer einem rätselhaften, persönlichen Gefühl – ein Gefühl, das für mich dennoch bedeutsamer sein kann als jedes Fußballfinale, obwohl es um nichts geht, weil es um nichts geht, außer um das Gefühl selbst. Und vielleicht geht es letztlich auch nur darum.

Das alles hätte ich der netten Kollegin antworten können, doch stattdessen lausche ich nur still und fühle mich erdrückt von der flirrenden Hitze in der Sperrholzsavanne, die mich lähmt und ermüdet. Es fällt so schwer, denke ich, so unendlich schwer, etwas zu betrachten, ohne verstehen zu wollen, zu handeln, ohne etwas zu erwarten, zu leben, ohne nach mehr zu sinnen – kurzum: zu träumen.

Sonntag, 2. Juli 2017