Freitag, 25. August 2017

Unter Strom

Letzte Nacht träumte ich mich zurück in den Dienstanzug: Ich stehe im Prunksaal an der Ostseite, draußen, vor dem Türbereich, um passierende PKW- und Radfahrer aufzuhalten und ihnen die obligate Maut abzuverlangen. Mein nächster Kollege, ein bärtiger Hüne mit polierter Spiegelglatze, steht zufrieden und entspannt wie ein Buddhabauch bei der Treppe; ein kurzer Blick von mir auf seinen silberschwarzen Bart, und schon ist es passiert, schon ist alles zu viel, geht der Blick überfordert zurück, komme ich den Autokolonnen kaum noch hinterher mit den Kontrollen.

Schließlich stoppe ich drei Radtouristen auf ihrer Weiterfahrt in den Süden und erkläre ihnen das bekannte Mautsystem. Sie sehen einander an, nachdenklich, skeptisch, abwägend, ob sie nicht vielleicht verhandeln könnten, oder, ganz offen, auf die Maut verzichten. Mit angemessener Höflichkeit und Strenge entgegne ich, die Maut sei ohnehin eine geringe und Ausnahmen beschädigen die Regel. Die Radfahrer zögern. Im Hintergrund zieht ein Dutzend PKWs vorbei. Schließlich geben sie nach, die junge Dame unter ihnen reicht mir ihre Kreditkarte, ich nehme sie an mich und erfasse den Code mit meinem elektrischen Handscanner – in dem Moment trifft mich der Schlag; gefrierkalte, blaue Blitze zucken aus dem Scanner, springen auf mich über, elektrisieren Nerven, Haare, ziehen wellenförmig über den dunklen Dienstanzug. Geladen und zitternd reiche ich der Dame die Karte zurück, berühre sie versehentlich mit einer Fingerkuppe, sie kippt zu Boden. Ich drehe mich zu den schockierten Radkollegen, will sie beruhigen, berühre sie versehentlich an den Schultern, sie kippen zu Boden.

Regungslos liegen alle drei neben der Straße, der unkontrollierbare, der unaufhaltsame Verkehr zieht tosend vorüber, ich drehe mich blitzartig um und starre verzweifelt zum Kollegen an der Treppe; völlig entspannt streichelt er seinen silberschwarzen Bart und grinst gelassen vor sich hin, während ich weiter unter Strom stehe.

Montag, 14. August 2017

Irrationale Angriffe

Der Sommer verstört mich. Dienste variieren wie das Wetter, Pläne und Objekte schlagen um, verdunkeln, verziehen sich wieder. An einem Freitag darf ich wieder einmal im Glashaus für moderne Kunst aushelfen und mir Erwin Wurms Performative Skulpturen ansehen. Großteils allein, denn die Sommertouristen und Kunstaffinen strömen lieber durch klassizistische Gemäldegalerien im Barockbau ums Eck, anstatt für den Blick auf kühlschrankgroße Gipsblöcke zu bezahlen; dicht angeordnete, überdimensionale Alltagsgegenstände und Möbel, die vom Künstler im performativen Prozess höchstselbst zerkratzt, getreten, erdrückt und überfahren wurden, mit viel Hingabe und Sitzfleisch, und – vor allem – mit Konzept.

Aus Tag wird langsam Abend, der Besuch bleibt weiter aus. Der Kollege am Ticket ist unterfordert und überdreht, stellt sich zu mir in die Halle und erzählt geradeaus von dem Schock der Eröffnung – ein Schmankerl des Herrn Wurm war es gewesen, einige wurstförmige Gipsblöcke exklusiv für die Ausstellung zu schaffen, und, noch in rohem Zustand, vor dem Premierenpublikum zu demolieren. Und dann stand da diese Dame, eine kunstbeflissene, äußerst interessierte Person, die den Kollegen in ein Gespräch verwickelt, ein äußerst interessierter Dialog neben der rohen Gipswurst. Eine halbe Stunde reden sie miteinander, sagt der Kollege, wunderbar erfreulich, und dann, plötzlich, aus dem Nichts, dreht sich die Dame zum frischen, sechsstellig geschätzten Kunstobjekt hin und taucht einen Zeigefinger ansatzlos in die weiche Masse.

Und so passiert es immer.

Das Kind, das der Mutter entwischt und das Ölbild anfasst. Der erwachsene Herr, der im Vorbeigehen die Hand ausfährt und die Skulptur streichelt. Die andere Mutter, die ihre Töchter am Fuß des Bronzeblocks aufstellt, um sie damit abzulichten. Der andere Erwachsene, der für ein Foto zwei Schritte rückwärts macht und dabei gegen die lose Statue stößt, die beinah zu Bruch geht.

Sie alle berühren das Unantastbare, ihre Berührungen sind grundlose Angriffe auf ein Werk, das nicht ohne Grund überdauert. Sie greifen die Kunst bedenkenlos an, machen sie fassbar wie einen abgenutzten Haltegriff in der Bahn, weil sie nicht wissen, was sie tun. Und falls doch, haben sie keine Vorstellung, was sie damit auslösen.

Die Dame mit dem Fingerabdruck in der teuren Gipswurst wurde auf der Stelle kreidebleich, sagt der Kollege, als er ihre Daten aufnahm, den Vorfall meldete und wartete, bis der Kunstexperte hinzukam, um den Schaden abzuschätzen. Später sollte er meinen Kollegen fragen, ob dieser die Tat nicht verhindern hätte können. Was für eine Frage. Wir Aufsichten können nie etwas verhindern, wir bekommen keine anonymen Hinweise, wir werden nicht vorbereitet auf die blitzschnellen, akuten Handlungen der irrationalen Angreifer, die sich bis zur Tat als unauffällige Vernunftwesen tarnen. Wir müssen zusehen, wie sie ihre Angriffe auf die Kunst ausführen, können nur beobachten und staunen und nicht glauben und melden und uns fühlen wie Zuspätgekommene des Lebens, „like a second-comer“, wie es D. H. Lawrence in seinem traurigen Gedicht über die Schlange im Garten umschreibt; nur stehen wir nicht auf der Wiese, sondern im Museum, und wir verfolgen kein natürliches Tierverhalten, sondern die rätselhaften Auswüchse menschlicher Willkür. Oder liegt es eben doch in der Natur des Menschentieres, etwas wahllos anzugreifen? 

Irgendwo, da muss er immer noch lauern, dieser instinktive Rest, den die kurzsichtige Kultur nicht finden kann, die letzte Verbindung zum Unüberlegten, zum Angriff, zum Schaden. Und auch bei der nächsten, willkürlichen Berührung werde ich wieder die Nachsicht haben, werde wieder an zweiter Stelle stehen, werde wieder zu spät kommen, weil es eben nicht anders sein kann. Ich bin es immer schon gewesen, ich werde es immer sein: zu spät.