Dienstag, 27. Februar 2018

Der Philosoph

Ich bin am Nachhauseweg eines langen Tages, sitze in der Straßenbahn, schon seit Jahren ohne Musik. Kopfhörer liegen mir nicht, sie stören und hindern mich daran, die schiefe Mehrstimmigkeit der ungeprobten Welt zu verfolgen, in deren Mitte ich Platz nehmen darf. Sie fährt unbeheizt, die Welt, und noch während ich sitze, raubt mir die Kälte das Fingerspitzengefühl – ich hetze verzweifelt hinterher, will sie zur Rede stellen, will sie verstehen, doch sie antwortet nicht, zeigt keine Reue, nicht einmal Einsicht. Sie macht mir Angst, diese Kälte, schon seit Jahren.

Es sind mir zu viele Stationen heute, die Glieder drängen nach Wärme und Bewegung und ich will, ich muss mich ablenken, aufwärmen, bereue zum ersten Mal, keine Musik in den Ohren zu haben; und dann erkenne ich ihn. Ich war mir nicht sofort bewusst, dass er es ist, dass auch er Platz genommen hat in meiner reglos frierenden Welt. Doch kein Zweifel besteht, als er anfängt, seine Gedanken mit ihr zu teilen.

Er sitzt in der Reihe vor mir, ich schätze ihn sechs, vielleicht sieben, neben ihm sitzt die Mutter und starrt aus dem Fenster oder sonstwohin. Nach langer Stille ergreift er das Wort. „Als Baby“, erklärt der Philosoph seiner Mutter langsam, „muss man eigentlich nie Angst haben.“ Es folgt eine angemessene Nachdenkpause, und gleich darauf dürfen meine kalten, offenen, kopfhörerfreien Ohren daran teilhaben, wie der junge Philosoph seiner These das Exempel reicht. „Wenn ich zum Beispiel in einem Korallenriff tauche, dann muss ich dabei immer Angst haben, dass mich eine Qualle sticht. Aber wenn ein Baby in einem Korallenriff taucht, muss es keine Angst haben. Weil die Mutter es ja vor den Quallen beschützt.“

Dem hat weder die Mutter, noch die Kälte, noch die ganze verfrorene Restwelt etwas hinzuzufügen.

Freitag, 16. Februar 2018

Rudolph, neu erzählt

Seit seiner Geburt lebt Rudolph mit einer missgebildeten Nase. Sie macht ihn anders, sie macht ihn allein. In der Schule: keine Freunde, zu Hause: keine Liebe. Und egal, was er tut und versucht, egal, wie freundlich, bemüht, hilfsbereit, offen und gut er sich auch gibt, im ganzen Dorf wird er gemieden, gemobbt, ausgeschlossen und mit Blicken erniedrigt, die seine Nase wie ein Verbrechen verurteilen. Schon bald wird er traurig, scheu, zuletzt verbittert. Er schottet sich immer mehr von einer Welt ab, die keinen Platz für sein Aussehen kennt, er zieht sich zurück in die tiefen Wälder, er vegetiert wie ein Tier. Ein Rudeltier ohne Rudel.

Jahre später, in einer dunklen, todkalten Winternacht trifft er auf einen bärtigen Geschäftsmann, der verirrt und verzweifelt durch das Schneegestöber wankt. Rudolph erkennt ihn sofort wieder, erinnert sich schmerzvoll zurück an die Demütigung eines Sommers, als er sich für die Stelle bewarb, die perfekte Stelle im Unternehmen des Bärtigen, er wurde sogar zum Gespräch geladen, doch ein Blick in Rudolphs Hässlichkeit und die Stelle war besetzt. In dieser Nacht aber, da steht der Geschäftsmann hilflos vor ihm, im roten Maßanzug, zitternd, frierend; seine Knie sacken in den Tiefschnee, er bettelt, er weint, er brüllt, er fleht Rudolph an, ihm den Weg aus den verfluchten Wäldern zu zeigen. Mitleidig starrt Rudolph hinab auf das rote Elend. Zögert, denkt nach. Er, der Verstoßene, der dem Leben nichts schuldet, der niemals Hilfe erfahren hat, er soll plötzlich helfen. Und er hilft. Er, der die Wälder kennt wie niemand sonst, er führt den Halberfrorenen durch Schnee und Finsternis, er führt ihn – ohne je etwas dafür zu fordern – heil zurück ins warme Dorf, zurück zu seinen Verbündeten, zu seinen Kindern, in die Arme derer, die ihn lieben.

Schnell verbreitet sich das Wort. Früher war Rudolph nutzlos, er wurde verhöhnt. Er war hässlich, er wurde verabscheut. Jetzt aber, wo er endlich hilfreich war, da scheint jeder Spott vergessen. Jetzt, wo er gebraucht wurde, ist Rudolph ein Held. Ein Sieger. Und ein ganzes Dorf feiert ihn, als gäbe es kein gestern: die Strafe aufgehoben, das Fehlurteil eingesehen, und endlich, endlich wird der Retter und seine fürchterliche Missbildung auf Lebenszeit begnadigt – oder zumindest, bis seine Heldentat wieder vergessen ist.