Donnerstag, 19. April 2018

Über das Träumen


Ich finde es schade, sehr schade, dass Träume keinen Platz in der Gesellschaft haben. Im Alltag, an dem wir heute festhalten, ist fast jedes Bedürfnis, jede Tätigkeit zu mehr erhoben worden, als sie ursprünglich darstellte; nur das Träumen nicht. Aus jedem Laster, jeder Freizeit lässt sich Kultur gewinnen, ganz leicht sogar, man muss sie nur dazu erklären: es gibt eine Körperkultur, eine Vereinskultur, eine Esskultur, sogar eine anerkannte Trinkkultur. Aber keine Traumkultur. Schade, einfach nur das, wie Goyas Traumradierung mit dem Maleräffchen: Ni mas, ni menos.

In der Straßenbahn, im Kaffeehaus, in den vernetzten Sozialwerken lausche ich Gesprächen, scrolle durch Debatten. Die Leute reden über das Wetter, über Sport, über die Arbeit und über die Anderen, doch wer redet schon über seine Träume? Ich meine nicht das ideelle, vorauseilende, karrieregeile Träumen, ich meine das originale, nächtliche, das jeden Menschen einholt, in jeder Nacht, ob er oder sie sich erinnert oder auch nicht. Wenn wir uns nicht erinnern, versuchen wir es auch nicht, wenn wir es aber (selten) tun, wird es schnell abgetan, und ich höre Stimmen, die sagen: "Wieder so einen Blödsinn geträumt." Oder: "Träume sind Schäume." Oder, noch schlimmer: "Das muss etwas bedeuten." Ich will nicht therapeutisch, nicht analytisch über Träume schwurbeln, will sie nicht deuten oder werten, weil sie nicht danach verlangen. Ich will über Träume reden, wie man über den Kauf einer neuen Jacke oder eine Reise redet: Man erzählt einfach davon. Ich will nicht wissen, ob die Reise gut oder schlecht, billig oder teuer war, ich will wissen, wie es dort ausgesehen hat, an dem Reiseziel, will wissen, welche Eindrücke als allererstes in den Sinn kommen, welche versteckten, kleinen, absurden Details hängen geblieben sind.

Es gibt nichts persönlicheres als diese unwiederholbare, nächtliche Reise. Folglich ist auch seine Mitteilung etwas persönliches, vielleicht die persönlichste Erfahrung, die ich von mir preisgeben kann. Einen Traum erzählen, das muss heißen: eine Erfahrung teilen, die nur ein einziger Mensch unter acht Milliarden genau so machen konnte.

Zumindest will ich das glauben. Denn ich glaube nicht an die Geschichten, an die alten Sagen, wie etwa jene um Decius Mus, dem ich regelmäßig im Fürstenpalais begegne, im ersten Stock, wo der wandfüllende Rubens-Zyklus die Geschichte des römischen Feldherrn erzählt, der in einer Nacht denselben Traum hatte wie ein zweiter, woraus sich sein Schicksal als vorbildlicher Märtyrer formte – ich glaube nicht daran, denke nicht, dass zwei Menschen exakt denselben Traum in einer Nacht (oder in einem Leben) träumen können.

Doch vielleicht irre ich mich; vielleicht träumt diese Nacht irgendwo irgendjemand exakt denselben Traum wie ich, vielleicht erwacht dieser jemand mit exakt derselben Empfindung, exakt denselben Bildern aus diesem Traum. Um das zu erfahren, müsste man natürlich darüber reden.