Montag, 26. November 2018

Position und Sprache

Ein Grund, warum ich meinen schlechten Job so mag, sind meine Kollegen. Ich arbeite neben wundersamen, unwahrscheinlichen Menschen mit diversesten Lebensläufen und Geburtsflaggen, ich diene weniger den vereinzelten Museen, als den Vereinten Nationen: Österreich, Ungarn, Italien, Deutschland, Schweiz, Schweden, Rumänien, Serbien, Kosovo, Türkei, Tunesien, Syrien, Iran, Ägypten, Kanada – ich kenne keinen Beruf, in dem mehr Internationalität herrscht als in der Museumsaufsicht.

Ein paar meiner Kollegen sind geflüchtet, viele studiert, niemand verbohrt. Die meisten haben Träume, oder zumindest Ziele, andere hatten sie, leben jetzt das Scheitern, ich bewundere sie alle. Viele sind jung, viele sind Teilzeit, manche über Fünfzig, alle unterbezahlt. Es ist die eine, die große Klammer, die uns alle eint, die Ironie der Gerechtigkeit in der Geringschätzung: egal, wie alt, egal, welches Geschlecht, egal, woher man kommt, egal, wie lange man die Stelle hält – wir alle verdienen gleich wenig. Nirgendwo herrscht mehr Gleichberechtigung als in einer Berufsposition, die nichts verspricht.

Hier, in den fensterlosen Ausstellungsräumen, hier gibt es keine geschlechtsabhängigen Gehaltsscheren, gibt es weder Über- noch Unterqualifikation, weder Bevorzugung noch Ausschließung. Jede und jeder ist herzlich willkommen, für einen Hungerlohn Position zu beziehen und sich die Kniescheiben schleichend zu zermürben; solange man nur annähernd die Sprache beherrscht. Es ist wirklich die einzige Voraussetzung für den Dienstanzug: Sprechen Sie Deutsch. Und jedes Mal, bei jedem Dienst, freue ich mich über die unikalen Akzente im Funkverkehr, die durchklingenden Herkünfte, die in mein Ohr rauschen, und ich kann wieder nicht fassen, wie man sich diese abgrundtief alogische deutsche Sprache innerhalb kürzester Zeit aneignen kann, wie man Deutsch überhaupt als Fremdsprache lernen kann oder möchte, und zu welch einmaligen Versprechern die Unbedarftheit fähig ist und wie überwältigend poetisch die winzigen grammatikalischen Fehlpässe meiner ausländischen Kollegen durch mein Gehör klingen und mir den Tag retten. Ein Haufen Dichter, und keiner von ihnen weiß es.

Es ist schon wieder ein Mittwoch, ich stehe wieder zwischen Monets Millionenimpressionen und unterdrücke meine konstante Müdigkeit, als plötzlich der Kollege aus Raum 1+2 in meine Richtung hetzt. Er wirkt ausgelöst, in großer Eile, verlässt seine Position, um mich einzuweihen, ich rechne mit dem Schlimmsten. Ein Notfall, ein Bildschaden, eine Herzattacke. Der Kollege bleibt abrupt stehen, nickt mir zu und sagt: „Du bist doch Österreicher, oder? Was ist der Unterschied zwischen rechnen, berechnen und verrechnen?“ – Ich bin eine Sekunde verwirrt, vielleicht zwei, dann erst begreife ich und versuche, es ihm zu erklären; es ist nicht leicht, es ist wirklich nie leicht, die deutsche Sprache einfach zu erklären, sie simpel und kurz zu halten. Ich suche Beispiele und Anschaulichkeiten, stottere, gestikuliere, der Kollege scheint dennoch zufrieden, geht zurück auf Position. Und erst Stunden später erkenne ich, dass die Antwort auf seine Frage im Grunde kinderleicht und völlig klar ist: rechnen heißt mit Zahlen spielen, berechnen heißt mit Resultaten spielen, und verrechnen heißt scheitern, also Leben spielen.

Im Übrigen ist die Aufsicht aus Raum 1+2 Ägypter; und studiert Germanistik.