Donnerstag, 24. Oktober 2019

Über das Vermissen

Als Aufsicht habe ich mir das Stehen angewöhnt. Ich habe mir das Gefühl angewöhnt, die Beine zu spüren, den Schmerz, das Ziehen, die Steifheit der Glieder als Alltag zu verstehen, ihn anzunehmen, durchzustehen. Über die letzten drei Jahre habe ich dieses Gefühl verinnerlicht, den Zustand der Beanspruchung zur Gewohnheit geformt. Trotzdem bleibt es, was es ist: ein unangenehmes Gefühl, ein unerbittliches Wissen, jetzt und hier noch eine, noch drei Stunden stehen zu müssen, bis mich die Ablöse oder die Nacht erlöst, und ich es nicht ändern, nicht ausschalten kann; ich kann mich nur daran gewöhnen.

Letzten Freitag musste ich seit langer, langer Zeit wieder stehen (der Zwangsurlaub warf mich aus dem Rhythmus des Schmerzes, zu wenig Aufträge in einer Firma mit zu vielen Beinen; zwei Wochen wie zwei Jahre) und ich machte eine Beobachtung: nicht draußen in der Welt, nicht in der kleinen, neongrellen Halle, die ich beaufsichtigte, sondern in und an mir selbst. Ich bemerkte, überrascht, dass ich das Stehen vermisst habe. Ich habe es vermisst, den Aufsichtsraum für mich zu haben, einen Raum für meine Gedanken, während ich einen Raum voller Touristen bewache und beobachte und bestaune. Was mir und meiner Arbeit vorgeworfen wird, ist, was ich daran schätze – die stille, scheinbare Nichtstuerei, das Herumstehen, nur um da zu sein, eine visuelle Versicherung, ohne ersichtliche Aufgaben und Bemühungen, eine Art Anti-Arbeit, deren Erfolg allein darin besteht, sie ohne Zwischenfälle durchgestanden zu haben, neun Stunden am Stück. Das habe ich vermisst.

Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass man sich an alles (also wirklich: alles) gewöhnen kann; doch ich habe verstanden, dass man alles vermissen kann, dass es keine Grenzen, Vorgaben oder sonstige Parameter für das Vermissen gibt, außer diesen einen: den Raum. Je größer der Raum einer Sache ist, je mehr Raum ich ihr in meinem Leben gebe, desto größer wird die Lücke, die sie hinterlässt. Und selbst das Fehlen eines tausendmal abgegangenen, ausgetretenen Raums, der mir die Beine schwer macht und mir Schweiß und Blasen auf die Füße treibt, der die Zeit dehnt, bis die Minuten am Horizont verschwinden, selbst dieses Fehlen hinterlässt eine Lücke, deren Vergangenheit in Vermissen umschlägt.

Das ist möglich: mich so sehr an ein unangenehmes Gefühl zu gewöhnen, dass ich es vermisse, wenn es einmal vergeht, nicht mehr da ist.

Montag, 16. September 2019

Manieren und Waldluft

Wie bei jeder Arbeit, bei jedem Job, in dem es darum geht, Gäste (also Menschen mit Geld) zu bedienen, beschützen und zu umgeben, ist auch der Aufsichtsdienst eine Sache von diskreter Zurückhaltung. Bei allen himmlischen Hochzeiten und privaten Bankentreffen, hier, im Fürstenschloss, bin ich stets unsichtbar, ein Paradox: Ich soll alles sehen, ohne gesehen zu werden; beaufsichtigen, ohne aufzufallen; nur reden, wenn ich gefragt werde, nur abgehen, wenn ich ersetzt werde, nur eingreifen, wenn es zu spät ist. Fünf Stunden, acht Stunden, zehn Stunden: angelerntes Zurückhalten, diskretes Herumstehen. Ich bin gut darin.

Doch meine Zurückhaltung endet nicht im Dienstbereich. Selbst davor, danach, dazwischen, im Pausenraum, immer hält es mich, immer spüre ich sie durch – meine angelernten Manieren, die mein Handeln und Nichthandeln lenken. Ich arbeite in Objekten, die variieren, mit Menschen, die ständig wechseln, und immer wieder kommen und gehen, kommen und stehen neue Aufsichten neben mir, doch dann gibt es auch noch die, die man immer wieder trifft, auf die man sich immer freut, wenn man sie wiedererkennt, wenn man weiß, heute steht man wieder zusammen durch; mit diesen Konstanten wird jeder Dienst wie ein Klassentreffen, eine Rückkehr zur Gemeinsamkeit, bis Dienstende. Und obwohl mir viele dieser Gleichgesinnten so vertraut wirken, obwohl ich sie seit Monaten und Jahren immer wieder sehe, mit ihnen rede und quatsche wie mit Kameraden, weiß ich von einigen noch immer nicht den Namen. Ich weiß ihn nicht, weil ich nie danach gefragt habe, oder ihn sofort vergessen habe, und dann den Moment verpasst habe, den rechten Moment, um ihn nachzufragen. Jetzt ist es zu spät – umso mehr Zeit vergeht, umso unangenehmer wird es, mit Kollegen, mit Kolleginnen zu reden, deren Namen ich nicht kenne. Doch schlimmer wäre, jemanden nach zwei Jahren zu fragen, wie er eigentlich heißt. Nein, es ist unmöglich.

Was ist das Gegenteil von Zurückhaltung? Es ist Unverschämtheit, eine Todsünde. Thoreau – Waldmensch, Vordenker, Solitär – hat sie schon vor 180 Jahren erkannt, die städtische Sünde gegenüber der falschen, diskreten Tugend, zwei angelernte Werte, die es nur unter Menschen gibt, die wohlerzogen wurden (als Beispiel gibt er Goethe an, den manierierten Jahrhundertgelehrten, der so bedachtvoll wohlerzogen wurde, viel „zu wohlerzogen, um durch und durch erzogen zu sein.“), in der freien Natur aber, da existiert nichts dergleichen – im Wald gibt es weder Zurückhaltung noch Unverschämtheit. 

Und wirklich, im Grunde ist meine, ist jede Zurückhaltung nur ein Produkt von all den Manieren, die mir ein Leben lang aufgedrängt, angelernt, eingeprägt wurden. Manieren, die das Leben künstlich regeln und ihm die pure, ehrliche Wildheit nehmen, wie sie auch der Literatur die Wildheit nehmen. Thoreaus unzensierte Waldrufe klingen bis ins Heute: „Vieles in unserer Literatur hat die vorzüglichsten Manieren, aber keinen Charakter.“

Wenn es aber, nach dem Credo dieses eigentümlich auswärtigen, naturverliebten Amerikaners, in Literatur wie im Leben (einzig) darum geht, zur Wahrheit vorzudringen, so stehen mir die Manieren immer nur im Wege; meine Manieren sind es, die mich in falscher, künstlicher Zurückhaltung stehen lassen. Sie hindern mich daran, frei und ohne schlechtes Gewissen einen Namen im falschen Moment zu erfragen. Meine Manieren sind es, die mich daran hindern, einfachstes Wissen zu erlangen. Sie halten mich, wenn auch nicht dumm, dann doch unwissend, und machen aus einer normalen Frage eine unerklärliche Unverschämtheit, deren mögliche Konsequenz mich magisch zurückhält. Tatsächlich bin ich lieber unwissend als unverschämt.

Und allein für diese Erkenntnis schäme ich mich. Dafür, dass ich immer noch nicht weiß, wie einige meiner besten Kollegen und Kolleginnen heißen. Dafür, dass ich sie wie alte Freunde anlächle und dabei in Gedanken nach einer Möglichkeit suche, ihnen den Namen diskret zu entlocken, ohne danach fragen zu müssen, weil ich ihn schon längst wissen müsste. Und es auch würde, hätte ich keine wohlerzogenen Manieren.  

Wenn ich etwas wieder nicht weiß, wenn ich wieder nicht gefragt habe, weil ich wieder Angst vor der Frage hatte, dann muss ich an Thoreau und die Waldluft denken, während ich mich diskret dämlich fühle. Es ist dieses Missverhältnis, das ich nicht begreife: Mangel an Manieren führt automatisch zu Entrüstung, nicht aber deren Unsinn, ihre eigene Mangelhaftigkeit.

Mittwoch, 28. August 2019

Das lesende Mädchen

Zeichnen ist Handsprache, habe ich irgendwo einmal gelesen, vor ein paar Jahren, ein Zitat, anonym, das mir nicht aus dem Kopf ging, mich seitdem begleitet, wie alle Eindrücke, die mich nicht verlassen, weil sie mir zu persönlich, also frei gewählt sind. Es heißt (zurecht) Sprache schafft Realität, doch es hat mich immer schon leise irritiert, wenn sich Verfechter dieser Anschauung allein und einzig auf die Schrift fixieren (und dabei noch nicht mal auf das Schriftbild). Was ist mit Handsprache, Bildsprache? Hat ein Gemälde, eine Fotographie im Kern nicht mehr Realitätssinn als ein Wort? Ein Bild ist da, ist immer präsent, immer schon offen, ein Blick genügt, um seinen Inhalt zu lesen, seine Sprache ist universal, und selbst, wenn ich es nicht verstehe, so kann ich es immer noch sehen. Ein Bild begnügt sich damit, betrachtet zu werden.

In all meinen Museumsrunden im zweiten Stock des Touristenschlosses (ostseitig) bleibe ich immer wieder hängen, an dem einen, unscheinbaren Bild, einem Porträt, das aus allen sturen Meisterschaften des Klassizismus, aus allen Biedermeiertableaus tapfer herausragt, das mich jedes Mal berührt, als sähe ich es zum ersten Mal. Es zeigt das Profil eines unbekannten Mädchens (jeden Mädchens), das ein Buch liest. Wir sehen nicht, welches Buch, es ist nicht wichtig, es könnte Schund oder Schiller, ein Schauermärchen sein, könnte alles sein, entscheidend ist: Das Mädchen hat sich dieses Buch frei gewählt; es hat sich entschieden, dieses Buch zu lesen. Jetzt. Es ist die Antithese zu Amerlings passiven, weichgezeichneten Madonnen, die nichtstuend schwelgen, beiseite blicken, auf bessere Epochen warten. Das Mädchen aber liest. Vielleicht wartet es auch, doch es liest, in der Zwischenzeit, es hält, es studiert, es liest ein Buch. Es kann lesen, es will lesen, es liest. Unbeirrt von all den bedrängenden Touristenscharen, den ausbrechenden Ellbogen, verbotenen Blitzen, lauten Gesprächen; es liest. In aller Ruhe, an jedem Tag, bei jedem Wetter, bis sich das Öl auf der Leinwand nach tausenden von Jahren zersetzt haben wird: es liest.

Der Wiener Maler Franz Eybl hat dieses Mädchen 1850 porträtiert, einhundertfünfunddreißig Jahre bevor Margaret Atwoods Report der Magd den Frauen das Lesen verbietet. Und wann immer ich an dem unbekannten Mädchen vorbeigehe, wann immer ich ihre Unversehrtheit prüfe, da berührt sie mich, berührt mich in dieser monumentalen, konzentrierten Schlichtheit, hebt die räumliche, respektvolle Distanz auf, die ich zu ihr halte, weil es mein Job ist. Ich betrachte das Mädchen beim Lesen und ich muss glauben, weil ich es sehe: Nirgendwo ist der Mensch schöner als beim verträumten Vertieftsein in ein Buch. (Ich sehe, dass ein Mädchen ein Buch liest und ich sehe, dass es schön ist; es ist schön, weil es liest.)

Sprache schafft Realität. Das lesende Mädchen spricht seit all den Jahren, bis heute, ohne den Mund je aufmachen zu müssen, es sagt mir stumm, dass Selbstbestimmung möglich ist, dass sie Realität ist, dass alles möglich ist, solange ich nur auf dieses eine Bild schaue, solange ich es betrachte und es nicht vergesse, solange dieses Mädchen weiter liest – tausend Seiten Schrift können nicht konstituieren, was Franz Eybl mit diesem Porträt schon 1850 geschafft hat: Realität. Sicher, ein lesendes Mädchen muss damals die Ausnahme gewesen sein, doch gerade das macht es so wertvoll in seiner Darstellung: es zeigt die Ausnahme; es macht sie sichtbar, schenkt mir Glauben an sie. Und Leben, das heißt doch, an die Ausnahme zu glauben – und in welcher Sprache gäbe es ein stärkeres, klareres Zeichen für gelebte, freie Entscheidung als in Eybls gepinselter Handsprache des ewig lesenden Mädchens?

Montag, 1. Juli 2019

Der Karton in der Beuge


Heute arbeite ich erst abends, bin tagsüber hinaus, ein Spaziergang in die nackte Sonne, zu wenig Wind, aber zwischen dem Schweiß wieder so ein Moment, ein Bild, das hängen bleibt: Ich gehe über einen ausgebrannten Zebrastreifen Richtung Währinger Park, als mir eine junge Frau und ein junger Mann entgegen kommen; ich blicke hinüber zum jungen Mann und sehe, er hat einen Armstumpf, sein linker Arm endet kurz nach dem Ellbogen, und da, in dieser verkürzten Beuge, trägt er einen Karton Himbeeren. Er passt perfekt in die Beuge, der kleine Karton, es ist beinah, als schwebten die Himbeeren darin, oder als würde er sie in seinem Stumpf wiegen; sie wackeln nicht, sie fallen nicht, sie halten sicher.

Und es ist nichts Komisches an diesem Bild, es ist ein Bild von poetischer, von surrealer Schönheit. Und es zeigt mir, dieses eine kleine Bild, bedeutet mir, dass alles in der Welt sich vielleicht irgendwo fügt, das alles für jemanden oder für etwas passt, dass vielleicht sogar ich und meine Worte irgendwo passen, wenn nicht heute, dann morgen oder nächsten Herbst. Und schon wird die Hitze erträglicher, der Schweiß ferner, mein Tag klarer und wertvoller. Mit dieser einen, surreal deutlichen Erkenntnis, ein Armstumpf und ein Karton Himbeeren können ein perfektes Paar, eine ganz natürliche Symbiose abgeben, fühle ich mich bestätigt, in einem Gefühl, das mir langsam immer glaubwürdiger erscheint: Ich bin nicht allein. Niemand, nichts ist so allein auf der Welt, dass nicht irgendwo Etwas wäre, das es ergänzte, es perfekt ausfüllte. Wie ein Karton Himbeeren in verkürzter Armbeuge.

Montag, 20. Mai 2019

Objekt Mineral

Ende April. Ich stehe noch einmal im Glaskasten für moderne Kunst, mache die Pausenablöse für meine eingestandenen Kollegen. Ein dankbarer Dienst, die Pausenablöse, ein jeder freut sich, wenn er dich sieht, wenn er dich aus der Ferne kommen sieht, als würde er einen fernen Verwandten wiedersehen, einen geliebten, geschätzten Menschen, der nur selten zu Besuch kommt, dafür immer etwas mitbringt. Ich bringe Pause.

Mir selbst bringt der Ablösedienst bedingte Abwechslung, hält mich nicht an einer einzelnen, sturen Position fest, sondern lässt mich von Raum zu Raum, von Kollegen zu Kollegin wandern, dreißig Minuten, zwanzig Minuten, fünfzehn Minuten. Drei Pausenrunden, dann ist der Dienst auch wieder ausgestanden (das Wort war nie treffender), dreimal erster Stock, Ticket, und Halle – da, wo die neue Gruppenausstellung stattfindet, ein zeitgenössischer Querschnitt durch junge Kunstvorstellungen; inklusive Sesselkreis, Katzenbildern,  gebrauchten Unterhöschen, Strickmasken über Flachbildfernsehern, Bravo-Stickern in Übergröße und Objektinstallationen mit postkonzeptuellen Namen wie „Kebap“ oder „PFERD“. Mit Kuratorenworten heißt das: „Fragen zu Identität und Repräsentation sind ebenso präsent wie die Verhandlung des Körpers zwischen sozialer Interaktion und Selbstdisziplinierung.“

Möglich, denke ich, dass die Intentionen und Ausführungen aufstrebender Kunstkreise schon einmal verwegener (oder zumindest: ernsthafter) waren als hier. Andererseits: in einer Zeit, in der Jeff Koons zum teuersten lebenden Künstler gekürt wird, scheint das Spiel mit Ironie und Selbstgestaltung höher im Kurs als die ernsthafte Beschäftigung mit existentiellen Ist-Zuständen außerhalb des engen Sesselkreises der eigenen Zunft. Der moderne Kunstmarkt ist ein farbenfrohes, grelles Meer, doch es schwimmt so viel Plastik und Kitsch und Ironie mit, dass meine Anteilnahme darin untergeht. Wenn das Plastikmeer steigt und die Gegenpole schmelzen, wenn sich neue Kunst nur noch durch prätentiöse Kuratorentexte erschließen lässt, wer wird sich dann noch für Kunst interessieren, außer den Künstlern selbst (wie es schon Ernst Caramelle überspitzt erkannt hat)? Wie kann ich ihre Kunst noch ernst nehmen, wenn es die Künstler selbst nicht tun?

Während meinem dankbaren Dienst erzählt mir eine Kollegin vom Tag der Ausstellungseröffnung. Zwischen all den technischen Geräten, den inszenierten Stühlen, Messern, Plastiken und Unterhöschen lehnte eine kleine Flasche Mineralwasser an einer Wand, die scheinbar jemand beim Aufbau vergessen hatte. Einen ganzen Tag stand die Flasche in der Ausstellung, wurde sie vom Publikum bestaunt und fotografiert, weil niemand, nicht einmal die Oberaufsicht, sich getraute, sie anzufassen, wegzuräumen. Weil niemand sicher wusste, ob es ein Kunstobjekt darstellte – oder ein Mineralwasser. Einen Tag später wurde die Flasche entfernt.

Und niemand, niemand wusste von dieser heimlichen, unabsichtlich rebellischen Kunstaktion, außer ein paar aufmerksamen Museumsaufsichten. Eine davon hat es mir erzählt und ich erzähle es weiter, weil ich weiß, dass es etwas erzählt. Und es braucht keinen Kuratorentext, um zu verstehen, wie widersprüchlich, wie unbegreifbar und wundervoll die Welt ist, die ich täglich betrachte und durchstehe. Sich in dieser wirren Welt zu positionieren, das ist die eigentliche Aufgabe, vielleicht sogar die Pflicht, die sich nicht mit Ironie umgehen lässt. Denn egal, ob Museum oder Supermarkt, ob Kunst oder Mineral – am Ende bleibt es Plastik.

Dienstag, 9. April 2019

Der Lahme


Ich stehe am Haupteingang des Fürstenpalais und begrüße und zähle die Gäste. Dieses Wochenende findet die jährliche Kunstmesse im Palais statt, verwandeln sich Sala Terrena und Herkulessaal in enge Labyrinthe zeitgenössischer Kunst, schweben Gemälde in Petersburger Hängung dicht an dicht, wetteifern Galeristen um die großzügige Gunst der Geladenen. Ich kontrolliere die Karten und den Andrang, in jeder Hand halte ich, wie unsichtbar, einen kleinen, metallenen Personenzähler; mit dem einen zähle ich die Gäste, die reinkommen, mit dem anderen all jene, die das Gebäude verlassen. Ich bin kein Türsteher; ich bin die freundliche, manuelle Echtzeitstatistik.

Nach Scharen von Gästen, die kunstsinniger und ausgestellter wirken, als die Ausstellungen selbst, erkenne ich von weitem einen Mann mit Stock, der sich mit seltsamen Schritten über den Innenhof bewegt. Ich beobachte ihn und verstehe schnell: der Mann hat ein lahmes Bein. Mit jedem Schritt muss er es mühevoll nachziehen, jede Bewegung scheint ihm unendliche Überwindung, unfassbare Kraft zu kosten. Zum Haupteingang sind es zwei Stufen – andere gehen sie, er muss sie bewältigen. Für eine Fußstrecke von wenigen Sekunden benötigt er mehrere Minuten (ich zähle sie). Sein Tempo ist endlos langsam, qualvoll langsam, wie man so sagt, weil das reine Zusehen bereits schmerzt. Zumindest rede ich mir das ein, als wüsste ich irgendetwas über Schmerzen.

Wie aufwendig muss wohl jede noch so kurze Strecke für diesen Menschen sein? – Wenn ich nicht gehen kann, ist es unmöglich, es zu versuchen; kann ich aber schlecht gehen, wird jeder Schritt zur Erprobung. Der Gang über den bekiesten Vorplatz, über die zwei knappen Stufen zum Haupteingang – war dieser Weg für den Mann mit dem lahmen Bein ein Triumph oder eine Tortur? Was überwiegt bei ihm – Schmerz oder Ziel? Und wie muss dieser Mensch die Zeit in jeder Bewegung wahrnehmen? Empfindet er wieder wie ein Kind, für das jede Strecke unendlich lang ist, weil es noch so kurze Beinchen und so wenig Gewohnheit und Übersicht hat? Wird jeder Tag für ihn ein Marathon, ein Großereignis, auf das er sich intensiv vorbereiten muss?

Ich hoffe es, irgendwo. Ich hoffe, er spürt jeden Tag den Triumph der kleinen Schritte, den Erfolg, einen Eingang oder eine Kunstmesse erreicht zu haben, einen stolzen, alltäglichen, extremen Erfolg, der ihm ganz alleine gehört, weil er allein weiß, wie viel Mühe, wie viel Überwindung in diesem Erfolg steckt. Ein Erfolg, den weder ich, noch irgendein anderer Gast hier begreifen kann, weil wir alle gesund sind, weil wir nicht lahmen, weil unsere Schritte und unser Tempo selbstverständlich sind. Und was selbstverständlich ist, darüber redet man nicht. Es ist kein Thema.

Für mich ist Marathon die Luxusoption meiner Freizeitgestaltung. Für den Mann mit dem lahmen Bein ist Marathon der unumgängliche Alltag. Und er bewältigt ihn nicht nur; er gewinnt ihn, jeden Tag.

Freitag, 5. April 2019

Zeichen im Sand

Ich lese Mankell. Nicht seine Krimis, sondern den Treibsand, eines seiner letzten Bücher, das Mankell schon im Wissen um die schwere, unheilbare Krankheit niederschrieb, um darin sein Leben festzuhalten. Aber was ist das schon, in der Rückschau, ein Leben? Mit einem Sandbild könnte man sagen: Leben, das ist, was hängen bleibt, wenn man mit beiden Händen in den Sand der Erinnerung fasst und nichts mehr durch die Finger rieselt. Diese übrig gebliebenen, geretteten Sandkörner hält Henning Mankell mit offener Hand fest, während der Krebs seine Lungen zerfrisst.

Als Kind hatte Mankell Angst vor Treibsand; mit der Krankheit, dem Tumor, erinnert er sich zurück an dieses Bild, erlebt die ersten Wochen nach der Diagnose wie ein langsames, aber unentrinnbares Versinken im haltlosen Albtraum. Später, nachdem er sich selbst aus der Angst herausgezogen hat, sieht er im Internet nach und erfährt, dass unser Bild des menschenfressenden Treibsandes nur ein Mythos ist. Eine Geschichte. Mankells Buch ist voll von solchen Geschichten. Eine davon führt ihn auch in meine Stadt.

Mankell war vierundzwanzig, noch unbekannt, unvermögend, ein Schulabbrecher und Tageträumer, als er in einem kalten Winter durch die Kaffeehäuser zog; und dabei, rein zufällig, im Zentrum der Stadt landete und aus verfrorener Neugier eine schwere Pforte öffnet und ehrfurchtsvoll eintritt in die Domkirche St. Stephan. Hier, in dieser Kathedrale, an einem harschen, freudlosen Wintertag, entdeckt der junge Schwede zum ersten Mal was wahre Trauer bedeutet: In der Kirchenbank des Wahrzeichens, eine Reihe vor ihm, sitzt eine schwarze Frau mit schmerzgeballten Fäusten, sichtbar verzweifelt, aufgelöst, am Ende. Mankell beobachtet sie, er hat Mitleid, versucht, sie anzusprechen, in dieser und jener Sprache, er will fragen, ob er etwas für sie tun kann, doch es macht die Frau nur noch unruhiger. Sie steht auf, rennt aus dem Dom, Mankell sieht sie nie wieder. Und doch bringt ihn diese Unbekannte, diese kurze, kleine, tieftraurige Begegnung zu der größtmöglichen Einsicht: „Ohne die Erfahrung von Trauer kann wohl kein Mensch ein vollwertiges Leben führen.“

Vor einiger Zeit saß ich in der Garderobe des Fürstenpalais’ (ich liebe sie, die seltenen, sesshaften Garderobendienste), ich wartete auf die Gäste und las in den Fiktionen von Borges. Plötzlich tritt eine Dame im Pelz an den Tresen, ich hatte sie nicht kommen sehen, war zu vertieft in die Lektüre, lege das Buch hastig weg und springe hoch, erwarte mir einen abschätzigen Blick – doch die Dame lächelt mich an, warm und ehrlich, und während sie ihren Mantel auszieht, gratuliert sie mir: Wie wunderbar zu sehen, dass ein junger Mensch heute noch ein richtiges Buch liest. Als sie später wiederkommt, um ihren Mantel abzuholen, gibt sie mir kein Trinkgeld. Die Dame gibt mir etwas sehr viel wertvolleres: Sie schenkt mir ein Lesezeichen.

Seitdem habe ich es aufgehoben, an meinem Schreibtisch, wie einen Schatz, eine kostbare, geldlose Erinnerung (alle bedeutenden Erinnerungen sind geldbefreit), eine, die man nicht ausgeben kann, die einem nicht durch die Finger geht. Eine Geste, die mir Glauben an die Menschheit schenkt, das Gegenteil von Trauer: Hoffnung. Doch nie habe ich es benutzt, in den letzten Wochen, Monaten; vielleicht schien es mir allzu wertvoll, vielleicht waren die letzten Supermarktrechnungen einfach schneller bei der Hand, ich weiß es nicht. Jetzt lese ich Mankells Lebensgedanken und zum ersten Mal verwende ich das Lesezeichen, das mir die großzügige, freundliche Dame im Pelz geschenkt hat. Und ich schließe meine Lektüre nach dem Kapitel des Kathedralenbesuchs, lege das Lesezeichen zwischen die Seiten und betrachte das Motiv darauf, als würde ich es das erste Mal sehen: Es zeigt den Ausschnitt einer größeren Zeichnung, zeigt den aus der Häuserschlucht herausragenden, spitzkantigen Turm des Wahrzeichens der Stadt, und darunter die Beschriftung: „St. Stephan, Wien“.

Das ist es, denke ich, das ist eines dieser Zeichen, an die man glauben kann, ohne religiös zu sein. In diesem Moment, im Blick auf den Lesezeichenturm, nach der Lektüre des prägenden Dombesuchs, in dieser Sekunde verbindet sich die Erinnerung an absolute Trauer mit der Erinnerung an das absolute Glück der kleinen Geste. Dieser unsterbliche Augenblick verbindet die Erfahrungen und Erinnerungen zweier Menschen, die einander nie kannten und einander nie treffen werden.

Henning Mankell starb im Oktober 2015 an den Folgen seines Krebsleidens. Ich stelle mir vor, diese Verbindung hätte ihm gefallen. Stelle mir vor, sie wäre nicht durch seine Finger gerieselt. Und für ihn und für mich halte ich sie fest, mit offenen Händen.

Samstag, 30. März 2019

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

Nach langer, langer, erstaunlich langer Zeit werde ich wieder einmal im Touristenschloss eingesetzt, kehre an einem ersten, sonnigen Frühlingstag zurück in die fensterlose Dunkelheit der Position Erdgeschoss Ost. Eine neue, temporäre Schau ist hier aufgestellt, sie ist weniger Ausstellung als Vermächtnis: das in Marmor gemeißelte Lebenswerk des Oberösterreichers Leopold Kiesling ist hier zu betrachten, wunderbar, ja, episch inszeniert im schwarz verputzten Zwischenraum, die Türen mit schwerem Mollton abgedeckt – da erstrahlen Mars und Venus mit Amor.

In nur zwei Jahren hat Kiesling diese Figurengruppe aus dem Stein geschlagen, hat den Marmorblock zu Kriegshelm und Satinkleid verarbeitet, die Körper der Götter zu milchiger Perfektion geglättet. 1807 vom österreichischen Kaiser großzügig vorfinanziert, hatte es Kiesling tatsächlich geschafft, hatte sein Versprechen eingehalten, in nur zwei Jahren zu liefern – und wie er lieferte. 1809 erstmals ausgestellt, wurde Kieslings Hauptwerk zum Monument der Liebe, gedeutet als Symbol des Friedens, nach Jahren der Front: Venus zuliebe legt Mars sein Schwert ab und reicht es dem kleinen Amorpummel. Ein Omen der Utopie.

Doch auch Kritik am Werk soll nicht lange gefehlt haben, erzählt die Kunstvermittlerin und umrundet die Skulptur zum dritten Mal. Die Kleiderfalten auf der Rückseite fallen nicht halb so gut wie vorne, die Proportionen der Venus wären ohnehin fragwürdig, fehlerhaft. Sie deutet auf den rechten Venusarm, der Mars lieblich umschlingt, ich betrachte ihn, sehe genau hin, kann aber beim besten Willen kein falsches Maß erkennen (ohnehin wirkt es seltsam, bei einer eingebildeten Gottheit von falschem Maß zu sprechen – wie würde ein Fantasiewesen denn richtig aussehen?). Was mich viel eher beschäftigt, was mich seit Stunden schon nicht loslässt, ist eine ganz andere, sehr viel deutlichere Störstelle an der Skulptur: es ist der kleine Amorpummel, der mich nicht loslässt. In seiner Pose, zur rechten Wade des Kriegsgottes, wirkt er dynamisch, ein Beinchen hebt an, die Engelsflügel halb offen; doch sie ist geschummelt, die Pose, sie trägt nicht. Kiesling wusste das; und deshalb ist der kleine Liebesengel mit drei Stützbalken an Mars befestigt. Drei unmotivierte, hässlich neutrale, irritierende Stützbalken, die von jeder Meisterschaft des Restwerkes ablenken. Die einfach stören.

Und erst in der letzten Dienststunde, als sich der schwarze Raum langsam leert, glaube ich zu begreifen, warum mich dieses Detail so sehr stört. Ich weiß, dass dieser Künstler zwei Jahre seines Lebens in dieses Werk gesteckt hat, ich weiß, dass die Komposition und ihr Detailgrad geniale, unmenschlich perfekte Züge aufweisen, ich weiß, dass es eine der größten, schönsten Marmorskulpturen seiner Zeit darstellt – und doch sehe ich zuerst immer diese verfluchten Stützbalken, wenn ich die Figurengruppe betrachte. Egal, wo ich stehe, egal, wie sehr ich versuche, sie auszublenden, den Blick zu retuschieren, allein das Motiv und nicht seine Hilfslinien zu sehen – ich schaffe es nicht; ich kann diese Störbalken nicht nicht sehen. Sie sind einfach da, in unerbittlicher Sichtbarkeit, und zerstören zwei Jahre harter Arbeit, weil sie mich davon abhalten, den Anblick ungestört zu bewundern. Ich sehe nicht die Meisterschaft, ich sehe nur den einen Fehler darin. Und es macht mich an diesem Tag verrückt, weil ich nicht glauben kann, dass Kiesling dieser Umstand nicht auffiel, dass er keine andere, balkenfreie Lösung für die Darstellung des Amors finden konnte. Eine, die nicht stört.

Im Übrigen ist Leopold Kiesling unsichtbar. Er ist einer jener Künstler, von denen es kein einziges Porträt gibt – niemand kann heute sagen, wie Kiesling tatsächlich einmal aussah. Keine Dokumente, keine Beschreibungen gibt es über sein Aussehen, kein Bild, nicht mal eine Ahnung. Mit seinem Tod verschwand der Bildhauer voll und ganz hinter seinem Werk, er wurde ein gesichtsloses, flüchtiges Phantom, das ein überdauerndes Werk hinterließ. Und je länger ich über ihn nachdenke, während ich schreibe, umso deutlicher sehe ich plötzlich die Menschlichkeit in Kieslings sichtbarem Vermächtnis: Mars, Venus, Amor, sie alle sind perfekt, weil sie keine Menschen sind. Wenn aber das Wesen des Menschen (mein Wesen, unser Wesen) gerade im Unperfekten steckt, im Fehlerbehafteten, Lernfähigen, Hilfsbedürftigen, dann hat sich Kiesling mit diesen drei unperfekten, helfenden Stützbalken vielleicht selbst im Werk verewigt. Und was ich zuerst sehe, wenn ich Mars und Venus mit Amor betrachte, ist nicht mehr ein störendes Detail, sondern der Beweis, dass ihr Macher ein Mensch war.

Dieser Gedanke ist unendlich tröstlich.

Donnerstag, 7. Februar 2019