Montag, 20. Mai 2019

Objekt Mineral

Ende April. Ich stehe noch einmal im Glaskasten für moderne Kunst, mache die Pausenablöse für meine eingestandenen Kollegen. Ein dankbarer Dienst, die Pausenablöse, ein jeder freut sich, wenn er dich sieht, wenn er dich aus der Ferne kommen sieht, als würde er einen fernen Verwandten wiedersehen, einen geliebten, geschätzten Menschen, der nur selten zu Besuch kommt, dafür immer etwas mitbringt. Ich bringe Pause.

Mir selbst bringt der Ablösedienst bedingte Abwechslung, hält mich nicht an einer einzelnen, sturen Position fest, sondern lässt mich von Raum zu Raum, von Kollegen zu Kollegin wandern, dreißig Minuten, zwanzig Minuten, fünfzehn Minuten. Drei Pausenrunden, dann ist der Dienst auch wieder ausgestanden (das Wort war nie treffender), dreimal erster Stock, Ticket, und Halle – da, wo die neue Gruppenausstellung stattfindet, ein zeitgenössischer Querschnitt durch junge Kunstvorstellungen; inklusive Sesselkreis, Katzenbildern,  gebrauchten Unterhöschen, Strickmasken über Flachbildfernsehern, Bravo-Stickern in Übergröße und Objektinstallationen mit postkonzeptuellen Namen wie „Kebap“ oder „PFERD“. Mit Kuratorenworten heißt das: „Fragen zu Identität und Repräsentation sind ebenso präsent wie die Verhandlung des Körpers zwischen sozialer Interaktion und Selbstdisziplinierung.“

Möglich, denke ich, dass die Intentionen und Ausführungen aufstrebender Kunstkreise schon einmal verwegener (oder zumindest: ernsthafter) waren als hier. Andererseits: in einer Zeit, in der Jeff Koons zum teuersten lebenden Künstler gekürt wird, scheint das Spiel mit Ironie und Selbstgestaltung höher im Kurs als die ernsthafte Beschäftigung mit existentiellen Ist-Zuständen außerhalb des engen Sesselkreises der eigenen Zunft. Der moderne Kunstmarkt ist ein farbenfrohes, grelles Meer, doch es schwimmt so viel Plastik und Kitsch und Ironie mit, dass meine Anteilnahme darin untergeht. Wenn das Plastikmeer steigt und die Gegenpole schmelzen, wenn sich neue Kunst nur noch durch prätentiöse Kuratorentexte erschließen lässt, wer wird sich dann noch für Kunst interessieren, außer den Künstlern selbst (wie es schon Ernst Caramelle überspitzt erkannt hat)? Wie kann ich ihre Kunst noch ernst nehmen, wenn es die Künstler selbst nicht tun?

Während meinem dankbaren Dienst erzählt mir eine Kollegin vom Tag der Ausstellungseröffnung. Zwischen all den technischen Geräten, den inszenierten Stühlen, Messern, Plastiken und Unterhöschen lehnte eine kleine Flasche Mineralwasser an einer Wand, die scheinbar jemand beim Aufbau vergessen hatte. Einen ganzen Tag stand die Flasche in der Ausstellung, wurde sie vom Publikum bestaunt und fotografiert, weil niemand, nicht einmal die Oberaufsicht, sich getraute, sie anzufassen, wegzuräumen. Weil niemand sicher wusste, ob es ein Kunstobjekt darstellte – oder ein Mineralwasser. Einen Tag später wurde die Flasche entfernt.

Und niemand, niemand wusste von dieser heimlichen, unabsichtlich rebellischen Kunstaktion, außer ein paar aufmerksamen Museumsaufsichten. Eine davon hat es mir erzählt und ich erzähle es weiter, weil ich weiß, dass es etwas erzählt. Und es braucht keinen Kuratorentext, um zu verstehen, wie widersprüchlich, wie unbegreifbar und wundervoll die Welt ist, die ich täglich betrachte und durchstehe. Sich in dieser wirren Welt zu positionieren, das ist die eigentliche Aufgabe, vielleicht sogar die Pflicht, die sich nicht mit Ironie umgehen lässt. Denn egal, ob Museum oder Supermarkt, ob Kunst oder Mineral – am Ende bleibt es Plastik.