Mittwoch, 28. August 2019

Das lesende Mädchen

Zeichnen ist Handsprache, habe ich irgendwo einmal gelesen, vor ein paar Jahren, ein Zitat, anonym, das mir nicht aus dem Kopf ging, mich seitdem begleitet, wie alle Eindrücke, die mich nicht verlassen, weil sie mir zu persönlich, also frei gewählt sind. Es heißt (zurecht) Sprache schafft Realität, doch es hat mich immer schon leise irritiert, wenn sich Verfechter dieser Anschauung allein und einzig auf die Schrift fixieren (und dabei noch nicht mal auf das Schriftbild). Was ist mit Handsprache, Bildsprache? Hat ein Gemälde, eine Fotographie im Kern nicht mehr Realitätssinn als ein Wort? Ein Bild ist da, ist immer präsent, immer schon offen, ein Blick genügt, um seinen Inhalt zu lesen, seine Sprache ist universal, und selbst, wenn ich es nicht verstehe, so kann ich es immer noch sehen. Ein Bild begnügt sich damit, betrachtet zu werden.

In all meinen Museumsrunden im zweiten Stock des Touristenschlosses (ostseitig) bleibe ich immer wieder hängen, an dem einen, unscheinbaren Bild, einem Porträt, das aus allen sturen Meisterschaften des Klassizismus, aus allen Biedermeiertableaus tapfer herausragt, das mich jedes Mal berührt, als sähe ich es zum ersten Mal. Es zeigt das Profil eines unbekannten Mädchens (jeden Mädchens), das ein Buch liest. Wir sehen nicht, welches Buch, es ist nicht wichtig, es könnte Schund oder Schiller, ein Schauermärchen sein, könnte alles sein, entscheidend ist: Das Mädchen hat sich dieses Buch frei gewählt; es hat sich entschieden, dieses Buch zu lesen. Jetzt. Es ist die Antithese zu Amerlings passiven, weichgezeichneten Madonnen, die nichtstuend schwelgen, beiseite blicken, auf bessere Epochen warten. Das Mädchen aber liest. Vielleicht wartet es auch, doch es liest, in der Zwischenzeit, es hält, es studiert, es liest ein Buch. Es kann lesen, es will lesen, es liest. Unbeirrt von all den bedrängenden Touristenscharen, den ausbrechenden Ellbogen, verbotenen Blitzen, lauten Gesprächen; es liest. In aller Ruhe, an jedem Tag, bei jedem Wetter, bis sich das Öl auf der Leinwand nach tausenden von Jahren zersetzt haben wird: es liest.

Der Wiener Maler Franz Eybl hat dieses Mädchen 1850 porträtiert, einhundertfünfunddreißig Jahre bevor Margaret Atwoods Report der Magd den Frauen das Lesen verbietet. Und wann immer ich an dem unbekannten Mädchen vorbeigehe, wann immer ich ihre Unversehrtheit prüfe, da berührt sie mich, berührt mich in dieser monumentalen, konzentrierten Schlichtheit, hebt die räumliche, respektvolle Distanz auf, die ich zu ihr halte, weil es mein Job ist. Ich betrachte das Mädchen beim Lesen und ich muss glauben, weil ich es sehe: Nirgendwo ist der Mensch schöner als beim verträumten Vertieftsein in ein Buch. (Ich sehe, dass ein Mädchen ein Buch liest und ich sehe, dass es schön ist; es ist schön, weil es liest.)

Sprache schafft Realität. Das lesende Mädchen spricht seit all den Jahren, bis heute, ohne den Mund je aufmachen zu müssen, es sagt mir stumm, dass Selbstbestimmung möglich ist, dass sie Realität ist, dass alles möglich ist, solange ich nur auf dieses eine Bild schaue, solange ich es betrachte und es nicht vergesse, solange dieses Mädchen weiter liest – tausend Seiten Schrift können nicht konstituieren, was Franz Eybl mit diesem Porträt schon 1850 geschafft hat: Realität. Sicher, ein lesendes Mädchen muss damals die Ausnahme gewesen sein, doch gerade das macht es so wertvoll in seiner Darstellung: es zeigt die Ausnahme; es macht sie sichtbar, schenkt mir Glauben an sie. Und Leben, das heißt doch, an die Ausnahme zu glauben – und in welcher Sprache gäbe es ein stärkeres, klareres Zeichen für gelebte, freie Entscheidung als in Eybls gepinselter Handsprache des ewig lesenden Mädchens?