Montag, 24. Februar 2020

Brief an Homer


In der Bibliothek des Fürstenpalais stehen 28 eschenbraune Holzbüsten bedeutender Dichter, Denker, Draufgänger, Geschichtsschreiber (klarerweise männliche, ausschließlich), sie heißen Cato oder Hannibal, Diogenes, Euripides, Sokrates, Hippokrates, Demokrit oder Epiktet, Voltaire (der einzige, der lächelt), Montesqueu, Leibnitz oder Homerus.

Ich betrachte sie jedes Mal, wenn ich die Führungsgruppe durch das Bücherreich begleite, sie um Abstand bettle, die Unsterblichen auf ihren Sockeln verteidige. Und jedes Mal bleibt mein Blick bei Homer hängen, bei dem Kopf des größten Dichters, der je gelebt haben soll. Ich blicke ihn an und fühle, etwas stimmt nicht mit diesem Kopf. Er passt nicht zu anderen, lebensechten Proportionen seiner Kollegen, er ist eine Spur zu groß; nicht sehr, doch groß genug, um aus dem Rahmen zu fallen. Es zu bemerken. Ein aufgedunsener, ballonartiger Wasserkopf, und selbst wenn Homer der größte war, diese Darstellung ist übertrieben, ist im Vergleich einfach zu groß. Diese Büste, diese Visage, der altgriechische Heißluftkopf, er stößt mich, irritiert; er macht verdächtig. Was, wenn die Darstellung falsch ist, wenn sie nur falsch sein kann, weil wir gar nicht wissen, wie Homer ausgesehen hat? Und wenn kein verlässliches Bild überliefert ist, was können wir dann überhaupt über den Dichtergott sagen? Homer, wer ist das?

Wenn der Dichter hinter seinem Epos verschwindet (wie der Bote, der mit Überbringen der Botschaft stirbt), so muss er doch davor existiert haben – er musste jemand gewesen sein. Doch wie der Barde von Stratford bleibt auch Homer ein universelles Phantom – er ist alle und deshalb niemand. Die List des Odysseus beim Zyklopen, sie ließe sich auch auf seinen Schöpfer anwenden: Niemand hat die Odyssee geschrieben.

Theorien, wer dieser Niemand war, existieren zuhauf, werden bis heute diskutiert. In Literatur und Popkultur hat er sehr unterschiedliche Gesichter: bei Borges ist er ein Unsterblicher, der nach Jahrhunderten vergessen hat, Homer zu sein, im amerikanischen Serienepos nach Matt Groening ist er ein gelber Familienvater mit vier Fingern, und in David Marksons postmodernem Kunstroman und Ein-Satz-Diktat Wittgensteins Mätresse besteht die Möglichkeit, dass Homer eine Frau war. Er könnte auch beides gewesen sein – Mann und Frau, ein Ehepaar, ein paar Frauen, ein Männerverein, einer, der anonym bleiben wollte, eine, die keine sein wollte. Denkbar ist alles, sicher ist nichts.

In gängigen Darstellungen wird Homer mit vollem Bart, plattem Haupthaar und schmalem Stirnband gezeigt, so auch im Kunstspeicher des Fürsten. Doch diese aufgeblasene Unproportion in der Bibliothek macht ihn mir echter, authentischer als in allen anderen Bildzeugnissen. Gerade weil das Gesicht falsch wirkt, eine Spur zu groß, ein seltsames Melonenhaupt, gerade deshalb sehe ich Homer darin. Denn ich stelle mir vor, wer auch immer diese Büste gefertigt hat, wusste nicht sicher, wie Homer aussah; und deshalb hat er in der Darstellung einen Hinweis versteckt. Er hat die Größe übertrieben, hat den Meerwasserkopf ganz bewusst aufgedunsen, um zu zeigen, dass es nicht der eine, echte Homer sein kann, den ich heute betrachte. Die Präzision des Falschen ist immer noch falsch, doch ein unproportionaler Ballon schafft Raum für die Wahrheit, nämlich, dass Homer kein Gesicht hat, das sich darstellen lässt. Die Möglichkeit besteht, dass Homer aussah wie du oder ich oder wie wir, und jedes Mal, wenn ich seine zu große Eschenholzbüste betrachte, lächle ich wie Voltaire, weil ich weiß, dass ich nichts sicher weiß.

Dienstag, 11. Februar 2020

Nicht normal


Normal ist gefährlich, lese ich jeden Tag, wenn ich im Untergrund auf die Bahn warte, auf der Werbefläche zwischen fernöstlicher Küchenempfehlung und Abtreibungshilfe; es ist die Kampfansage einer neuen Universität für Design und sonstiges, und natürlich ist sie ein Witz, aber einer, der trotzdem etwas auslöst, mich zum Nachdenken zwingt: Normalität, was ist das? Eine Konvention? Kulturgut? Jedenfalls ein Paradox: jeder möchte besonders sein, aber niemand will als nicht normal gelten. Oder nicht?

Ich erinnere mich an einen Moment; eine Sekunde im Museum, die nicht normal war. Es ist schon Monate her, ein Jahr vielleicht, ich stehe in dem winzigen, kalten Schmuckkästchen auf Abruf, einer meiner seltenen Dienste im diesem Haus, dort, wo wir zu zweit ein ganzes Objekt bewachen, eine Haupt- und eine Nebenausstellung, letztere gerade eröffnet, ein offener weißer Raum für junge Kunst von der Uni, monatlich wechselnd; eine wunderbare, einzigartige Plattform (die es heute nicht mehr gibt) für aufstrebende, lokale Künstler und Künstlerinnen, eine erste Chance, in der Szene Fuß zu fassen und Hände zu schütteln.

Wie immer ist nichts los, wie immer finden keine Massen in die versteckte kleine Wunderkammer hinter dem Rathaus. Ich sitze an der Kassentheke, nippe am Kaffee und helfe bei der hausinternen Sisyphusarbeit, Kulturberichte aus einem nicht enden wollenden Zeitungsberg zu schneiden, da betritt eine junge Frau das Museum. Sie ist klein, aber nicht unscheinbar, trägt das brünette Haar kurz, weil es ihr steht, wirkt stilbewusst, aber nicht exaltiert. Ich stehe auf, sie kommt in Begleitung, wird von ihr vorgestellt: sie ist die Künstlerin. Die Nebenausstellung, es ist ihre.

Sie tritt auf mich zu und streckt die Hand aus; ich ergreife sie, sage meinen Namen. Und dann passiert etwas, das ich normalerweise nicht erlebe. Etwas, das aus dem Rahmen der Begrüßung fällt, auf den unnormierten, warmen Grund der Freiheit: Wir schütteln die Hände und sie sieht mich an, sie sieht mir in die Augen, doch sie tut es eine Sekunde länger als gewöhnlich. Und es genügt: diese eine Sekunde, sie ist der Unterschied, die Alltagsstörung, die mir die Künstlerin schenkt, die mich überrascht und überfordert. Wie sie eine unsichtbare Aufsicht mit ehrlichen, interessierten Augen ansieht, nur einen Moment zu lange, um ihn nicht nicht empfinden zu können, wie alle Male sonst, wo der blinde Handschlag sofort in Vergessenheit gerät. Normalerweise.

Doch dieser eine, eine Spur zu lange Blick der jungen, stillen, unprätentiösen Künstlerin, dieser offene, zart freundliche Blick, ihn kann ich nicht vergessen; er bleibt hängen, weil er nicht normal ist, weil wir einander normalerweise nur kaum bis gar nicht ansehen. Wirklich von jemandem gesehen zu werden, das ist so irritierend, so erfrischend, so ungewöhnlich, dass es weh tut. Und es ist ein wundervoller, stiller, kleiner Schmerz, ein überraschender Nadelstich durch die angestaute Hornhaut der Normalität.

Ich weiß bis heute nichts über die Künstlerin, habe sie nie wieder gesehen; doch ihr zu langer Blick an diesem Tag, wie sie mich angesehen hat, diese eine, ungewöhnliche Sekunde habe ich bis heute vor Augen, sehe sie wieder im Dunkeln, nach Monaten, vielleicht einem Jahr. 

Und das, denke ich, kann einfach nicht normal sein; wirklich nicht.

Donnerstag, 6. Februar 2020

Die Frau ohne Eigenschaften

Die Anekdote ist bekannt: ein verschmitzter Künstler (sein Name blieb nicht hängen) schickt ein anonymes Manuskript an einen renommierten Verlag, wird abgelehnt und stellt damit den Betrieb bloß; das Manuskript war ein Auszug aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Es ist eine gute Anekdote, eine, die man immer wieder erzählen, mit der man auftrumpfen kann; sie ist nur völlig falsch. Ihr Inhalt mag stimmen, aber nicht ihre Pointe: nicht der Betrieb stellt sich bloß, sondern nur der Künstler.

Niemanden kann es interessieren, wenn die Kunst ihre Vorläufer kopiert. Ein Zögling, der pausenlos den Lehrer zitiert, sagt nie etwas Eigenes. Er sagt, was wir schon wissen, er überrascht nicht, und was nicht überrascht, ist keine Kunst. Zu glauben, als Unbekannter Musil kopieren zu können und abgeschmettert zu werden, erzähle irgendetwas über den Betrieb, das bedeutet, nichts verstanden und Musil nicht gelesen zu haben (also: nicht genau gelesen). Niemand würde heute verlegt werden, würde er oder sie heute genauso wie Robert Musil schreiben. Was einfach daran liegt, dass es Musil schon gibt.

Umberto Eco, der größte Leser nach Borges, hat das am schönsten hervorgekehrt  in einem späten Vortrag über das Verhältnis von den alten Riesen und den Zwergen, die auf ihren Schultern sitzen, dabei weiter sehen. Dieses märchenreiche Bild der Generationen geht zurück auf einen französischen Platoniker des zwölften Jahrhunderts, Bernhard von Chartres, ein Mann des Mittelalters, Freund der Sprache, der seinen Schülern vorwarf, „dass sie die antiken Autoren sklavisch kopierten, und sagte, die Herausforderung sei nicht, genauso zu schreiben wie sie, sondern von ihnen zu lernen, wie man genauso gut schreibt wie sie, damit die nach uns Kommenden sich an uns orientierten, so wie wir uns an den Vorfahren orientierten.“ Bernhards Bemerkung sei folglich (nicht weniger als) ein „Appell an die Autonomie und den Mut zur Innovation.“

Man könnte auch Emanzipation sagen, denn natürlich muss man Robert Musil kennen, um nicht Musil sein zu wollen – aber genauso gut. Ohne Eltern kann man nicht gegen sie rebellieren. Ohne Vorbilder kann man sie auch nicht hinter sich lassen. Ohne Homer kein Bloomsday, ohne Antike kein Jugendstil.  Der Sohn muss sich vom Vater abnabeln, er muss riskieren, verachtet zu werden, weil er sich abnabelt, nicht anders kann. Bernhards Bild der Riesen und Zwerge (Väter und Söhne), das Eco bis zur Postmoderne dupliziert, fehlt nur noch dieser kleine, doch entscheidende Hinweis: Die Zwerge auf den Schultern der Riesen sehen nicht bloß weiter, sie sehen anders.

Rubens’ fleischige Venus wurde einmal als zellulitische Beleidigung des Auges betrachtet, heute muss ich sie im Palais vor Fotos schützen. Monets stille Impressionen machten einmal schreiend und aggressiv, heute zieren sie Kalender und Bettwäsche. Niemand wird als Riese geboren, und niemand weiß, wie groß er einmal wird. Auch Monet und Rubens und Musil und alle anderen Riesen waren einmal Zwerge, die bloß anders sahen; ihr Blick stieß vor den Kopf, und nur deshalb blieben sie im Gedächtnis; nur deshalb wurden sie genauso gut wie ihre Vorfahren. Weil sie überraschten. Weil sie Verachtung in Kauf nahmen, anstatt Verjährtes aufzuwärmen.

Und was für die Söhne gilt, gilt natürlich auch für die Töchter. Ich kann Mann, ich kann Musil heute nicht genauso empfinden, wie sie in ihrer Zeit empfunden werden mussten, aber ich kann mich an ihnen orientieren, um von ihnen wegzukommen. Niemand fragt nach einem zweiten Mann ohne Eigenschaften; aber vielleicht, vielleicht schreibt einmal jemand Die Frau ohne Eigenschaften, vielleicht sieht jemand so weit und so differenziert, dass er oder sie ein genauso großes, größenwahnsinniges Projekt angeht, das sich in einer angstfreien, neuen, überraschenden Sprache von dem eigenschaftslosen Mann emanzipiert, den es benötigt, um von ihm loszukommen. Nur dann würden sich die  Kommenden vielleicht an dieser Frau ohne Eigenschaften orientieren. Nur dann würde es etwas erzählen, wenn der Betrieb sie einst abgeschmettert hätte.