Montag, 21. Juni 2021

Ein guter Schluss

Es gibt Künstler, denen begegnest du im Dienst immer wieder; manche bleiben Bekannte, du nickst ihnen zu, drehst dich schnell ab, tust schon mal so, als hättest du sie nicht gesehen; andere werden zu guten Freunden. Einer meiner besten war Vorarlberger, starb vor 82 Jahren und bringt kleine, englischsprachige Gäste zum Lachen, wenn sie seinen Namen aussprechen: Rudolf Wacker.

Das erste Mal traf ich ihn vor fünf Jahren im Touristenschloss, sein Porträt hing damals in der Haussammlung, bevor die neue Direktorin kam; expressionistisch, grell, verzerrt, mit Mütze am Kopf und Schaum vor dem Mund – Rasierschaum, wohlgemerkt. Sofort war er mir sympathisch, der gepinselte Mann aus Bregenz, doch es dauerte, bis wir einander wiedersahen, erst zwei Jahre später durfte ich die große Schau zur Zwischenkriegszeit bewachen, wieder und wieder, bis ich ihn das zweite Mal im vorletzten Raum bei der Neuen Sachlichkeit traf: wieder ein Porträt, doch diesmal ein tieftrauriges, eine kaputte Kinderpuppe sah mich aus dem Rahmen an, ein enorm detaillierter, rissiger Rumpf, ein Spielzeug mit Schmerz und Seele, aber ohne Kameraden. Auch das konnte mein Freund, vielleicht sogar am besten: das Künstliche beseelen, mich mitfühlen lassen, wenn ich ins geschundene Antlitz eines gemalten Puppenkopfes blicke.

Doch wieder dauerte es, wieder kam er mir aus den Augen, aber nie aus dem Sinn, und heute, schließlich, treffe ich ihn ein drittes Mal. Im Auktionssaal diesmal, und wieder überrascht er mich, mit einer lebendigen, knalligen Seelandschaft, ganz ohne Albtraum und Selbstironie. Die sparte er sich auf seinen späten Leinwänden, setzte sie lieber in seine Notizbücher: eine produktive Woche am See, täglich ein Bild, „von der Neuen Sachlichkeit zur Neuen Saftigkeit“, so hält er sein vitales Freiluftschaffen selber fest. Wer so schreibt, der hat Humor, und Wacker war einer, der ganz besonders über sich selbst lachen konnte (das zeigen seine Selbstporträts), doch er verstand keinen Spaß, wenn es um das ging, was ihm ernsthaft am Herzen lag: die Kunst, die freie.

Wacker starb im April 1939 kurz nach einer Hausdurchsuchung. Es heißt, als die Gestapo unangekündigt in sein Atelier stürmte und alle seine Arbeiten und Mappen durchwühlte, soll er sich so darüber aufgeregt haben, dass er einen Herzinfarkt erlitt. Bei einem anschließenden Verhör kam ein zweiter dazu, wenig später der Tod. Zu sagen, die Nazis hätten ihn auf dem Gewissen, ist nicht übertrieben: die Werkstatt eines Künstlers auseinandernehmen, heißt sein Leben nehmen. Hätte der Mann aus Bregenz Ruhe bewahrt, das Prozedere, die Demütigung still über sich ergehen lassen, er hätte womöglich überlebt, noch Jahrzehnte weiter geschaffen. Doch Ruhe bewahren ist keine Option, wenn es um dein Leben geht. Wenn dir die Kunst so sehr am Herzen liegt wie Rudolf Wacker, meinem Freund, dann musst du sie mit vollem Organ, ohne Rücksicht verteidigen, so laut und so lange, bis das Herz nicht mehr mitkommt, zum Schlagen aufhört. Weil ein Leben ohne Kunst ohnehin herzlos wäre.

Den Spartanern wird angedichtet, den „guten Tod“ am Schlachtfeld zu finden; doch wenn es überhaupt so etwas wie einen „guten“ Tod gibt, ihn jemals geben kann (und vielleicht gibt es ihn nur in dem Sinne, in dem es einen guten Schlusssatz gibt: sein Wert ergibt sich aus all den Seiten davor), dann liegt der gute Tod nicht im Kampf, sondern im Einsatz für eine Sache (seltsam, wie oft das eine mit dem anderen verwechselt wird). Nicht weniger mutig und konsequent als ein stur heroischer Spartaner setzte sich Wacker für seine saftige, grelle, kunstvolle Heimat ein, die nur vom Keilrahmen begrenzt war. Auch wenn der Tod nicht sofort eintrat, so starb er doch in dem Moment, in dem die Tür zu seinem Atelier aufgerissen wurde und sich eine braune Horde auf sein Werk stürzte; ungestüm, kunstfern, vor allem: respektlos. Ich stelle mir vor, wie der Künstler dabei rot und grün im Gesicht wird, wie in seinem frühen Selbstporträt, und die Uniformen im wüsten, unbändigen Vorarlbergerisch beschimpft, bis er vor Wut umkippt, liegenbleibt. Ich stelle mir vor, das wäre ein guter Schlusssatz, einer, der ihm gefallen hätte: Er starb im Stillen, weil er sich lautstark für sein Leben einsetzte.

Montag, 7. Juni 2021

Drei Farben Grün

In unverständlicher Regelmäßigkeit begegne ich in der Stadt, bei der Arbeit Menschen, die mir ansatzlos, ungefragt und völlig selbstverständlich ihre Lebensgeschichte erzählen. Man kann sie nicht wirklich daran hindern oder dazu ermutigen; sie tun es einfach. Es ist herausfordernd, ihnen zu folgen, unmöglich, etwas zu erwidern, sehr einfach, etwas von ihnen mitzunehmen. Denn inmitten konfuser Gedanken lauern immer wieder Geschichten, überraschende, tragische Geschichten, große Anekdoten, die es wert sind, behalten, vielleicht aufgeschrieben zu werden. Was ich hiermit tue. 

Samstagnachmittag, der Sommer lässt auf sich warten, ich stehe im größten Schausaal des Auktionshauses inmitten Alter Meister, starre abwesend auf Öl auf Holz, als mich der deutsche Pensionist von der Seite anspricht; ein obligatorischer Kommentar zur Maskenpflicht, und dann hebt er die Hand zum Bild. Wir stehen vor einer flämischen Landschaft des frühen 17. Jahrhunderts, ein Gemeinschaftswerk, wie so viele ihrer Zeit (die damals schon Geld war) und der Mann erklärt mir, dass er ein Geburtstagsgeschenk suche; diese Landschaft von Joos de Momper, vor der wir stehen, die hat was, die könnte es werden – fabelhaft, sinniert er, auch wenn Momper kein großer Perspektivmaler war, die Figuren im Hintergrund sicher zu groß, doch die Tiefenwirkung, einmalig. Momper, erfahre ich, war derjenige, der die Tiefenmalerei erst populär machte, er war es, der die Dreifarbentechnik zur Meisterschaft erhob (aber nicht erfand).

Joos de Momper, im Shakespeare-Jahr 1564 geboren, war genial genug, um eine Idee zu perfektionieren, die so einfach war, dass sie Jahrhunderte unentdeckt blieb: er unterteilte die Landschaft in drei Teile zu drei Farben, braun der Vordergrund, grün der Mittelteil, blau die Ferne. Der deutsche Gast erklärt mir das, zeigt wieder auf das Bild hinter uns, das mögliche Geschenk, die weite Flusslandschaft mit vornehmen Figuren bei einer Brücke, und wirklich, erst jetzt wird es mir bewusst, sehe, verstehe ich die Anordnung der Dreifarbigkeit, doch es ist nur das Grün, der grelle Hoffnungsschimmer, der mir ins Auge sticht, leuchtend und satt wie die hellgrüne Zauberstadt von Oz, ein wirklich fabelhaftes Bild, denke ich mit der Stimme des Mannes, der weiter neben mir steht und bald noch viel mehr aus seinem Leben, seiner Vergangenheit, seinen politischen Überzeugungen erzählen wird, bevor mich die Kollegin zur Pause ablöst.

Am späteren Nachmittag treffe ich den Mann noch einmal, er dreht immer noch seine Runden, tritt noch einmal vor das Bild, das mit jedem Mal tiefer und grüner erscheint. In seinen Augen ist zu erkennen, wie viel es ihm wert ist. Für wen das Geschenk denn eigentlich sein soll, im Falle des Zuschlages, frage ich. Er lächelt. Für ihn selbst, sagt er, fast heiter. Seit zwölf Jahren kauft er sich seine Geburtstagsgeschenke hier, und immer selbst.

Weil es sonst niemand mehr tut.

Mittwoch, 2. Juni 2021

Rückkehr ins Palais

Nach Monaten der Schließung, stiller, führungsfreier Zeit, kehre ich zurück in das Palais des Fürsten, treffe nach Monaten wieder die alte Mannschaft, die mir ehrlich abgegangen ist. Die erfahrene Kollegin aus der Zentrale kommt mir entgegen, wir stehen in der Sala Terrena, sie grüßt mich herzlich, warm, wie ich es gar nicht kenne von ihr, und wir umarmen einander, es ist, als würde man ein beliebtes, wiederaufgenommenes Theaterstück neu proben, ein erinnerter Erfolg, der lange, sehr lange ausgesetzt hatte.

Die Kollegin freut sich über meine Rückkehr, sie sagt ohne Umschweife, es sei viel passiert, sie hätte mir etwas sehr Persönliches zu erzählen. Sie schaut mir ins Gesicht und macht einen Vorschlag. Wir könnten uns am Samstag treffen und darüber in Ruhe reden, ohne die störenden Ablenkungen im Dienst. Und danach, sagt sie, können wir noch zu ihr gehen und Sex haben. Oder eine Tasse Tee trinken, falls mir das lieber ist. Sie sucht wieder meinen Blick. Ob mir so viel Offenheit Angst mache, fragt sie. Ich bin nicht mehr sicher, aber ich glaube, ich schüttle den Kopf. 

„Ehrlichkeit ohne Anstand ist verletzend“, soll Konfuzius einmal gesagt haben (was hat er nicht gesagt?), und es stimmt schon, es stimmt, wenn das ehrlich Gesagte keine Rücksicht auf Verluste nimmt, dann wird es eine Spur der Verwüstung ziehen, wird vernichten und zerstören; doch die Offenheit tut das nicht; sie ist friedlicher, weniger kriegerisch, sie verletzt nicht, sie ist entwaffnend – und ohne Waffen ist die Chance auf Leben ungleich höher.

Mehr als einmal, denke ich, wäre die Offenheit meiner Kollegin auch im Wachen wünschenswert, nicht nur in entwaffnenden Träumen wie diesen.