Montag, 27. September 2021

Die Bibliothek ohne Namen

Immer wieder ertappe ich mich dabei, Dinge zu tun, die mich bei anderen stören; vielleicht ist diese Inkonsequenz menschlich, und somit Teil von mir; es ändert nichts. Ich ertappe mich dabei, wie ich ein Gemälde am Bildschirm anstarre und mich automatisch frage, ob es ein Rubens, ein Monet, ein Warhol ist; und mich noch bestätigt, beinahe stolz fühle, wenn ich richtig liege. Als würde der prominente Name irgendetwas am Inhalt ändern, kann ich nicht einfach nur das Bild betrachten, es anonym genießen, nein, ich muss wissen, wer es gepinselt hat, weil ich trainiert wurde, dem Bild mehr Wert zu schenken, wenn ich seinen Schöpfer kenne – als würde sich das Bild jemals dafür interessieren, wer es gemalt hat.

Es ist Ende September, der Sommer kaum vorbei und schon werben die großen Museen mit den kommenden großen Ausstellungen: Modigliani, Tizian, Munch, es sind immer die Namen, mit denen geworben wird, Namen, die wieder für Massen sorgen sollen, Namen, die Vorverkäufe und Vorfreude auslösen; doch diese Freude hat ihren Preis. Sie fordert Erwartung, fördert Enttäuschung, vor allem aber hindert sie mich daran, das Werk für sich stehend zu betrachten; weil der riesengroße Name nicht zu übersehen ist. Weil er immer darauf, daneben, darüber steht, und sich alle den Namen hingeben, selbst die Experten (vor allem die Experten). Wäre es nicht möglich, muss es nicht möglich sein, den Verrat der Bilder zu betrachten, ohne beim Anblick der Pfeife zu denken, wie genial war dieser Magritte? Kann ich überhaupt ein Kunstwerk genießen, ohne den Schöpfer zu hinterfragen? Und wie befreie ich mich vom elenden Personenkult, dem ich angehöre? 

Natürlich, der Name verkauft sich, und ich muss gestehen, dass ich mich auf angekündigte Werke freue, nur weil ich den Namen des Schöpfers, der Schöpferin kenne und schätze. Doch letztlich generiere ich damit wieder nur Vorurteile, positive, aber doch. Extremer als in den Museen verhält es sich nur in Film und Buch. Ausgerechnet die Literatur, diese rätselhafte Wunderkammer, ist heute so sehr auf die Namen und Herkünfte ihrer Macher fixiert, als hätte es den Tod des Autors nie gegeben. Immer und immer wieder werden die Autoren heute im Text zum Leben erweckt, als hätten sie nach dem Tod noch etwas zu sagen; schlimmer noch, ihre Biografien werden mit ausgegraben und in das Werk hineingelesen oder über das Werk gestülpt, der unhandliche Inhalt wird in einen vermarkt- und haltbaren identitären Darm gepresst, bis die Form den Erwartungen entspricht und sich genießen oder ablehnen lässt – nicht selten, ehe es gelesen wird.

Es hat den Anschein, als könnten (oder wollten) viele Lesende heute nicht mehr zwischen Erzähler und Erzeuger unterscheiden, als müsse das Geschriebene mit der Lebensgeschichte des Schreibenden übereinstimmen, um es zu rechtfertigen, und als wäre umgekehrt eine Erzählung automatisch Gold, nur weil sie selbst erlebt wurde. Borges hat diese eigenartige Fixierung bereits vor langen Jahrzehnten erkannt, in seinen Harvard-Vorlesungen Ende der Sechziger hält er fest, dass wir vom „Sinn für Geschichte belastet, überlastet sind“. Und doch pflegte er den unermüdlichen Optimismus, dass eine Zeit kommen wird, „in der sich die Menschen nicht sehr um die Zufälligkeiten und Umstände der Schönheit kümmern werden; ihnen wird an der Schönheit selbst liegen. Vielleicht werden sie nicht einmal Wert auf die Namen oder Biografien der Dichter legen.“

Von dieser Zeit sind wir heute freilich meilenweit entfernt. Die Tendenz drängt in die Gegenrichtung, Namen und Biografien werden zunehmend essentieller, stellen Erfolgsgründe, geben Halt und Argumente, anstatt wortlos im Werk unterzugehen. Was aber sagt es über mich aus, wenn ich ein Werk nicht mehr losgelöst von Herkunft, Geschichte, Geschlecht seines Schöpfers lesen kann? Und wie verhalte ich mich dann erst gegenüber einem Werk, das anonym geblieben ist? Das herauszufinden, könnte die große Aufgabe, das Ideal einer Zukunft sein, die vielleicht nie kommen wird, weil wir von zuviel Wissen umgeben sind, um es gänzlich auszublenden. Ein Kunstwerk unvoreingenommen und wertefrei zu genießen, das bedeutet, sich auf das Rätsel des Universums einzulassen, alles auszublenden, das nicht im Werk selbst steckt. Das bedeutet, den Autor im Grab zu lassen, den Tod des Schöpfers umstandsfrei zu akzeptieren und alle Namen und Biografien vollständig zu vergessen. Doch solange Kunst über Namen besprochen und (vor allem) über Namen verkauft wird, so lange wird Borges’ kühne Hoffnung einer Welt, in der uns nur an der Schönheit (also der Kunst selbst) liegt, ein rätselhaftes Ideal bleiben, das wir uns mit Wissen und Wertung eifrig vom Leib halten. 

Und doch ist es ein schöner Gedanke, eine Utopie der reinen sinnlichen Erfahrung: in einer kommenden Zeit, einer idealen Welt wären alle Kunstwerke anonym. Auf Gemälden wären keine Signaturen, auf Buchumschlägen und Filmplakaten nur noch die Titel zu finden. Ich würde keinen Monet mehr betrachten, sondern eine Seerose, keinen Magritte, sondern nur das Bild einer Pfeife. Und ich würde nicht Borges zitieren, sondern nur seine zeitlosen, anonymen Texte, die in jeder guten Bibliothek ohne Namen aufliegen würden.