Mittwoch, 17. November 2021

Berufsproblem

Vor ein paar Wochen sprach ich mit einem Kollegen, einem sehr guten, über unsere Arbeit, oder besser, unseren Job; wir standen vor dem Haupteingang des Fürstenpalais’, ich auf Pause, er auf Position, die Veranstaltung im Gange, und wir hatten ein paar ruhige sternenklare Minuten, nur gelegentliche Raucher in unseren Rücken, die uns weder hörten noch verstanden.

Es belastet ihn schon, sagt mein Kollege, und ich weiß, was er meint, bevor er es ausspricht – es ist nicht die Arbeit selbst, sondern das Wissen um ihr Ansehen. Wenn er Freunde trifft, sagt er, dann verschweigt er, womit er sein Geld verdient, er lenkt vom Thema ab, weil er sich für seine Arbeit schämt, es ihm peinlich ist, den Beruf zuzugeben. Andere zumindest haben eine Ausrede, finanzieren sich damit parallel ihre Träume (ich?), ihre Studien (viele), doch er, er hat nur das. Er ist noch sehr jung, aber reflektiert, er weiß, was die Leute über einen denken, der ihrer Ansicht nach nichts aus seinem Leben macht; es kommt einer Beleidigung gleich, dein Beruf wird dir übel genommen, zwar nicht in lauten Urteilen, nicht in Gewalt, aber in ihren Gesichtern. Die Rechnung kommt in Blicken.

Ich kenne die Reaktionen, die leise Frage „Was ist in deinem Leben schief gegangen?“, das Unverständnis, sich freiwillig für eine so sinnleere, schlecht entlohnte Arbeit zu entscheiden, gerade mal genug Geld zu haben, um Scheiße zu fressen und sich die Füße wund zu stehen, statt eine andere Richtung einzuschlagen. Es belastet ihn schon, sagt mein Kollege, er ist verlässlich, freundlich, unfassbar besonnen, wurde vor Monaten einmal bei der Arbeit angegriffen, bekam einen Messerstich in die Hand und niemals Entschädigung; es tut ihm nicht weh, es hat ihn nicht kündigen, nicht einmal daran denken lassen, aber es belastet ihn schon, das Wissen, dass diese Narbe nicht anerkannt ist, es niemals sein wird. Ich weiß, er wird niemals mit der Narbe vor Freunden angeben, weil sie für immer mit dem Dienst verbunden ist. Es ist ein tiefer Stich, doch schmerzhafter sind die Sticheleien, in diesem Job zu versauern.

In ihm wie in mir (womöglich in allen Aufsichten) steckt ein tiefes Empfinden, ein Empfinden, das dir sagt, dich für den Job irgendwo schämen zu müssen. Es belastet schon sehr, ja, es ist ein verdammter, ein permanenter innerer Druck, doch er wird von außen gemacht: Das ist das Problem meines Berufs – er besteht aus Beaufsichtigung, aber er wird nicht angesehen. Die reine Option, diesen Job eventuell zu mögen, ihn beizeiten gern oder gut zu machen, ist kategorisch ausgeschlossen. Und dennoch mag ich ihn.

Ein kränklicher Däne schrieb 1846, in die Schule zu gehen, das heißt nicht nur lesen, lernen und gehänselt werden, es „bedeutet fast so etwas wie mitinteressiert zu sein an dem Problem des Schulunterrichts.“ Was Kierkegaard damals in seiner Kritik der Gegenwart aufzeigte, gilt in meinen Augen genauso fürs Berufsleben: Aufseher sein, das bedeutet auch, sich für das Problem der Aufsicht zu interessieren. Es ist eine carrollsche, tägliche Nicht-Arbeit, die man dennoch (wie alles) sehr schlecht machen kann, und die dir manchmal noch übel genommen wird, wenn du sie gewissenhaft erledigst, doch in dieser unlösbaren Problematik steckt ein noch viel tieferes Mysterium, dem mein allergrößtes Interesse gilt: bei all dem Wahnsinn der Welt freundlich und gut zu bleiben.

Es ist schwer, sich bei der Ausübung eines schlechten Berufes nicht schlecht zu fühlen, doch viel schwerer ist es, sich trotz all der Blicke die Freundlichkeit zu bewahren, das Interesse am Gespräch nie zu verlieren, während die Gäste im Palais ihren Chardonnay gustieren. Ich weiß nicht mehr, wie der Dialog mit dem Kollegen endete, aber ich erinnere mich wieder, warum ich diesen Job mag, trotz allem. Und mir fällt das Lied einer kanadischen Band ein, Damage heißt die Nummer, es geht um Schaden und Narben, und diese eine Zeile: „Scars tell nothing at all.“

Narben erzählen überhaupt nichts, nur wie ich mit ihnen umgehe. Gleiches gilt für den Beruf.