Montag, 11. September 2023

Serpico und die Künste

Es gibt diese wunderbare Szene in Sidney Lumets Serpico, als der von Al Pacino gespielte rechtschaffene Cop und Titelheld mit seiner Partnerin auf eine Hippieparty geht, und sie ihm all ihre kunstbegabten Freundinnen vorstellt, immer nach demselben, ironischen Muster: „Sie ist Dichterin, sie arbeitet in einer Werbeagentur.“ – „Sie ist Schauspielerin, sie arbeitet für einen Fotografen.“ – „Sie ist Schriftstellerin, sie arbeitet für eine Versicherung.“

Es ist eine frühe und kurze Szene, die der Handlung nichts beiträgt, doch sie illustriert mit unbeschwerter Leichtigkeit, was diesen Serpico selbst antreibt, was den gesamten Film ausmacht: das Dilemma zwischen Ideal und Realität. Die Ambition auf der einen Seite, das Geld auf der anderen. Und immer, wenn ich mit meinen Kollegen in der Museumsaufsicht spreche, muss ich an diese kleine und unscheinbare Szene denken – so viele, die neben mir und mit mir so unscheinbar in den Galerien stehen, sie haben so große Ambitionen, Träume, Ideale, sie sind oder waren in der Ausbildung, im Schaffen, auf dem Weg zu dem, der sie sein wollen, und auf einer Party könnte ich sie alle so vorstellen: „Sie ist Sängerin, sie arbeitet im Museum.“ – „Er ist Regisseur, er arbeitet im Museum.“ – „Die beiden sind Fotografen, sie arbeiten im Museum.“

Ich erinnere mich an einen Dienst, vor einiger Zeit, als ich noch regelmäßig im Touristenschloss im Einsatz war; ich saß im Pausenraum an dem langen und hellen Buchentisch, und mir gegenüber eine ältere Kollegin (sie ist studierte Historikerin, hat in ihrem Wunschbereich nie eine Stelle gefunden), und sie erzählt mir plötzlich von einem ehemaligen Mitarbeiter in der Garderobe, der sich jahrelang erfolglos für das Reinhardtseminar beworben hätte; irgendwann war er gebrochen, hat nach dem fünften gescheiterten Versuch die Schauspielschule sein lassen und die gesamte Kunst verworfen – obwohl er daneben schon ein abgeschlossenes Musikstudium in der Tasche hatte. Sie hätte ihm gesagt, die besten Schauspieler wären eh alle von der Schule geflogen, also was soll’s, es geht auch ohne, nur nicht aufgeben.

„Nur nicht aufgeben“, denke ich, das ist er, der eine Satz, die geheime Parole, die nicht vergessen werden darf, die jede Museumsaufsicht mit kunstsinnigen Träumen, jeden Gesetzeshüter mit hehren Idealen durch den Tag bringen muss. Serpico ist vor genau fünfzig Jahren erschienen, und am Ende triumphiert die Figur, der ehrliche Außenseiter, gegen das korrupte System, das er bekämpft; doch er verliert dabei nicht wenig, und er wird niemanden haben, mit dem er den späten Sieg befeiern kann. Die Moral bleibt zwiespältig, wie in allen Werken des großen Lumets, und dennoch scheint es keine Alternative zu dieser Parole, zu dem ewigen Ratschlag der weisen Kollegin und studierten Historikerin zu geben, wenn du den Willen, die Ambition, das unwahrscheinliche Ziel in dir spürst, das du nicht leugnen kannst, auch wenn alles dagegen spricht, auch wenn du fünfmal an der Schauspielschule scheiterst.

„Und stell dir vor“, sagte die Kollegin damals, als unsere Pause sich dem Ende neigte. „Jahre später hab ich ihn im Fernsehen gesehen.“