Mittwoch, 29. Dezember 2021

Requiem für einen Wandkalender

Mein Vater hatte einen, mein Cousin hatte einen, man kann sagen, ich bin mit ihm aufgewachsen. Ich sah ihn an Bürowänden, in Umkleiden, Badezimmern, an schlecht beleuchteten Kalkmauern, zuletzt in den labyrinthischen Kellergewölben des Auktionshauses: Dort hängt er zwischen den Depots für Gemälde vergangener Jahrhunderte und wirkt selbst wie ein Relikt vergangener Zeiten: der erotische Wandkalender. 

Er hängt über dem Boden, nicht anders als ein Kunstwerk, doch er ist selten öffentlich zugänglich; man findet ihn zumeist in privaten, überwiegend männlichen Refugien, schüchtern, fast verschämt hängt er an der Wand, stellt sich selten in den Mittelpunkt, hält sich eher randseitig, im Dämmer, und lädt dich ein, näherzutreten.

Er ist ein Zauberer, der zwölf Monate in zwölf Posen verwandelt, ein Hüter der beständigen Erinnerung an eine Zeit, eine Ära, als das Analoge und Haptische vorherrschte, und den entblößten „erwachsenen“ Bildern noch eine Aura des Geheimnisvollen und Verruchten umgab; für nicht wenige war er ein stiller Aufklärer, ein erster Bezugspunkt zu einer Welt, die es zu entdecken galt, eine viel zu kurze, zu einfache, verheißungsvolle Antwort auf eine Frage, die noch nicht gestellt wurde.

Er gab dir zwölf Bilder für das ganze Jahr, überraschte dich beim Blättern durch die Monate, erwärmte dir den November, Dezember, ließ dich staunen, zu welch Posen diese Körper fähig waren, noch bevor du je von Yoga gehört hast, ließ dich wundern, warum den Modellen im Winter nie kalt wurde. Mit seinen zwölf Bildern eröffnete er dir das Tor zur Fantasie, ohne es einzutreten, wie seine digitalen Nachfolger, denen er immer eines voraushaben wird: er ist limitiert und greifbar, und deshalb hat er Gewicht – er weckt ein Verlangen, das er nie ganz stillt, er ist die zu kurze Zigarette, die verwirrend schmeckt, er liefert dir zwölf Bilder, um dich wählen zu lassen, dir einen Lieblingsmonat festzulegen, um dich selbst besser kennenzulernen.

Er war ein Lehrer, der selbst nie eine Schule besuchte, er nahm es hin, verbannt zu werden, zu empören und zu erregen (vor allem zu erregen); er konnte ein Komplize sein, wenn Mann einen brauchte, eine Sehnsucht, wenn es sonst keine gab. Über seine Bilder konnte länger diskutiert werden als über einen Picasso, sie prägten sich in deinen Kopf, als hätten sie Bedeutung, sie waren ein geheimer Kompass, eine Konstante, sie alterten nicht; das Jahr verging, ein neues begann, die Bilder waren da. Die Körper räkelten sich, egal was kam, egal was noch kommen würde.

Heute führt er ein Schattendasein in stiller Einsamkeit. Er weiß, dass es nicht mehr viele von ihm gibt, er wurde ausgedünnt wie die Telefonzellen in der Stadt, und womöglich wird er bald ganz verschwinden, weil er wie die Telefonzelle nicht mehr gebraucht wird, weil er nur zwölf Bilder für ein Jahr bietet, wo seine Nachfolger vierundzwanzig Bilder pro Sekunde liefern.

Irgendwann wird auch der letzte erotische Wandkalender abgehängt sein und die Welt wird es nicht merken, weil er ohnehin nie im Mittelpunkt stand. Er wird nicht vermisst werden, er wird nicht fehlen, doch die, die ihn kannten, werden sich an ihn erinnern, mit einer nahezu unverständlichen nostalgischen Demut, die nur all jene nachvollziehen können, die noch Wertkarten in eine Telefonzelle gesteckt haben.

Freitag, 10. Dezember 2021

Eine Weihnachtsgeschichte

Es gibt Traditionen, die werden mit bedingungslosem Willen aufrechterhalten, selbst wenn die Erde stillsteht. Am ersten Freitag im Dezember wird der Christbaum in der Sala Terrena des Fürstenpalais aufgestellt, weil er hier jedes Jahr aufgestellt wird, weil es immer so gemacht wurde, weil es Tradition ist, selbst wenn niemand ins Haus darf, um den Baum zu bestaunen; er muss stehen. Die Tradition gibt Struktur, der Baum gibt Halt, und selbst die größten Skeptiker der Menschheit können schwer leugnen, dass sie nicht etwas brauchen, woran sie sich festhalten können.

In diesen Tagen ist es der Tannenbaum, der gefällt wurde, um errichtet zu werden, um seine Nadeln im Warmen zu behängen und ein paar Wochen später zu entsorgen. Zwei kräftige Männer tragen den Baum, der wortwörtlich ins Netz gegangen ist, stellen ihn in eine Vorrichtung neben dem Haupteingang, wie jedes Jahr, und öffnen das Fangnetz – und in dem Moment geschieht das Unerwartete, aus dem dichten Nadelkleid der meterhohen Naturinstallation springt eine Maus; eine flinke, weiße, nicht gar so kleine Maus, die sich im Baum versteckt oder verirrt hatte, sie springt heraus und wetzt über die glatten Marmorfliesen. Woher kommt sie, wohin will sie – für die beiden Fragen ist kein Platz in der Geschichte, denn die beiden Männer, die den Baum errichtet haben, reagieren schnell. Sie rennen der Maus hinterher, die zu ihrem Unglück in eine Ecke läuft, und treiben sie in die Enge. Einer von ihnen bückt sich, ballt die Faust und erschlägt den Eindringling; es braucht zwei Schläge (nicht einen: zwei), um das Mäuschen zu töten. Was vor wenigen Sekunden noch ein Nagetier war, ein kleines, pelziges Lebewesen, ist jetzt nur noch ein blutverschmiertes Stück Fell.

Der Mann, der die Maus so abgeklärt erschlagen hat (es wirkt nicht so, als hätte er es zum ersten Mal getan), packt den Kadaver am Schwanz und entsorgt ihn in der Mülltonne neben dem Haus. Dabei hinterlässt das Tier eine tropfende Blutspur, um auch nach dem Tod noch Ärger zu machen. Sofort kommen die beiden Reinigungsdamen auf Befehl und schrubben den Marmor; eine beträchtliche Zeit schrubben sie an den blutroten Flecken, die sich so schwer entfernen lassen, egal, ob sie von Mäusen oder Menschen stammen. Im Alten Testament wurden Verträge noch mit Tierblut beschlossen, um wasserfesten Handel zu betreiben – weil selbst ein Tropfen roter Mäusesaft dicker ist als Wasser.

Es dauert, dauert an diesem Dezembertag, bis alle roten Schlieren am Bodenmarmor beseitigt sind, damit nichts mehr von dem Baum ablenkt, den niemand bestaunt. Nur draußen vor der Tür, da finden sich noch – wenn man ganz genau hinsieht – ein paar schwache, kleine Kleckse am kalten Stein der Vorterrasse. Es sind die letzten Spuren einer Unbekannten, sie schimmern schwach im zarten Rot, bis der erste Schnee fällt und auch sie verwischt.

Sonntag, 5. Dezember 2021

Die Kassiererin

In den Wochen, in denen das Land sich wieder herunterfährt, in einen erzwungenen Sparmodus wechselt, um Kontakte zu verringern und Krankenhäuser zu entlasten, wirkt der Gang in den Supermarkt wie ein letzter, rebellischer Akt sozialer Interaktion.

Während die Museen wieder verschlossen, die Kultur wieder abgesagt ist, trete ich in den Supermarkt, um meinen bescheidenen Wochenendeinkauf zu erledigen; bescheiden, weil ich nicht weiter vorausdenken kann, vielleicht gar nicht weiter vorausdenken will. Mit fünf säuerlichen Äpfeln Marke Kronprinz, Toastbrot, Nudeln und der Zeitung reihe ich mich ein an der einzigen besetzten Kassa und erkenne die Mitarbeiterin schon von weitem. Eine junge Rothaarige sitzt dort hinter dem transparenten Schutzschild, sie erinnert an die schottische Titelheldin aus dem schönen Pixar-Film, doch sie schultert keinen Bogen, sie ist keine Prinzessin, sie hält „nur“ den Laden, das Land am Laufen. 

Entgegen der Empfehlung zahle ich bar, als ich vor ihr stehe, und bei der Rückgabe des Wechselgeldes berühren sich unsere Hände, nur einen Moment berühren sie sich, doch etwas passiert in dieser Sekunde, sofort löst sich ein Gedanke; ich stelle mir vor, mein eigener Protagonist zu sein, in einer Geschichte, die ich vielleicht nie schreiben werde: Der Held, der natürlich keiner ist, lebt in einer schwierigen, verwirrenden Zeit, er sehnt sich nach Wärme und Nähe, die ihm niemand gibt, und er geht in den Supermarkt, jedes Mal in den gleichen Supermarkt, in der Hoffnung, dort die junge rothaarige Kassiererin zu treffen, die er schon von weitem erkennt, und er bezahlt jedes Mal bar, in dem Wissen, dass sich beim Erhalt des Wechselgeldes ihre Hände berühren werden; er geht jeden Tag in diesen Supermarkt, bei jedem Wetter, er kauft sich Dinge, die er vielleicht gar nicht braucht, vielleicht eine Pixar-DVD, nur um den Moment zu erleben, in dem sich ihre Hände berühren, was für die Kassiererin eine ganz normale Geste darstellt, doch für ihn ist es mehr, diese Sekunde hat Bedeutung, sie berührt ihn, sie hilft ihm durch diese Zeit.

Und er weiß, dass er sich zuerst die Hände waschen muss, wenn er nach Hause kommt, und er tut es, genauso gründlich wie glücklich – die Kassiererin gibt ihm den Grund dazu.