Sonntag, 22. Oktober 2023

Noch ein paar Notizen zur Immersion

Nichts gegen Anglizismen, aber warum müssen wir immer die billigen Wörter übernehmen? Während im Englischen so beflissene, ausgesprochen schöne deutsche Begriffe wie Doppelgänger, Wunderkind, Katzenjammer, Kindergarten oder Weltschmerz übernommen wurden, eignen wir uns im Deutschen bevorzugt nur englisches Event-Vokabular an, knallige, inhaltsarme Begriffe wie etwa den nimmermüden Boom – ständig scheint irgendetwas irgendwo zu boomen (wer in einem bestimmten Jahrzehnt geboren wurde, ist heute sogar selbst ein Boomer) – und abgesehen davon, dass es ziemlich pietätlos wirkt, in Kriegszeiten verbale „booms“ zu verbreiten, macht sich neuerdings auch in der Museumslandschaft ein neuenglischer Knalleffekt bemerkbar: die immersive Erlebnisschau. Klimt bekam eine, dann Monet, irgendwie auch Banksy, und jetzt Frida Kahlo, die surreale Meisterin der schmerzhaften Selbsterkundung, die sich selbst nie als Surrealistin sah.

Zweimal wurde die Ausstellung bereits verlängert, und bevor sie zu Ende geht, statte auch ich ihr einen Besuch ab, an einem verregneten Montagnachmittag, weit außerhalb des Zentrums, in einem sperrigen, backsteinfarbenen Areal, einer Veranstaltungshalle, die nach dem deutschen Kommunismusvater benannt ist und in diesen Tagen für kapitale Einnahmen sorgen soll. Wobei das altbackene Wort „Ausstellung“ hier bewusst vermieden wird, stattdessen ist von einer IMMERSIVE EXPERIENCE die Rede – doch die einzige Erfahrung, die ich an dem Tag mache, liegt im Gefühl der Abzocke: 24 Euro für eine Schau über eine Malerin, in der kein einziges gemaltes Original hängt; was für die Veranstalter natürlich günstig ist, denn wo es nichts zu stehlen gibt, braucht es auch keine Aufsichten, und überhaupt geht es hier nicht um Maltechnik und Struktur, sondern um das Versprechen, in die Werke (die nicht da sind) mit Leib und Seele einzutauchen – ganz immersiv eben. Doch was ist das eigentlich, Immersion?

Eine Stunde später weiß ich sehr genau, was es nicht ist: Es ist keine laute Dauerbeschallung, keine zerfließende Wandprojektion in grober Pixelqualität, kein billiger Jahrmarkttrick und keine inszenierte Fotostation, keine quadratische Insta-Weisheit, kein kunterbunter Mexikokitsch und ganz sicher nicht die deutsche Synchronstimme von Salma Hayek, die mit falschem Akzent Fridas Leidensweg familiengerecht nacherzählt – nein, ich gestehe, ich war schon skeptisch, als mir ein (sonst wenig kulturinteressierter) Kollege von der Erlebnisschau übertrieben vorschwärmte („Einen ganzen Sonntag haben wir mit der Freundin hier verbracht“), doch ein Kunsturteil aus der Ferne ist ein schwaches, also musste ich es selber sehen, um es müde zu bestätigen: Was hier verkauft wird, ist billiger Karneval, ein farbenfrohes, freundliches Fest für 3D-Fetischisten und netzaffine Frida-Fangirls, doch nichts davon, nichts zieht mich wirklich in den faszinierenden, schmerzgeplagten Kosmos einer untröstlichen Weltkünstlerin; ihre Bildmotive werden zwar bewegt, aber sie werden nicht lebendig, denn eine nervöse Wandanimation ist eben keine gespannte Leinwand, kein bemaltes Unikat, in das ich mich vertiefen kann, eintauchen will – der projizierten Vervielfältigung fehlt tatsächlich jene Aura, die Benjamin beschworen hat, und es hilft auch nicht, wenn eine deutsche Sprecherin über Leidenschaft schwafelt, während gezupfte Latin-Klänge jede Stille aussperren, als fürchteten die Veranstalter nichts mehr als das: Ruhe.

Die Stille, die hier fehlt, nimmt mir jedoch jede Möglichkeit, in die eigenen Gedanken reinzuhören – so erzeugt diese Schau am Ende nur das Gegenteil von dem, was sie verspricht: Sie reißt mich immer wieder aus meinem Kunstempfinden heraus und reduziert den Mythos dieser umtriebigen, rätselhaften und gequälten Künstlerin auf ihre populärsten Motive und bekannteste Beziehung, kurzum: sie überrascht nicht, sie verstört nicht. Sie löst nichts aus, sie tut nicht weh.

Und das ist dann doch vernichtend wenig für ein Kultur-Event, dessen Subjekt sich mit keiner Sache so sehr auseinandergesetzt hat wie mit dem eigenen Schmerz. Wollte man den Gästen eine wirklich immersive Erfahrung verschaffen, dürfte man ihnen keine bequemen Sitzsäcke zur Verfügung stellen – sondern enge Stützkorsette.