Freitag, 19. Juli 2024

Nur ein Albtraum?

Borges hatte wieder mal recht – kaum etwas bereitet mehr Vergnügen, als Chesterton zu lesen. Egal, ob ich den dicken Father Brown begleite, wie er in genuiner Gemütlichkeit Verbrechen löst, oder ob ich The Man Who Was Thursday (was für ein Titel) verfolge – immer erzeugt der Autor eine bübische Begeisterung in mir, weil ich in jeder Zeile seine endlose Schreibfreude spüre, die sich sofort überträgt, sich im Gesicht ausbreitet und lange anhält, sogar an schlechten Tagen. Vor allem an schlechten Tagen.

Wie groß Chestertons Freude am Spiel mit seinen Lesern war, zeigt sich am besten in einem Detail – einem Untertitel. Gilbert Keith Chesterton war ein Mann des Glaubens, doch was das Schreiben betraf, glaubte er an keinerlei Grenzen; Kategorien waren ihm zuwider, in allen Genres war er zuhause, er verteidigte den Unsinn in seinen Essays und das Triviale in seinen Kriminalgeschichten; und dann gibt es da noch dieses eigenartige Werk, das Donnerstag war, eine bizarre Agentenfabel um Identität und Paranoia, die so maßlos unterhaltsam und temporeich geschrieben ist, dass man beinah übersehen könnte, wie viel gewitzte Weltanschauung hinter all dem Dynamit steckt. Doch was ist dieser Text eigentlich? Im Listenfetisch meiner Zeit wird The Man Who Was Thursday ganz selbstverständlich als Roman gereiht, doch in der englischen Originalausgabe fehlt der Begriff. Stattdessen steht da ein simpler Untertitel, ein Hinweis, eine Warnung: A Nightmare.

Ein Albtraum, doch ein verdammt vergnüglicher. Allein, auch dieser Wink überzeugt mich nicht, denn dafür ist er zu eindeutig, zu absolut. Ich stelle mir vor, dass Chesterton das wusste; und deshalb ist auch der Untertitel bloß Teil des Plans, des größeren Spiels.

The Man Who Was Thursday ist 1908 auf der Insel erschienen, im gleichen Jahr, als ein Kärntner Künstler am Kontinent seinen einzigen Roman schrieb – aus der größten Krise heraus schuf Alfred Kubin sein Buch Die andere Seite, ein phantastischer Roman, Kultbuch, Hirngewichse (würde man heute sagen), und beide Werke weisen faszinierende Parallelen auf, erzählen gleichermaßen eine surreale Geschichte, die in einem absurden Finale gipfelt, schließlich in sich stürzt, unter Lawinen an Handlungen begraben, bis sich alles als Traum auflöst – doch während Kubins narrischer Erzähler am Ende in die Heilanstalt muss, führt Chestertons Albtraum bei seinem Helden letztlich zu einem erhebenden Gefühl, einer unerklärlichen Leichtigkeit, ähnlich wie ich sie empfinde, wenn ich Chesterton lese.

Und doch ist da noch mehr; denn warum bloß steht der Untertitel diesem Text voran, warum sollte Chesterton schon auf der ersten Seite den Paukenschlag vorwegnehmen, ja, noch betonen, dass es sich bei der Geschichte um doppelte Agenten und drollige Anarchisten „nur“ um einen Traum handle (als wäre ein guter Traum wenig)? Jemand, der so wirksam mit Wendungen und Spannung arbeitete wie er, hätte diese Pointe wohl ungern vorweggenommen – es sei denn, der Hinweis erzählt mehr, als er anzeigt, erzeugt Erwartungen, die er nicht hält; nicht halten will: War das alles wirklich erträumt? Ist der Held am Ende tatsächlich wach oder ist gar der Schlusspunkt die Traumflucht? Und liegt der eigentliche Albtraum nicht ohnehin ganz woanders als in der vordergründigen Handlung?

Betonung macht verdächtig, und der vorangestellte Verweis sorgt unvermeidlich für detektivische Zwangsgedanken; denn natürlich sollte man den Autor nicht immer beim Wort nehmen, und womöglich lockt der Untertitel ganz bewusst auf falsche Fährten, bringt mich überhaupt erst zum hintersinnigen Nachdenken, räumt die Möglichkeit ein, dass hinter der rasanten Traumlogik von Täuschung und Verfolgung noch eine weitere Erzählebene steckt, die sich nicht so einfach und eindeutig zu erkennen gibt, wie es ein unheilschwangerer Untertitel vorzugeben scheint. Der wirkliche Albtraum wäre, wenn sich Bücher in Zukunft nur noch auf eine einzige Art lesen lassen und kein Platz mehr für verspielte Doppeldeutigkeiten bliebe.

Gegen diesen Albtraum hat Chesterton angeschrieben – und zum Glück für die Nachwelt hatte er unendlichen Spaß dabei. 

Freitag, 12. Juli 2024