Ich lese Mankell. Nicht seine Krimis, sondern den Treibsand,
eines seiner letzten Bücher, das Mankell schon im Wissen um die schwere, unheilbare Krankheit niederschrieb, um darin sein Leben festzuhalten. Aber was ist das schon, in der Rückschau, ein Leben? Mit einem Sandbild könnte man
sagen: Leben, das ist, was hängen bleibt, wenn man mit beiden Händen in den
Sand der Erinnerung fasst und nichts mehr durch die Finger rieselt. Diese übrig gebliebenen, geretteten Sandkörner hält Henning Mankell mit offener Hand fest, während der Krebs seine Lungen zerfrisst.
Als Kind hatte Mankell Angst vor Treibsand; mit der
Krankheit, dem Tumor, erinnert er sich zurück an dieses Bild, erlebt die ersten
Wochen nach der Diagnose wie ein langsames, aber unentrinnbares Versinken im
haltlosen Albtraum. Später, nachdem er sich selbst aus der Angst herausgezogen hat, sieht
er im Internet nach und erfährt, dass unser Bild des menschenfressenden
Treibsandes nur ein Mythos ist. Eine Geschichte. Mankells Buch ist voll von
solchen Geschichten. Eine davon führt ihn auch in meine Stadt.
Mankell war vierundzwanzig, noch unbekannt, unvermögend, ein
Schulabbrecher und Tageträumer, als er in einem kalten Winter durch die Kaffeehäuser zog; und dabei, rein zufällig, im Zentrum der Stadt landete und aus verfrorener Neugier eine schwere Pforte öffnet und ehrfurchtsvoll eintritt in die Domkirche St. Stephan. Hier, in dieser
Kathedrale, an einem harschen, freudlosen Wintertag, entdeckt der junge
Schwede zum ersten Mal was wahre Trauer bedeutet: In der Kirchenbank des
Wahrzeichens, eine Reihe vor ihm, sitzt eine schwarze Frau mit schmerzgeballten
Fäusten, sichtbar verzweifelt, aufgelöst, am Ende. Mankell beobachtet sie, er hat Mitleid, versucht, sie
anzusprechen, in dieser und jener Sprache, er will fragen, ob er etwas für sie tun kann, doch es
macht die Frau nur noch unruhiger. Sie steht auf, rennt aus dem Dom, Mankell sieht sie nie
wieder. Und doch bringt ihn diese Unbekannte, diese kurze, kleine, tieftraurige Begegnung zu
der größtmöglichen Einsicht: „Ohne die Erfahrung von Trauer kann wohl kein Mensch
ein vollwertiges Leben führen.“
Vor einiger Zeit saß ich in der Garderobe des Fürstenpalais’
(ich liebe sie, die seltenen, sesshaften Garderobendienste), ich wartete auf
die Gäste und las in den Fiktionen
von Borges. Plötzlich tritt eine Dame im Pelz an den Tresen, ich hatte sie
nicht kommen sehen, war zu vertieft in die Lektüre, lege das Buch hastig weg
und springe hoch, erwarte mir einen abschätzigen Blick – doch die Dame lächelt
mich an, warm und ehrlich, und während sie ihren Mantel auszieht, gratuliert
sie mir: Wie wunderbar zu sehen, dass ein junger Mensch heute noch ein
richtiges Buch liest. Als sie später wiederkommt, um
ihren Mantel abzuholen, gibt sie mir kein Trinkgeld. Die Dame gibt mir etwas sehr
viel wertvolleres: Sie schenkt mir ein Lesezeichen.
Seitdem habe ich es aufgehoben, an meinem Schreibtisch, wie
einen Schatz, eine kostbare, geldlose Erinnerung (alle bedeutenden Erinnerungen
sind geldbefreit), eine, die man nicht ausgeben kann, die einem nicht durch die
Finger geht. Eine Geste, die mir Glauben an die Menschheit schenkt, das Gegenteil von Trauer: Hoffnung. Doch nie habe
ich es benutzt, in den letzten Wochen, Monaten; vielleicht schien es mir allzu
wertvoll, vielleicht waren die letzten Supermarktrechnungen einfach schneller
bei der Hand, ich weiß es nicht. Jetzt lese ich Mankells Lebensgedanken und zum
ersten Mal verwende ich das Lesezeichen, das mir die großzügige, freundliche
Dame im Pelz geschenkt hat. Und ich schließe meine Lektüre nach dem Kapitel des
Kathedralenbesuchs, lege das Lesezeichen zwischen die Seiten und betrachte das
Motiv darauf, als würde ich es das erste Mal sehen: Es zeigt den Ausschnitt
einer größeren Zeichnung, zeigt den aus der Häuserschlucht herausragenden,
spitzkantigen Turm des Wahrzeichens der Stadt, und darunter die Beschriftung: „St.
Stephan, Wien“.
Das ist es, denke ich, das ist eines dieser Zeichen, an die
man glauben kann, ohne religiös zu sein. In diesem Moment, im Blick auf den
Lesezeichenturm, nach der Lektüre des prägenden Dombesuchs, in dieser Sekunde
verbindet sich die Erinnerung an absolute Trauer mit der Erinnerung an das absolute
Glück der kleinen Geste. Dieser unsterbliche Augenblick verbindet die
Erfahrungen und Erinnerungen zweier Menschen, die einander nie kannten und
einander nie treffen werden.