Mittwoch, 20. Mai 2020

Mary Shelleys Titelwahl

Ich lese Frankenstein. Zum ersten Mal lese ich diese barocke, gefühlige, seltsam blumige Horrormär um den modernen Prometheus, der scheitert, scheitert, sehr schlecht scheitert. Es ist ein komisches Gefühl, ein Buch zu lesen, dessen Inhalt sich in der Popkultur längst verselbstständigt hat, es ist, als würde man heute zum ersten Mal den Paten schauen: Man kennt das Werk schon, bevor man es sieht, weil die unzähligen Zitate, Variationen, Anspielungen in der Kulturlandschaft den Inhalt schon vorwegnehmen, und sich beim ersten Schauen bereits an jeder Ecke Wiedererkennungseffekte einstellen. Und dann staunt man verwundert, wenn das Original plötzlich von seinem Kanon abweicht; wenn da gar kein Blitz im Buch ist, wenn man gar nicht explizit erfährt, wie der junge Viktor sein Ungeheuer belebt (ein wunderbarer Kniff der jungen Autorin: sich aus vorgeblicher Angst vor Wiederholungstätern vor der wissenschaftlichen Erklärung des Unmöglichen drücken), wenn das Monster gar nicht grün oder weiß oder kurzhaarig ist und gar keine Schrauben im Hals hat, sondern gelbe Augen und glattes, brustlanges, schwarzes Haupthaar (und dadurch mehr wie ein metallischer Lord der Finsternis wirkt). Vor allem aber staune ich, wie wenig ich trotz allem Vorwissen über die eigentliche Hauptfigur gewusst habe, über die Figur, die der Schauerprosa ihren Titel verleiht. Und selbst dieser führt heute zur Verwirrung, nicht selten zum Irrglauben, bei dem Namen Frankenstein handle es sich um das gemachte Wesen, das sich gegen seinen Schöpfer auflehnt, wie es die unzähligen, nachgezogenen Verfilmungen und Zeichentrickserien suggerieren. Nichts könnte falscher sein.

Denn es scheint einen guten Grund zu haben, warum Mary Shelley ihren Roman nicht „Frankensteins Monster“, sondern eben „Frankenstein“ getauft hat: Es geht in erster Linie nicht um das würgende Flickenwesen, das bewusst namenlos bleibt, es geht um seinen Erschaffer, der es von sich stößt, noch im selben Moment, in dem er sieht, was er vollbracht hat. Shelley war neunzehn, als sie den Frankenstein schrieb, ihr Antiheld ist kaum älter, als er mit Leichenteilen handhabt. Doch wer ist eigentlich dieser Viktor Frankenstein?

Ein hoch gebildeter, junger Mann, fehlgeleitet von den falschen Leitbildern aus überholter Lektüre, besessen von dem Gedanken, tote Materie zurück ins Leben zu holen. Soweit bekannt. Doch er ist auch sehr dumm, dieser Gebildete. Er flieht vor seiner Schöpfung schon beim ersten Anblick, erschrocken von der Hässlichkeit, die er selbst gewählt hat, er flüchtet vor der Kreatur, die noch lange nicht böse ist (die Erfahrung macht sie erst dazu), er wundert sich, wenn seine Familie nach und nach gemeuchelt wird, obwohl er dem Hässlichen seinen einzigen Wunsch nach einer Leichen-Eva verweigert, überhaupt verweigert er die Realität, durchgehend verweigert er sie, ist noch dann überrascht, wenn seine Angetraute in der Hochzeitsnacht erwürgt wird, obwohl der Hässliche es schon Wochen zuvor klipp und klar angekündigt hat – kurzum: In der Figur des Viktor Frankenstein tauchen mehr Ungereimtheiten als in der Bibel auf. Permanent trifft er unverständliche Entscheidungen, hegt einen unbegründeten Hass auf die eigene Schöpfung, bleibt vollkommen unfähig und untätig darin, seine Liebsten zu schützen und den Würger aufzuhalten, es krankt vorne und hinten an jeglicher Konsistenz und Logik im Verhalten dieses endlosen Unsympathisanten. Und genau dieser Punkt, ob bewusst oder unbewusst geschaffen, ist die vielleicht reifste Leistung der jungen Mary Shelley.

In der zentralen Szene im Buch trifft der Schöpfer zum ersten Mal nach Jahren – und dem ersten Mord – auf seine verstoßene Kreatur. In einer verschneiten Berghütte erzählt sie ihm (mit verstörender Eloquenz und unnötiger Detailfreude) ihren verfluchten Werdegang zu dem, was sie immer schon darstellte, in den trüben Augen der Menschen; nach den sturen Regeln der Selbsterfüllung ist sie geworden, was alle in der Kreatur sehen: ein Tier, ein Ungeheuer, ein Unmensch, zu allem fähig. Das Erstaunliche daran ist, ich kann den Unmenschen in jedem Moment verstehen. Ich kann seine Beweggründe, sein Verhalten jederzeit nachvollziehen, besser und klarer nachvollziehen als jeden einzelnen Gedanken seines weinerlichen Schöpfers. Denn dieser Viktor Frankenstein ist ein irrationaler, inkonsistenter Mann, der seine Familie untätig ins Verderben stürzt und sich bis zum Schluss noch darüber wundert, wie ein argloses, sadistisches Kind, das einer Fliege die Flügel ausreißt und sich dann fragt, warum sie nicht mehr fliegt.

Deshalb die Verwirrung um den Titel, der so perfekt gewählt ist: Weil Frankenstein das eigentliche Monster ist, auch wenn es nach außen hin eine schöne, studierte Menschengestalt aufweist. Die Verdrehung von Macher und Monster, sie ist der wahre Reiz an diesem Werk, unter dessen sprachlicher Blumenwiese die erdige Erkenntnis bleibt: Ich verstehe eine gallige, gelbäugige Leichenkreatur besser als den Menschen, dieses mysteriöse, abwegige, so selten nachvollziehbare Wesen.