Freitag, 23. Oktober 2020

Der Ungestresste

Er kennt die Dachgeschosse, Keller, Heizkessel, Wartungsräume und Lüftungszentralen aller Museen, Palais und Auktionshäusern der Stadt; er kennt sie inwendig, er kennt sie auswendig; er installiert, er wartet, er prüft, er zertifiziert seit 45 Jahren, sorgt seit 45 Jahren sorgt, dass es im Winter warm und im Sommer nicht heiß bleibt. Und niemals, nie hat er sich in all der Zeit gestresst; höchstens am Anfang, in den ersten zwei, drei Jahren, und auch dann nur, wenn der Kunde versagte, falsche Angaben lieferte (immer scheitert es an der Kommunikation).

Er trägt Schnauzbart, ein blaues Firmenkapperl und einen Bauch vor sich, er verzichtet nie, niemals auf seinen obligaten, furchtbaren Automatenkaffee (er besteht darauf, dass ich auch einen nehme), er kommt nie in Hektik, er schwitzt nicht, muss nie überziehen. Er war bei der Feuerwehr, hat Jahrzehnte im Chor gesungen. Er redet gerne und viel, aber niemals schnell. Ob man zuhört oder nicht, ist ihm egal, er redet, wovon er reden kann, und das genügt. Und egal, was er sagt oder macht, er tut es gemächlich, bedächtig fast, mit stoischer Miene unter dem Schnauzer, so als hätte er nie gelernt, es eilig zu haben. Wut und Frust kennt er nicht, maximal Schmäh. Er verlacht Dilettanten, doch er beschimpft sie nicht. Er hat eine klare, einfache, vollkommene Philosophie, er lebt eine Lehre, die er in 45 Dienstjahren aufgestellt, verfestigt, verinnerlicht hat, und er teilt sie mit der Firmenaufsicht, mit mir, er weiht mich in sie ein, heute, jetzt, nach seiner letzten Lüftungswartung, während draußen vor der Tür die verwirrte Masse stündlich gereizter und gestresster unter ihren Masken keucht: „Stress hast nur, wenn dich nicht auskennst.“  

In fünf Wochen geht er in Pension. Der Gedanke liegt nahe, dass er sich auch darin sehr gut auskennen wird.