Sonntag, 8. November 2020

Fünf vor Sechs

Jeder, der jemals in Aufsicht oder Handel gewerkt hat, kennt ihn: den Typ Mensch, der immer fünf Minuten vor der Schließung kommt, der nur noch kurz einen Blick riskieren möchte, der sich dreimal sagen lässt „Wir schließen jetzt“, bevor er sich, höchst widerwillig, zum Ausgang bewegt, und dabei immer, immer, noch einmal stehenbleibt, um sich nur noch kurz dieses eine Bild anzusehen, nur noch ein Foto zu schießen, ganz schnell, natürlich, und vielleicht noch ein Blick auf die Uhr: Sie schließen doch erst in einer Minute. 

Letzten Samstag, im Auktionshaus: eine Dame kommt in die Schaustellung, die Zwischentüren schließen bereits. Sie fragt nach einem Künstler, nie gehört, ich verweise sie an den Katalog im Netz, leider, wir schließen schon. Ob sie nicht noch eine Runde gehen dürfe, sagt sie hartnäckig, sie wäre schließlich viel zu lange bei dem Schmuck hängengeblieben, der sie ja gar nicht interessiere. „Tut uns leid, wir schließen.“ Und ob bei den Möbelstücken nicht etwas Asiatisches dabei ist, fragt sie weiter, schielt an mir vorbei in die Ausstellung, ob sie nicht noch einen Blick riskieren könne. Ich bin versucht, mit ihr zu diskutieren, schließlich retten mich meine Kollegen: „Wir haben schon zu. Kommen Sie Montag wieder.“ Die Worte fallen wie die Tür ins Schloss, die Dame wendet sich wortlos ab, eine Beschwerde ist zu erwarten; ihr Menschentypus liebt Beschwerden.

Immer und immer wieder stoße ich auf diesen Typus, auf diese Damen und Herren, die das Prinzip der Öffnungszeiten nicht verstehen oder akzeptieren wollen, weil sie einfach nicht verstehen oder akzeptieren können, dass man für sie keine Ausnahmen macht. Es müssen Menschen sein, denke ich, die selbst nie an unserer Stelle waren, die niemals in ähnlicher Position gearbeitet haben wie eine Aufsicht; die Worte „Wir schließen jetzt“ empfinden sie als eine Art persönliche Anfeindung, eine Beleidigung, die speziell und ausschließlich gegen sie gerichtet ist, und sie können nicht nachvollziehen, können einfach nicht begreifen, warum wir nach acht Stunden in den schwarzen, durchgeschwitzten Dienstschuhen nicht noch ein paar Minuten für sie dranhängen. Weil sie nie in unseren Schuhen gestanden sind.

Es ist der Mangel an Erfahrung, der zu einem Mangel an Respekt führt. Nicht zu wissen, wie es ist, nach einem langen, ausgestandenen Tag nach Hause zu wollen, in der letzten Stunde schon jede Minute zu zählen, weil die Kniescheiben knirschen, der Magen knurrt, die Unfähigkeit, sich in eine Aufsicht hineinzuversetzen, die mit allerletzter Freundlichkeit zum Ausgang bittet, sie ist das Kennzeichen aller, die um fünf vor Sechs noch einmal durch die Ausstellung wollen, die alles immer in letzter Minute wollen; nur nicht gehen. Hätten diese Menschen nur einen einzigen ganzen Tag im Museum, im Schauraum, im Dienstanzug verbringen müssen, dann wären sie bereits ein anderer. Dann würden sie vielleicht verstehen (respektieren), dass vor den finalen Minuten viele Stunden standen, dass keine unnötige Strenge, kein persönlicher Affront in den Worten „Wir schließen“ steckt, und vielleicht, vielleicht würden sie dann in Zukunft sogar rechtzeitig kommen, um fünf Minuten vor der Zeit zu gehen. Von selbst. Aus Respekt.

Natürlich, die Hoffnung darauf ist gering. Was bleibt, ist die Möglichkeit, an ihrem Beispiel mich selbst zu prüfen: es ihnen nicht gleichzutun, wann immer ich privat durch Museumsräume, Buchhandlungen, Supermarktregale streife. Aus Respekt vor denen, die den Laden am Laufen halten, bis zum Schluss. Nicht länger.