Freitag, 5. März 2021

Fragment eines Museums der Zukunft (II)

Seit einem Jahr schon hat sich der Massentourismus erledigt. Die Bilder aus dem Museum, in dem eine finnische Kollegin vom Andrang erdrückt wird, liegen nur vierzehn Monate zurück und wirken doch wie aus einer fernen Zeit, selbst schon museal, historisch, Relikte einer vergangenen Epoche, ausgestellt, um nicht vergessen zu werden. Die Gegenwart bittet um Abstand von diesen Bildern, und zum ersten Mal, da wird er wirklich eingehalten, da wird er nicht nur von ein paar Aufsichten gefordert, sondern von einer Pandemie. Aufsichten kann man ignorieren, die Weltlage nicht. Früher schrieben die Tourismustempel und Kunstschlösser ständige Rekordzahlen mit Rekordausstellungen, heute erfrieren die Rekorde im Minusbereich: Schließungen, Verluste, Verschiebungen. Wiedereröffnung, Wiedervertröstung.

Es ist der erste Freitag im März, es regnet, möchte schneien, und ich läute an der Tür zu einer Galerie. Ich gehe die Stufen hoch, in den Mezzanin, betrete die Ausstellung, nach Ewigkeiten wieder einmal privat in einem Kunstspeicher, doch dieser hier ist leer, wie ausgeraubt; ich bin der einzige Besucher, niemand sonst hat sich hierher verirrt (auch ich nur, weil ich einen dezenten Zeitungsbericht nicht übersehen habe), doch das ist nicht die Überraschung. Die Pointe ist, auch die Wände in dieser Ausstellung sind leer. Zahnarztweiß und unbehängt, wohin ich blicke – nur ein einziges Werk hängt hier, schwebt kommentarlos über dem Boden: eine lebensgroße schwarze Leinwand, ein absoluter, schwerer Monolith aus Dunkelheit, zerfurcht und zerkratzt wie eine teure Karosserie von wütenden Schlüsselbünden.

Der Galerist, der mich hineinließ, fragt, ob ich es verstanden, ob ich schon eine Idee hätte. Ich weiß nicht, was er meint, blicke auf die Leinwand, will angestrengt etwas darin suchen, bis mich der gute Mann endlich aufklärt: die schwarze Leinwand ist keine Leinwand – es ist eine aufgespannte Kuhhaut. Die Furchen und Risse hat nicht die Künstlerin gezogen, es sind Narben von den Weidezäunen. Die geschwärzte Haut, auf die ich starre, ist ein Mängelexemplar, ausgestellte Ausschussware, aussortiert von der zähen Lederindustrie (die nur zehn Prozent aller abgezogenen Kuhhäute auch wirklich verwendet, wie ich erfahre). Keine Ausstellung, sagt der Galerist, nur ein Moment der Ruhe soll es sein, ein Stellvertreterbild zum Verweilen und Versinken. Kontemplation.

Und vielleicht ist es genau das: Eine Ausstellung, die keine Ausstellung sein will, die nur ein einziges Bild zeigt, um zu zeigen, was alles nicht gezeigt werden kann, weil es abgesagt, vertröstet, verschoben werden musste, ein trockenes Fellstück, während die Welt vor die Hunde geht, um anzudeuten, worum es gehen könnte, sollte, vielleicht müsste; ein Borgesgedanke im Keilrahmen, ein Bild, das alle Bilder umfasst: das Universum auf einer Kuhhaut.

Kehlmann hat einmal gemeint, in einer perfekten Welt würden alle Schriftsteller vielleicht nur ein einziges Buch schreiben, und mit dem wäre dann alles gesagt. Ich stelle mir diesen Gedanken für die Kunstwelt vor, stelle mir vor, alle Künstler würden ihr Leben lang nur noch an einem einzigen Bild arbeiten, und auf dem wäre dann alles enthalten. Und in allen wiedereröffneten Ausstellungen dieser Welt wären dann nur noch diese einzelnen, absoluten Lebensbilder enthalten, die man ein Leben lang betrachten könnte. Und den Anfang hätte Anneliese Schrenk gemacht, die Künstlerin, die ich heute entdecken durfte. Mit einem dunklen, vernarbten Stück Restleder, in dem ein ganzes Leben steckt.

Oder wenn ich genauer nachdenke: mehrere.