Freitag, 10. Dezember 2021

Eine Weihnachtsgeschichte

Es gibt Traditionen, die werden mit bedingungslosem Willen aufrechterhalten, selbst wenn die Erde stillsteht. Am ersten Freitag im Dezember wird der Christbaum in der Sala Terrena des Fürstenpalais aufgestellt, weil er hier jedes Jahr aufgestellt wird, weil es immer so gemacht wurde, weil es Tradition ist, selbst wenn niemand ins Haus darf, um den Baum zu bestaunen; er muss stehen. Die Tradition gibt Struktur, der Baum gibt Halt, und selbst die größten Skeptiker der Menschheit können schwer leugnen, dass sie nicht etwas brauchen, woran sie sich festhalten können.

In diesen Tagen ist es der Tannenbaum, der gefällt wurde, um errichtet zu werden, um seine Nadeln im Warmen zu behängen und ein paar Wochen später zu entsorgen. Zwei kräftige Männer tragen den Baum, der wortwörtlich ins Netz gegangen ist, stellen ihn in eine Vorrichtung neben dem Haupteingang, wie jedes Jahr, und öffnen das Fangnetz – und in dem Moment geschieht das Unerwartete, aus dem dichten Nadelkleid der meterhohen Naturinstallation springt eine Maus; eine flinke, weiße, nicht gar so kleine Maus, die sich im Baum versteckt oder verirrt hatte, sie springt heraus und wetzt über die glatten Marmorfliesen. Woher kommt sie, wohin will sie – für die beiden Fragen ist kein Platz in der Geschichte, denn die beiden Männer, die den Baum errichtet haben, reagieren schnell. Sie rennen der Maus hinterher, die zu ihrem Unglück in eine Ecke läuft, und treiben sie in die Enge. Einer von ihnen bückt sich, ballt die Faust und erschlägt den Eindringling; es braucht zwei Schläge (nicht einen: zwei), um das Mäuschen zu töten. Was vor wenigen Sekunden noch ein Nagetier war, ein kleines, pelziges Lebewesen, ist jetzt nur noch ein blutverschmiertes Stück Fell.

Der Mann, der die Maus so abgeklärt erschlagen hat (es wirkt nicht so, als hätte er es zum ersten Mal getan), packt den Kadaver am Schwanz und entsorgt ihn in der Mülltonne neben dem Haus. Dabei hinterlässt das Tier eine tropfende Blutspur, um auch nach dem Tod noch Ärger zu machen. Sofort kommen die beiden Reinigungsdamen auf Befehl und schrubben den Marmor; eine beträchtliche Zeit schrubben sie an den blutroten Flecken, die sich so schwer entfernen lassen, egal, ob sie von Mäusen oder Menschen stammen. Im Alten Testament wurden Verträge noch mit Tierblut beschlossen, um wasserfesten Handel zu betreiben – weil selbst ein Tropfen roter Mäusesaft dicker ist als Wasser.

Es dauert, dauert an diesem Dezembertag, bis alle roten Schlieren am Bodenmarmor beseitigt sind, damit nichts mehr von dem Baum ablenkt, den niemand bestaunt. Nur draußen vor der Tür, da finden sich noch – wenn man ganz genau hinsieht – ein paar schwache, kleine Kleckse am kalten Stein der Vorterrasse. Es sind die letzten Spuren einer Unbekannten, sie schimmern schwach im zarten Rot, bis der erste Schnee fällt und auch sie verwischt.