Sonntag, 31. August 2025

Nach der Reifeprüfung

Es gibt einen kurzen Dialog in Mike Nichols The Graduate, eine sehr unscheinbare, nebensächliche Bemerkung, die man leicht überhören könnte, in der aber ein ganzes, verborgenes Leben steckt: Benjamin und Mrs. Robinson liegen im Bett, und der junge Student fragt die gelangweilte Ehefrau, mit der er eine Affäre pflegt, was damals ihr Hauptfach am College war. Kunst, antwortet Mrs. Robinson, was Benjamin völlig überrascht. „I guess you kind of lost interest in it over the years, then“, sagt der Jungspund, der nichts kapiert. „Kind of“, wiederholt Mrs. Robinson müde – und in diesen zwei Worten liegt alles, ihr banales Schicksal, ihre Reue, die gesamte Bitterkeit eines Lebens, das nie der Plan war.

Kind of, klar, natürlich war es das Kind, das ihr in die Quere gekommen ist, die Geburt der Tochter, in die sich der Held des Films verlieben wird, obwohl (oder gerade weil) Mrs. Robinson alles daran setzt, um die Verbindung zu verhindern; die ungeplante Geburt ihrer Tochter Elaine hatte einst verhindert, dass aus Mrs. Robinson womöglich eine ledige, unabhängige Künstlerin geworden wäre, und der Film braucht nur einen knappen und beiläufigen Dialog, im Grunde bloß zwei Worte, um aus der zynischen und verbitterten Verführerin eine tragische Existenz mit verhinderten Träumen zu machen. Kind of.

Charaktere leben über ihr Werk hinaus, und kaum ein Film vermittelt das besser als The Graduate, die filmische Reifeprüfung eines jungen Theaterregisseurs, die bis heute nichts an Relevanz und Frische verloren hat. Für die Akteure eines Films zählen immer die Hintergründe der Figuren, heißt es, die phantomhafte Backstory, doch es ist der geteilte Blick in die Zukunft, die letzten zwei, drei Sekunden, die The Graduate zum Meisterwerk machen – wenn die Kamera in der allerletzten Einstellung eine Spur zu lange auf die Gesichter von Benjamin und Elaine hält, dann mischt sich ins sture Glück plötzlich noch ein Zweites, ein aufkommendes, ängstliches Begreifen: Was nun? Im finalen Sound der Stille liegt die Melancholie des Ungewissen, die leise Ahnung, das Schwerste noch vor sich zu haben. Deshalb sind die Charaktere des Films so glaubhaft: Sie beenden die Geschichte nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage; der ungestellten Frage, ob die beiden es miteinander schaffen und was aus ihnen wird. Doch daneben schlummert noch eine weitere Frage in der Handlung, eine, die mich immer wieder beschäftigt hat: Was wird aus Mrs. Robinson?

Bevor der Film beginnt, bevor sie Mutter, Hausfrau, Alkoholikerin wurde, da hat sie sich für Kunst begeistert, nicht sehr lange, aber doch. Vielleicht liebte sie die Surrealisten (ich glaube, sie hätte Magritte gemocht) und vielleicht blätterte sie im Lesesaal durch ein  Kunstbuch und stieß darin auf ein Bild, sagen wir, Die Vergewaltigung von Magritte, ein Gesicht ohne Sinne, in das ein weiblicher Akt eingemalt wurde – Brüste statt Augen, Scham statt Lippen – ein grauenvoll starkes Bild, das sie im Innersten erschüttert hätte, und jetzt, Jahrzehnte später, wo die Tochter mit dem Falschen weggelaufen ist, wo sie niemanden mehr hat (außer ihren Gatten, den sie schon lange nicht mehr will), da stelle ich mir vor, dass Mrs. Robinson wieder an dieses gewaltige Bild denkt. Jetzt, nach Ende des Films, würde sie vielleicht sogar von diesem Bild träumen, dass sie einst am College so erregt hatte, und womöglich, da würde sie tatsächlich mit dem Malen beginnen. Mit dem Alkohol und den Zigaretten würde sie natürlich nicht aufhören, im Gegenteil, doch sie hätte die Scheidung endlich hinter sich und würde auf ihre späten Tage den jugendlichen Traum, das eigentliche Leben nachholen, das sie für ihre Tochter geopfert hatte. Sie hätte nicht mehr viel Zeit, sie würde am Alkohol oder am Krebs zugrunde gehen (womöglich an beidem), sie wäre mittellos, erfolglos, unangesehen, doch das machte ihr nichts, weil sie ihre Bilder im Grunde nur für sich selbst malte, für ein Lebensende ohne Kompromisse.

Nach ihrem Tod würden sämtliche Gemälde an ihre Tochter gehen, stelle ich mir vor, und in diesen Bildern steckte die späte, posthume Versöhnung zwischen Tochter und Mutter, von der im Film nur die irre Fratze einer alten Märchenhexe übrigblieb. Diese pure, einseitige Aggression in ihrem finalen Blick, wenn sie begreift, dass die Tochter sich für das Ungewisse entscheidet, fand ich immer schon befremdlich. Blicken wir rückwärts in die Zukunft, wird klar, dass sehr viel mehr in dieser Figur steckt: Wir müssen uns Mrs. Robinson nicht bloß als zynische, verbitterte Verführerin vorstellen, als Projektion, als Song, als ödipalen Fetisch. Wir können sie auch als das denken, was das Werk nicht zeigt.

Es sind gerade die unausgelebten Möglichkeitsformen dieses Nebencharakters, die mir nahe gehen: Höre ich in The Graduate an einer kurzen, beiläufigen Stelle nur ganz genau hin, dann verstehe ich den Schmerz dieser Frau, die wir nur als eheliche Anrede kennen, ich begreife ihren Zorn, ihre Apathie, und will ihr zumindest eine Zukunft schenken, die ihr ganz allein gehört.

Sonntag, 10. August 2025

Die unerwünschte Person

Sie ist jung, klein, witzig; schwarze Locken, helle Stimme, die Diensthose immer eine Spur zu kurz, ihre Gestik fein, sicher, pantominenhaft, sie trägt die Aura, die Präsenz eines Stummfilmstars – clownesk, aber nicht tollpatschig, herzlich, aber aufrichtig. Kurzum: es ist unmöglich, sich nicht über einen Dienst mit ihr zu freuen.

Ganz besonders heute, Anfang August, als ich sie nach Wochen wiedersehe, lebendig und heil, so herzlich, so quirlig, dass mir die Traurigkeit nicht sofort auffällt. Sie war im Heimaturlaub, wenn man es so nennen kann, denn sie ist Ukrainerin, und zum ersten Mal seit Beginn der Vollinvasion wollte sie die Eltern besuchen – das heißt, sie hätte es schon früher wollen, natürlich, doch Putins Truppen ließen es nicht zu: ihre Eltern leben im besetzten Süden des Landes, mussten sich den fremden russischen Pass aufzwingen lassen, können nicht in die freie Ukraine reisen. Sie wiederum kann nicht einfach so aus der Ukraine in die Besatzungszone rein, kann die Eltern nur (wenn überhaupt) über Umwege besuchen, muss ein absurdes persönliches Risiko eingehen, über Belarus nach Moskau reisen, sie hofft, von dort aus in die besetzte Zone zu gelangen, ihre Eltern, ihren Hund, ihr Kinderzimmer, alles wiederzusehen, was sie so abrupt hinter sich lassen musste.

Doch in Moskau hält man sie auf; der Pass wird ihr kurzzeitig abgenommen, das Handy durchsucht, schließlich wird sie abgewiesen und zurückgeschickt: eine junge, kleine, witzige Ukrainerin, die im Westen lebt, in „Gayropa“, wie der Russe sagt, sei eine unerwünschte Person. Keine weiteren Gründe, Erklärungen, wozu auch, ein Regime braucht keine Erklärungen, sie kann froh sein, dass sie nicht verhaftet wird, oder schlimmer noch: verschwindet (wie viele andere vor ihr). Zumindest, sagt sie mir heute, es ist ihr erster Dienst, seit sie zurück im Land ist, zumindest konnte sie ihre Mutter dennoch für ein paar Tage treffen – nicht zuhause, aber in einem Hotel in der Türkei. Sie konnte sie wiedersehen, doch kaum wiedererkennen – nach dreieinhalb Jahren auf erzwungener Distanz, dreieinhalb Jahren unter brutaler Besatzung, da war ihre Mutter alt geworden. Die Augen müde, leer, fremd für die eigene Tochter, wie sie mir monoton, beinah beiläufig erklärt. Und erst jetzt, beim nächsten Blickwechsel, sehe ich auch endlich die Anstrengung, die Traurigkeit im Gesicht der Kollegin, das tiefe Begreifen, zur unerwünschten Person gemacht worden zu sein, aus dem Kindheitsspeicher ausgegrenzt zu werden, all die Willkür und Hoffnungslosigkeit, die darin mitschwingt.

Es ist Sommer, August, es ist immer noch Krieg, und demnächst trifft der selbsternannte König von Amerika den selbsternannten russischen Zar, um über besetzte Gebiete zu verhandeln, die ihnen beide nicht gehören, während hier in meiner Stadt keiner mehr weiß, keiner wissen kann oder will, was Besatzung eigentlich bedeutet – außer Menschen wie der kleinen, mutigen Kollegin mit den zu kurzen Hosen, die heute weitaus mehr durchstehen muss, als nur einen weiteren Aufsichtsdienst.

Besatzung, sagt die Aktivistin und Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwitschuk, bedeutet keinen Frieden; sie ist nur eine andere Form von Krieg. Manchmal genügt ein Blickwechsel, um das zu verstehen.