Sie ist jung, klein, witzig; schwarze Locken, helle Stimme, die Diensthose immer eine Spur zu kurz, ihre Gestik fein, sicher, pantominenhaft, sie trägt die Aura, die Präsenz eines Stummfilmstars – clownesk, aber nicht tollpatschig, herzlich, aber aufrichtig. Kurzum: es ist unmöglich, sich nicht über einen Dienst mit ihr zu freuen.
Ganz besonders heute, Anfang August, als ich sie nach Wochen wiedersehe, lebendig und heil, so herzlich, so quirlig, dass mir die Traurigkeit nicht sofort auffällt. Sie war im Heimaturlaub, wenn man es so nennen kann, denn sie ist Ukrainerin, und zum ersten Mal seit Beginn der Vollinvasion wollte sie die Eltern besuchen – das heißt, sie hätte es schon früher wollen, natürlich, doch Putins Truppen ließen es nicht zu: ihre Eltern leben im besetzten Süden des Landes, mussten sich den fremden russischen Pass aufzwingen lassen, können nicht in die freie Ukraine reisen. Sie wiederum kann nicht einfach so aus der Ukraine in die Besatzungszone rein, kann die Eltern nur (wenn überhaupt) über Umwege besuchen, muss ein absurdes persönliches Risiko eingehen, über Belarus nach Moskau reisen, sie hofft, von dort aus in die besetzte Zone zu gelangen, ihre Eltern, ihren Hund, ihr Kinderzimmer, alles wiederzusehen, was sie so abrupt hinter sich lassen musste.
Doch in Moskau hält man sie auf; der Pass wird ihr kurzzeitig abgenommen, das Handy durchsucht, schließlich wird sie abgewiesen und zurückgeschickt: eine junge, kleine, witzige Ukrainerin, die im Westen lebt, in „Gayropa“, wie der Russe sagt, sei eine unerwünschte Person. Keine weiteren Gründe, Erklärungen, wozu auch, ein Regime braucht keine Erklärungen, sie kann froh sein, dass sie nicht verhaftet wird, oder schlimmer noch: verschwindet (wie viele andere vor ihr). Zumindest, sagt sie mir heute, es ist ihr erster Dienst, seit sie zurück im Land ist, zumindest konnte sie ihre Mutter dennoch für ein paar Tage treffen – nicht zuhause, aber in einem Hotel in der Türkei. Sie konnte sie wiedersehen, doch kaum wiedererkennen – nach dreieinhalb Jahren auf erzwungener Distanz, dreieinhalb Jahren unter brutaler Besatzung, da war ihre Mutter alt geworden. Die Augen müde, leer, fremd für die eigene Tochter, wie sie mir monoton, beinah beiläufig erklärt. Und erst jetzt, beim nächsten Blickwechsel, sehe ich auch endlich die Anstrengung, die Traurigkeit im Gesicht der Kollegin, das tiefe Begreifen, zur unerwünschten Person gemacht worden zu sein, aus dem Kindheitsspeicher ausgegrenzt zu werden, all die Willkür und Hoffnungslosigkeit, die darin mitschwingt.
Es ist Sommer, August, es ist immer noch Krieg, und demnächst trifft der selbsternannte König von Amerika den selbsternannten russischen Zar, um über besetzte Gebiete zu verhandeln, die ihnen beide nicht gehören, während hier in meiner Stadt keiner mehr weiß, keiner wissen kann oder will, was Besatzung eigentlich bedeutet – außer Menschen wie der kleinen, mutigen Kollegin mit den zu kurzen Hosen, die heute weitaus mehr durchstehen muss, als nur einen weiteren Aufsichtsdienst.
Besatzung, sagt die Aktivistin und Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwitschuk, bedeutet keinen Frieden; sie ist nur eine andere Form von Krieg. Manchmal genügt ein Blickwechsel, um das zu verstehen.