Donnerstag, 6. Februar 2020

Die Frau ohne Eigenschaften

Die Anekdote ist bekannt: ein verschmitzter Künstler (sein Name blieb nicht hängen) schickt ein anonymes Manuskript an einen renommierten Verlag, wird abgelehnt und stellt damit den Betrieb bloß; das Manuskript war ein Auszug aus Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Es ist eine gute Anekdote, eine, die man immer wieder erzählen, mit der man auftrumpfen kann; sie ist nur völlig falsch. Ihr Inhalt mag stimmen, aber nicht ihre Pointe: nicht der Betrieb stellt sich bloß, sondern nur der Künstler.

Niemanden kann es interessieren, wenn die Kunst ihre Vorläufer kopiert. Ein Zögling, der pausenlos den Lehrer zitiert, sagt nie etwas Eigenes. Er sagt, was wir schon wissen, er überrascht nicht, und was nicht überrascht, ist keine Kunst. Zu glauben, als Unbekannter Musil kopieren zu können und abgeschmettert zu werden, erzähle irgendetwas über den Betrieb, das bedeutet, nichts verstanden und Musil nicht gelesen zu haben (also: nicht genau gelesen). Niemand würde heute verlegt werden, würde er oder sie heute genauso wie Robert Musil schreiben. Was einfach daran liegt, dass es Musil schon gibt.

Umberto Eco, der größte Leser nach Borges, hat das am schönsten hervorgekehrt  in einem späten Vortrag über das Verhältnis von den alten Riesen und den Zwergen, die auf ihren Schultern sitzen, dabei weiter sehen. Dieses märchenreiche Bild der Generationen geht zurück auf einen französischen Platoniker des zwölften Jahrhunderts, Bernhard von Chartres, ein Mann des Mittelalters, Freund der Sprache, der seinen Schülern vorwarf, „dass sie die antiken Autoren sklavisch kopierten, und sagte, die Herausforderung sei nicht, genauso zu schreiben wie sie, sondern von ihnen zu lernen, wie man genauso gut schreibt wie sie, damit die nach uns Kommenden sich an uns orientierten, so wie wir uns an den Vorfahren orientierten.“ Bernhards Bemerkung sei folglich (nicht weniger als) ein „Appell an die Autonomie und den Mut zur Innovation.“

Man könnte auch Emanzipation sagen, denn natürlich muss man Robert Musil kennen, um nicht Musil sein zu wollen – aber genauso gut. Ohne Eltern kann man nicht gegen sie rebellieren. Ohne Vorbilder kann man sie auch nicht hinter sich lassen. Ohne Homer kein Bloomsday, ohne Antike kein Jugendstil.  Der Sohn muss sich vom Vater abnabeln, er muss riskieren, verachtet zu werden, weil er sich abnabelt, nicht anders kann. Bernhards Bild der Riesen und Zwerge (Väter und Söhne), das Eco bis zur Postmoderne dupliziert, fehlt nur noch dieser kleine, doch entscheidende Hinweis: Die Zwerge auf den Schultern der Riesen sehen nicht bloß weiter, sie sehen anders.

Rubens’ fleischige Venus wurde einmal als zellulitische Beleidigung des Auges betrachtet, heute muss ich sie im Palais vor Fotos schützen. Monets stille Impressionen machten einmal schreiend und aggressiv, heute zieren sie Kalender und Bettwäsche. Niemand wird als Riese geboren, und niemand weiß, wie groß er einmal wird. Auch Monet und Rubens und Musil und alle anderen Riesen waren einmal Zwerge, die bloß anders sahen; ihr Blick stieß vor den Kopf, und nur deshalb blieben sie im Gedächtnis; nur deshalb wurden sie genauso gut wie ihre Vorfahren. Weil sie überraschten. Weil sie Verachtung in Kauf nahmen, anstatt Verjährtes aufzuwärmen.

Und was für die Söhne gilt, gilt natürlich auch für die Töchter. Ich kann Mann, ich kann Musil heute nicht genauso empfinden, wie sie in ihrer Zeit empfunden werden mussten, aber ich kann mich an ihnen orientieren, um von ihnen wegzukommen. Niemand fragt nach einem zweiten Mann ohne Eigenschaften; aber vielleicht, vielleicht schreibt einmal jemand Die Frau ohne Eigenschaften, vielleicht sieht jemand so weit und so differenziert, dass er oder sie ein genauso großes, größenwahnsinniges Projekt angeht, das sich in einer angstfreien, neuen, überraschenden Sprache von dem eigenschaftslosen Mann emanzipiert, den es benötigt, um von ihm loszukommen. Nur dann würden sich die  Kommenden vielleicht an dieser Frau ohne Eigenschaften orientieren. Nur dann würde es etwas erzählen, wenn der Betrieb sie einst abgeschmettert hätte.