Dienstag, 11. Februar 2020

Nicht normal


Normal ist gefährlich, lese ich jeden Tag, wenn ich im Untergrund auf die Bahn warte, auf der Werbefläche zwischen fernöstlicher Küchenempfehlung und Abtreibungshilfe; es ist die Kampfansage einer neuen Universität für Design und sonstiges, und natürlich ist sie ein Witz, aber einer, der trotzdem etwas auslöst, mich zum Nachdenken zwingt: Normalität, was ist das? Eine Konvention? Kulturgut? Jedenfalls ein Paradox: jeder möchte besonders sein, aber niemand will als nicht normal gelten. Oder nicht?

Ich erinnere mich an einen Moment; eine Sekunde im Museum, die nicht normal war. Es ist schon Monate her, ein Jahr vielleicht, ich stehe in dem winzigen, kalten Schmuckkästchen auf Abruf, einer meiner seltenen Dienste im diesem Haus, dort, wo wir zu zweit ein ganzes Objekt bewachen, eine Haupt- und eine Nebenausstellung, letztere gerade eröffnet, ein offener weißer Raum für junge Kunst von der Uni, monatlich wechselnd; eine wunderbare, einzigartige Plattform (die es heute nicht mehr gibt) für aufstrebende, lokale Künstler und Künstlerinnen, eine erste Chance, in der Szene Fuß zu fassen und Hände zu schütteln.

Wie immer ist nichts los, wie immer finden keine Massen in die versteckte kleine Wunderkammer hinter dem Rathaus. Ich sitze an der Kassentheke, nippe am Kaffee und helfe bei der hausinternen Sisyphusarbeit, Kulturberichte aus einem nicht enden wollenden Zeitungsberg zu schneiden, da betritt eine junge Frau das Museum. Sie ist klein, aber nicht unscheinbar, trägt das brünette Haar kurz, weil es ihr steht, wirkt stilbewusst, aber nicht exaltiert. Ich stehe auf, sie kommt in Begleitung, wird von ihr vorgestellt: sie ist die Künstlerin. Die Nebenausstellung, es ist ihre.

Sie tritt auf mich zu und streckt die Hand aus; ich ergreife sie, sage meinen Namen. Und dann passiert etwas, das ich normalerweise nicht erlebe. Etwas, das aus dem Rahmen der Begrüßung fällt, auf den unnormierten, warmen Grund der Freiheit: Wir schütteln die Hände und sie sieht mich an, sie sieht mir in die Augen, doch sie tut es eine Sekunde länger als gewöhnlich. Und es genügt: diese eine Sekunde, sie ist der Unterschied, die Alltagsstörung, die mir die Künstlerin schenkt, die mich überrascht und überfordert. Wie sie eine unsichtbare Aufsicht mit ehrlichen, interessierten Augen ansieht, nur einen Moment zu lange, um ihn nicht nicht empfinden zu können, wie alle Male sonst, wo der blinde Handschlag sofort in Vergessenheit gerät. Normalerweise.

Doch dieser eine, eine Spur zu lange Blick der jungen, stillen, unprätentiösen Künstlerin, dieser offene, zart freundliche Blick, ihn kann ich nicht vergessen; er bleibt hängen, weil er nicht normal ist, weil wir einander normalerweise nur kaum bis gar nicht ansehen. Wirklich von jemandem gesehen zu werden, das ist so irritierend, so erfrischend, so ungewöhnlich, dass es weh tut. Und es ist ein wundervoller, stiller, kleiner Schmerz, ein überraschender Nadelstich durch die angestaute Hornhaut der Normalität.

Ich weiß bis heute nichts über die Künstlerin, habe sie nie wieder gesehen; doch ihr zu langer Blick an diesem Tag, wie sie mich angesehen hat, diese eine, ungewöhnliche Sekunde habe ich bis heute vor Augen, sehe sie wieder im Dunkeln, nach Monaten, vielleicht einem Jahr. 

Und das, denke ich, kann einfach nicht normal sein; wirklich nicht.