Sonntag, 7. Juni 2020

Das Richtige im Falschen

Es gibt Dinge, die gehen über den Verstand. Die Perspektivmalerei zum Beispiel. Heute stehe ich in der Galerie 3 im Fürstenschloss, einsam, und bewache den Notausgang (wie das klingt: einen Notausgang bewachen). Das Haus ist so einsam wie ich, die Veranstaltungen stehen weiter aus, nur zwei Arbeiter im Erdgeschoss, die im Bodenmarmor Steckdosen verstecken, hinterm Notausgang Spachtelmasse mischen; deshalb die Aufsicht. Deshalb ich.

Der Raum, in dem ich stehe, ist quadratisch, mein Blick steigt zur Decke: über mir erstreckt sich ein Fresko auf schwach gewölbtem Stein, das die Illusion einer Kuppel erzeugt. Durch aufgemalte Säulen, Tore, Arkaden und Nischen, in denen Madonnen und Soldaten von Puttis umflogen werden, soll sich ein dreidimensionaler Effekt einstellen – eine Tiefe, wo keine ist. Quadratura sagt der Italiener zu dem, das ich nicht begreifen kann. Stehe ich exakt im Zentrum und blicke nach oben, ist das Bild perfekt, erscheint jedes Detail im idealen Maß; bewege ich mich, weiche vom Zentrum ab, bewegt sich das Bild mit mir – gemalte Säulen biegen sich, nackte Beine wachsen an, Römer schrumpfen, Gesichter verzerren sich, ihre Ausdrücke. Das Motiv wird fluide mit jedem Schritt, fließt vor meinen Augen auseinander, wie in einem Trip; zurück im Zentrum ist es wieder vollkommen.

Alles in diesem Deckenbild, jeder Strich, jeder Punkt, jeder Gedanke ist nach dem Zentrum ausgerichtet. Jeder Winkel muss stimmen, damit die Illusion perfekt ist – und hier schaltet mein Verstand ab. Denn  das Bild stimmt nur von hier unten, weil es von hier gesehen werden will; aber dort oben, wo es gemacht wurde, kann es nicht stimmen, muss völlig unproportional, verkürzt, verzogen sein. Der Künstler musste so malen; er musste wissen, dass es nur dann perfekt sein wird, von dort betrachtet, wo ich jetzt stehe. Hier, im Zenit, ist es richtig. Dort, im Prozess, ist es falsch. Der Künstler muss also bewusst die falschen Proportionen wählen, er muss da vorstehende, nackte Knie der Madonna bewusst zu kurz malen, damit es aus meiner Sicht richtig aussieht (und er muss es blind tun: im Gegensatz zur Leinwand fehlt ihm die Möglichkeit zum Abstand).

Der Freskomaler, der Meister der Quadratura, muss das Falsche einberechnen, es minutiös planen, sich dafür entscheiden, alles Gelernte an der Decke umzuwerfen, damit es am Boden stimmt – was er erst mit der Vollendung wissen konnte. Handwerk ist das eine, das andere ist unendliches Vertrauen in das Falsche, blind, verzerrt zur Meisterschaft zu finden. Um über meinen Verstand und in die Annalen einzugehen, über meinem Kopf, außerhalb der Zeit.

Das, denke ich, ist der Unterschied zwischen Leben und Kunst: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, doch es gibt richtige, wahre, große Kunst, die nur über das Falsche führt.