Mittwoch, 17. Juni 2020

Zwischenfälle

Im Museum muss man auf alles vorbereitet sein – jemand hat mir das mal gesagt, so ein Unsinn. Ich bin nie auf alles vorbereitet, kann es gar nicht sein, und selbst wenn ich es wäre, könnte ich im Moment niemals so sein wie in der Vorbereitung, weil die Realität sich nie an meine Vorstellungen hält. Jede Not, jede Tragödie, alle guten Geschichten entstehen doch überhaupt nur, weil etwas passiert, auf dass jemand nicht vorbereitet war.

Es ist ein Freitag, an dem ich eine weitere Führung durch die Fürstensammlung begleite, eine Routinearbeit, dutzende Male durchgegangen, ohne Zwischenfälle, immer mit der militärischen Meldung; keine besonderen Vorkommnisse. Die Gruppe heute umfasst fünfundzwanzig Gäste, die Kunstvermittlerin geht voran, ich bilde das Schlusslicht, halte die Gruppe zusammen, wie immer, passe auf, dass in den privaten Prunkräumen jeder und jede auf dem roten Teppich bleibt, der über drei Millimeter dünnem, unbezahlbaren Thonetparkett verlegt ist. Er ist schmal, der Teppichpfad, zieht die Gruppe in die Länge, macht es mir schwer bis unmöglich, alle im Auge zu behalten. Zu viele Menschen auf zu wenig Raum, das gewohnte Bild. Doch an diesem Tag stimmt etwas nicht mit diesem Bild, tritt plötzlich ein Fehler ein, auf den mich nichts, niemand vorbereitet hat. 

Ich verlagere meinen Stand auf die Schuhspitzen und überblicke die Köpfe vor mir. Plötzlich löst sich ein Kopf aus der Masse, verlässt die Gruppe und bewegt sich in den nächsten Raum, das fürstliche Schreibzimmer, bewegt sich wankend, aber zielgerichtet auf den eschenbraunen Schrank zu, bleibt nicht stehen, wird schneller, schneller, ein Krach, ein Aufprall, ich stehe hilflos hinter den Körpern, der Blick versperrt von der Gruppe, ich bin zu spät, wie immer.

Sekunden später, die Gruppe aufgelöst, zerstreut, im Schreibzimmer liegt eine Frau, die Brille völlig verbogen, wie in einem Comic, ich blicke zum Schrank – im Eschenbraun der Zierleiste ein Kratzer auf Augenhöhe, ein Kratzer in einem der wertvollsten Bücherschränke des Planeten, die Frau am Boden umringt, wir helfen ihr auf, sechs Hände lagern sie, ihre Beine sinken wieder ein, sie bleibt am Boden sitzen. Über Funk fordere ich den Portier an, bücke mich hinunter zu der Benommenen, da hält mich die Kunstvermittlerin an, völlig aufgelöst, überfordert. „Jetzt haben wir noch ein Problem“, sagt sie, und hat nichts verstanden, „einer der Gäste ist ohne Aufsicht auf Toilette gelaufen!“

Manchmal, denke ich, selten, aber doch, verhält sich das Leben wie in einer von Daniil Charms skurrilen kurzen Fall-Geschichten. Das Groteske, Wahnwitzige tritt dann ganz selbstverständlich in den Alltag und konfrontiert mich mit einer akuten absurden Situation, auf die ich nicht vorbereitet bin, es nicht sein kann, weil sie aus dem Bühnendunkel springt, ohne auf ihren Einsatz zu warten. Selten, aber doch, lässt sich ein Zwischenfall dann so beschreiben, als hätte Charms ihn geschrieben: „Da ging einmal eine Gruppe Kunstinteressierter durch ein Museum. Plötzlich nahm eine Alte ihre Beine in die Hand und rannte – zack! – mit den Brillengläsern gegen einen Schrank. ‚Verrückte Brille!’ dachte Semjulkov und lief augenblicklich auf Toilette.“

Selten, aber doch, wirft mich etwas völlig abrupt aus meiner Routine oder meinen Gedanken und mitten in die Überforderung eines traumartigen Falls, der normalerweise nicht eintritt. Der Portier hat die Dame schließlich abgeholt, an die frische Luft gebracht, sie erholte sich schnell, trank einen Schluck, ihre Brille blieb schief. Der Herr von der Toilette kam brav wieder zurück. Der Kratzer am Schrank wurde gemeldet und notiert. Die Führung beendet, die Prunkräume geschlossen, mein Dienst getan.

Das alles geschah vor zehn Monaten. Der Kratzer ist noch da; und ich denke immer noch an diesen einen Moment, als sich die Frau von der Gruppe löst und geradeaus gegen den Schrank läuft, immer noch erscheint mir dieser Moment, dieser charmssche Zwischenfall vor Augen, wenn ich die nächste Freitagsführung durch das Schreibzimmer begleite. Bis heute versuche ich zu begreifen, warum sie es getan hat, denke darüber nach, wie ein Schwächeanfall, eine Beklommenheit einen Menschen dazu führt, mit schnellen, immer schnelleren  Schritten – zack! – gegen starres Mahagoni zu rennen.

Es gibt keine befriedigende Antwort darauf; nur die Sicherheit, dass so ein Zwischenfall wieder eintreffen wird, weil das Unwahrscheinliche, Groteske, der absurde Fall, auf den sich niemand vorbereiten kann, im Leben einfach vorkommt. Selten, aber er kommt vor.