Sonntag, 28. Januar 2024

Das alte Fräulein

Es gibt Momente, Privilegien in der Museumsaufsicht, die für all die schweren Beine und leichten Lohnzettel entschädigen; etwa zu dem ersten und winzigen Personenkreis zu gehören, der eine echte Sensation bestaunen darf – so zumindest wird die Presse sie nennen, die schöne Verschollene, die an einem Donnerstagvormittag Ende Jänner im barocken Ballsaal präsentiert wird.

Über hundert Jahre galt das Gemälde der jungen Dame als verschwunden, und hier, heute darf ich es exklusiv bewachen und bewundern, bevor es unter den Hammer und in das nächste Wohnzimmer eines anonymen Millionärs gelangt: völlig überraschend kam die Ankündigung eines hiesigen Auktionshauses, in einer Villa am Rande meiner Stadt sei es wieder aufgetaucht, das Fräulein Lieser, eines der letzten Werke Gustav Klimts, von dessen Existenz bisher nur ein einziges, hundert Jahre altes Schwarzweißfoto zeugte. Der Zustand des Gemäldes: hervorragend. Seine Hintergründe: verworren. Weder ist eindeutig geklärt, wer dem Malerfürsten den Auftrag gab, noch wen dieses Fräulein tatsächlich darstellt. Es könnte die Tochter eines jüdischen Industriellen sein (ein gewisser Adolf Lieser), es könnte genauso gut eine Tochter seiner kunstaffinen Schwägerin (Henriette Lieser) sein, die im Zweiten Weltkrieg deportiert und ermordet wurde. Was mit dem Bild in dieser Zeit geschah, ob es (wie so viele) von den Nazis geraubt wurde, ist nicht bekannt – weil nichts aus der Zeit bekannt ist. Schon sehr bald nach Klimts Tod haben sich die Spuren verlaufen, die Aufzeichnungen erschöpft, bis der Name „Fräulein Lieser“ erst Jahrzehnte später in einem Werkkatalog von 1967 wieder auftaucht. Doch das Bild selbst blieb im Dunkeln. Bis jetzt.

Zwanzig Monate, wird der Geschäftsführer des Auktionshauses später bei der Pressekonferenz erzählen, so lange hätte man nach Lichtquellen in den dunkelsten Kapiteln gesucht, doch bei aller Recherche sei man auf keine Anzeichen eines Verbrechens, einer möglichen Enteignung gestoßen. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein brauner Elefant neben einem Klimtgemälde im Raum steht; die prominente Lücke in der Provenienz verdeutlicht wieder nur einen Umstand, der im Rekordsummenspiel des Kunstmarktes oft verdrängt wird: die Kunstgeschichte ist auch eine Kriminalgeschichte – nach Menschen- und Drogenhandel rangiert Kunstraub auf Platz 3 der lukrativsten Weltverbrechen, habe ich in der Einschulung gelernt – und kein Werk verschwindet einfach so; es wird heimlich entwendet oder gewaltvoll gestohlen, wird verschleppt, verhökert oder verbrannt, beizeiten zerschnitten, übermalt, verworfen und vergessen, oder, nicht selten, da verstaubt es einfach nur am Dachboden eines zufälligen und achtlosen Erben. Wenn es dann wieder auftaucht, wird es gefeiert wie ein gelöster Fall, ein Überlebender, der allzu lange als verschollen galt. Eine Sensation.

Heute blicke ich auf diese wiederentdeckte Sensation, auf das weiße, schneewittchenhafte Gesicht unter kohlschwarzem Haar, die geäpfelten Bäckchen, ihre müden Augen, ermattet von zu langem Schlaf, doch je näher ich ihr komme, desto klarer und wacher scheint ihr Blick auf einmal, jugendlich herausfordernd, direkt, aber gelassen, ja, beinah mühelos wirft sie die Jahrzehnte ab, diese selbstbewusste Unbekannte, das unvollendete Fräulein im farbenfrohen Blumenmantel (die anskizzierten Hände bleiben für immer ein Graus), das sich plötzlich in einem vergoldeten Raum voller Lärm und Leute wiederfindet, ein Anblick, der aus Sicht der Verschollenen ein Rätsel bleiben muss: an einem lieblos gedeckten, langen Tisch sitzen fünf Personen, die sie nicht kennt, noch nie gesehen hat, und die fachsinnig und akustisch kaum verständlich über ihr so famoses Schicksal fabulieren, während Mikrofone gereicht und geschoben werden und zu spät gekommene Journalistinnen und Medienvertreter über den knarrenden Parkettboden steigen und später die Fragen bemühen, die nicht klar beantwortet werden können, um sich schließlich nach belegten Salzstangen und Kaffee umzudrehen, anstatt in ihre jugendlichen Augen zu blicken, die ewig jugendlichen Augen eines hundertsiebenjährigen Fräuleins.

Wie kann ich ihr nur erklären, dass sie heute dreißig bis fünfzig Millionen wert ist?