Freitag, 19. Januar 2024

Museum der verworfenen Ideen

Es hat zweiundvierzig Räume; in jedem einzelnen ist ein Fragment ausgestellt, ein Werk, das niemals fertiggestellt, ein Gedanke, der nie zu Ende geführt wurde. Es versammelt Ideen aus mehreren Ländern und Epochen, seltsame, skurrile, mitunter lauwarme Ideen, die aus unterschiedlichen Gründen niemals umgesetzt oder vertieft, zuletzt verworfen wurden. Was von ihnen übrig blieb, kann bei freiem Eintritt betrachtet und belächelt werden; nur der letzte Raum des Museums ist versperrt, hinter einer dunkelgrünen, massiven Eisentür bleibt sein Inhalt den Besuchern vorenthalten.

Jeden Abend geht der Nachtwächter seine Abschlussrunde durch das Museum und überprüft, ob alle Gäste draußen sind, alle Ideen unbeschädigt und der letzte Raum wie immer versperrt. Dann schließt er die Eingangstore und schaltet das Licht in der Ausstellung ab, setzt sich in seine kleine und warme Loge und vertreibt sich die Nacht zwischen den Kontrollgängen, indem er alte Taschenbücher durchliest, die er in Stiegenhäusern oder öffentlichen Bücherschränken findet. Er liest Schauergeschichten, Kriminalfälle, Reiseliteratur und die zahllosen, unvermeidlichen Heimatromane eines Johannes Mario Simmel, bis er über den vergilbten Seiten einzunicken droht und sich mit dünnem Kaffee und ein paar Tabakpausen an der kalten Nachtluft bis zum nächsten Morgen rettet.

Wochen, Monate und Jahre zieht der Nachtwächter seine immergleichen Runden durch die dunklen Museumsräume, prüft und schützt die verworfenen Ideen in den einzelnen Räumen; manchmal scheint ihm, dass die Exponate mit der Zeit wachsen und sich wandeln, doch in Wahrheit ist es nur sein Blick, der sich verändert, der ihrem Scheitern etwas hinzufügen will, was nicht da ist. Mit zunehmender Unruhe rüttelt er jede Nacht an der dunklen und massiven Eisentüre des letzten Raumes, um sich zu vergewissern, dass er auch verschlossen ist; und jedes Mal wird die Frage zwingender, was hinter der Tür steckt und warum der Raum nicht ein einziges Mal geöffnet wurde, seitdem er hier ist. 

Eines Abends, als er wieder seine Runde macht, kann er die Neugier nicht mehr halten; er stellt sich vor die Tür des letzten Raumes, fasst nach dem schweren Schlüsselbund, der an seiner Uniform hängt, und probiert dutzende Schlüssel durch, bis tatsächlich einer passt und sich das Schloss bewegt. Er drückt die Metallklinke langsam zu sich, er muss seine ganze Kraft aufwenden, um die massive Tür zu öffnen; dann betritt er den letzten Ausstellungsraum, wischt sich den Schweiß aus der Stirn und schaltet das Licht ein. Der Raum ist leer. Er macht ein paar Schritte hinein, blickt von einer arktisweißen Mauer zur anderen, da glaubt er, auf der Wand gegenüber etwas zu erkennen. Er kommt näher, ganz nah an die Wand und starrt den hellen, frischen Verputz an: auf Bauchhöhe hängt ein winzig kleines Hinweisschild, wie das Titelblättchen eines Exponats; der Nachtwächter bückt sich und betrachtet die schnörkellosen schwarzen Letter, die ihn schaudern lassen: auf dem Schild steht sein eigener Name.

Erschrocken, verwirrt, überfordert wankt der Nachtwächter zurück in die Mitte des Raumes, direkt unter das Licht; die Beine werden ihm plötzlich ganz steif, aus seinen blassen Händen fährt das Blut; und er begreift, dass auch er nur ein Exponat, dass auch seine Existenz nur eine verworfene Idee ist.