Donnerstag, 23. Mai 2024

Der Rattenfänger, neu erzählt

Eines Tages kam ein Fremder in eine kleine, unauffällige, für nichts besonders bekannte Stadt und bot den Bewohnern seine Hilfe an. Er hatte gehört, dass die Stadt schon seit geraumer Zeit unter einer Plage litt – Ratten hatten sich in rauen Mengen breit gemacht, und die Bewohner (die den Aberglauben nicht scheuten), sahen darin ein dunkles Vorzeichen, vielleicht einen Fluch, sie beteten dagegen an, doch es half nichts.

Der Fremde, ein Nagetierexperte, sah dagegen die Gefahr einer Seuche und bat um Erlaubnis, sich um die Ratten zu kümmern. Die Bewohner waren skeptisch (sie waren gegenüber allem Fremden skeptisch), doch in ihrer Not willigten sie ein und versprachen dem Mann eine reiche Belohnung, sollte er die Nager tatsächlich aus der Stadt bekommen.

Ohne Zeit zu verlieren, machte sich der Fremde an die Arbeit, er holte sein Instrument aus dem Koffer und bediente die Tasten. In jahrelanger, akribischer Forschung hatte er herausgefunden, dass die Nagetiere auf eine bestimmte Tonfolge hypnotisch ansprachen und ihrer Quelle folgten; das Lockinstrument war mit Lautsprechern an seinem Wagen verbunden, und so gelang es, sämtliche Ratten auf die Ladefläche zu treiben und aus der Stadt zu führen, in ein weit entferntes Forschungszentrum, wo ihr Verhalten weiter untersucht wurde.

Als der Fremde zurück in die Stadt kehrte, um sich seine Belohnung abzuholen, schlug ihm jedoch nur Ignoranz und Ablehnung entgegen. Dass er die Bewohner und ihre Kinder vor einer Epidemie bewahrt hatte, schien kein Mensch mehr zu glauben. Auch an eine versprochene Belohnung wollte sich niemand mehr erinnern, und diese technischen Spielereien des Fremden wolle man hier nicht noch mal sehen. Nach Meinung der Bewohner wäre die Plage von ganz allein weggegangen, da sie lange und fest genug dafür gebetet hatten.

Der Fremde war entsetzt; die Leugnung aller Tatsachen, die kollektive Lüge, der fehlende Dank, das alles erschauderte ihn. Und in dem Moment verstand er, dass die Stadt verloren war. Wer in so einem Klima aufwuchs, hatte keine Aussicht, keine Chance auf ein gesundes, aufgeklärtes Leben. Er dachte an die armen Kinder, ihre Zukunft, er war besorgt. Und er beschloss, zumindest sie zu retten, vor den eigenen Eltern, denen nicht mehr zu helfen war.

Wochen später, als die Bewohner in der Vorbereitung für das alljährliche Fest steckten und sich niemand um die Kinder kümmerte, kam der Fremder wieder und versprach den Kleinen, sie von hier fortzuschaffen. Heimlich brachte er so viele von ihnen wie möglich auf die Ladefläche seines Wagens und fuhr sie aus der Stadt, brachte sie in eine sichere, weit entfernte Einrichtung, wo man sich liebevoll um sie kümmerte, und nach und nach ans Licht kam, was in der Stadt zu lange verborgen blieb.

Der Fremde war danach nicht mehr gesehen. Es heißt, er litt unter dem Wissen, dass er nicht alle retten konnte; denn ein paar Kinder blieben in der Stadt zurück; sie waren bereits blind und taub für jede Hilfe, und unvermeidlich würden sie das Verhalten ihrer Eltern übernehmen, würden es den eigenen Kindern weitergeben, und auf ewig würde die Stadt kaputt und verlogen und skeptisch gegenüber allem Fremden bleiben.