Mittwoch, 19. Juni 2024

Die falschen Schlüsse

Die Sonne scheint, immer noch, auf nichts Neues. Es ist Juni, ich sitze mit Beckett auf einer Holzbank im Park hinter dem Museum und warte, bis mein Dienst beginnt. Ich habe mich in den Park hingesetzt, in der naiven Freude und Hoffnung, hier in Ruhe lesen zu können, ungestört, bei guter Luft; ich habe kein Kapitel geschafft, da passiert es schon.

Ein älterer Mann kommt vorbei, fragt, ob er sich neben mich setzen darf, was ich nicht ablehnen kann. Um zu verdeutlichen, dass ich weiter lesen möchte, drehe ich den Körper ein paar Grad zur Seite, hebe unbewusst das Buch an, doch es ist zu spät. Der Mann fragt, was ich da lese, ich nenne Titel, Autor, und fühle mich aus irgendeinem Grund verpflichtet, ein paar erklärende Worte zum Inhalt auszuführen, obwohl ich weiß, dass es den Mann nicht interessiert, er gar nicht zuhört, denn es ist der klassische Einstieg, um auf sich selbst überzuleiten, er könne auch ein ganzes Buch schreiben, sagt er und macht diese Handbewegung, er hätte Geschichten zu erzählen, und natürlich erzählt er sie mir, ungefragt und ausführlich; obwohl, eigentlich, da erzählt er sie sich selbst. 

Der Mann ist heute (so sagt er es) stolzer und zufriedener Pensionist, blickt heute zurück auf ein reiches Leben: über dreißig Jahre war er Frachtpilot, hat nebenbei ein halbes Vermögen mit Immobilien gemacht, rechtzeitig verkauft und seinen zwei Söhnen aus zwei Ehen jeweils ein Haus auf einer spanischen Insel geschenkt, ihre Zukunft gesichert in diesen unsicheren Zeiten, sie machen gute Ausbildungen, aus beiden wird was werden. Der Mann wirkt mit sich im Reinen, als er davon erzählt, er hat abgeschlossen mit der Arbeit, mit den Frauen, genießt ohne Geldsorgen die Rente, den Lebensabend, genießt seine eigene Geschichte. Doch dann geschieht das Seltsame: unvermittelt entgleitet seine Erzählung in eine nostalgische Verbitterung, die sich zunehmend aggressiv gegen das Heute richtet: heute wäre es ja völlig unmöglich, so zu fliegen, wie er früher geflogen sei, die unzähligen Vorschriften, Regelwerke und Sicherheitsstandards dieser EU machen heute jeden Spaß am Fliegen zunichte, und überhaupt, die Frauen heute! – was er in seiner Pilotenzeit für Abenteuer mit den Frauen hatte, das sei heute vollkommen unmöglich, heute denken die Frauen nur an sich selbst, ausnehmen wollen sie dich und dein Geld verprassen, und überhaupt findest du heute keine mehr, mit der du einfach Spaß haben kannst, so wie früher, denn früher, da wollten sie noch … Aus dem ursprünglichen Bedürfnis, sich mitzuteilen, die Einsamkeit des Alters wegzureden, entblößt sich plötzlich eine absurde Wut gegen die Welt, die der Mann neben mir offensichtlich nicht mehr versteht – nicht verstehen will – und deshalb tut, was man in meinem Land am besten kann: ziel- und folgenlos zu schimpfen.

Als er dann ebenso abrupt noch gegen die NATO wettert und Putins Propaganda wiederkäut, da verabschiede ich mich zur Arbeit, war selten so froh, den Dienst vor mir zu haben, doch wenn ich noch mehr Zeit, mehr Mut gehabt hätte, wollte ich dem Mann auf der Parkbank etwas erwidern, das ihn – vielleicht – für einen Moment zum Schweigen gebracht hätte; denn das absolut bizarre an seiner bitteren Suada, denke ich später, war, dass dieser Mann auf der Parkbank sein eigenes, unfassbares Glück nicht sehen konnte – er hat finanziell aus- und vorgesorgt, hat zwei Kinder in Sicherheit, ist ohne Schaden durch Pandemie und Krise gekommen, muss nicht vor dem Krieg flüchten; und dennoch glaubt er (spürt er), heute in der schlechtesten aller Welten zu leben, dabei scheint die Sonne noch immer auf den gleichen Spielball, und die einzige Sache, die der Mann nicht akzeptiert, ist die verdammte Dauer des Spiels: in der verzerrten Wahrnehmung, dass früher alles besser war, liegt in Wahrheit nur der Schmerz, dass alles früher war; ein erstes Mal lässt sich nicht wiederholen, ein junger Körper nicht zurückbringen; Alter heißt Abschied, und wer ist schon gut im Verabschieden?

Es ist bitter und schwer, zu akzeptieren, dass sich die Spielzüge des Lebens nicht wiederholen lassen – doch es sind die völlig falschen Schlüsse, die der Mann aus seiner Spielzeit gezogen hat, die unumstößlich dazu führt, dass der Typ heute am Rand sitzt, und zwar allein, weil er sich dafür entschieden hat; frei nach dem Schutzpatron des schlechten Geschmacks, John Waters: ein junger wütender Mann ist attraktiv, ein alter wütender Mann ist ein Arschloch.

Wäre bei dem Mann auf der Parkbank die Dankbarkeit über das Gewesene größer als die Bitternis über das Fortschreiten der Zeit, dann müsste er vielleicht keine Selbstgespräche mit Aufsichten führen; dann würde sich vielleicht noch mal jemand zu ihm auf die Bank setzen.