Donnerstag, 22. Mai 2025

Der Bücherfreund

Die Geschichte flog mir zu (wie man so sagt), während eines langen Spazierganges an einem kühlen, unaufgeregten, seltsam farblosen Tag, vielleicht April, vielleicht schon Mai, ich denke in letzter Zeit wieder weniger an den Kalender (ein gutes Zeichen?); der Bücherfreund ist ein nicht mehr ganz junger Mann, dessen Leidenschaft darin besteht, sich Bücher besorgen – „sammeln“ ist der falsche Begriff – er besorgt sie sich, wo immer er hinkommt, er kann nicht durch die Stadt spazieren, ohne an den offenen Bücherschränken stehen zu bleiben, kann nicht vor den Schränken stehen, ohne ein Buch zu entnehmen; alle Buchhändler, jede Verkäuferin kennt ihn, überall hat er schon eingekauft, er schafft es nicht, an einer Buchhandlung vorbeizugehen, ohne ein Buch zu kaufen. Er ist nicht reich, aber bescheiden, er kauft keine Kleidung, keine Aktien, keine Chemie, er kauft nur Bücher.

Seine Freunde, Kollegen, die Nachbarn kennen ihn nur mit einem Buch in der Hand, nie verlässt er die Wohnung ohne einem Werk (ohne mehrere Werke), immer hat er etwas zu lesen dabei. Was jedoch niemand weiß, was er (vielleicht unbewusst) wie ein furchtbares Geheimnis hütet: Der Mann hat nie gelernt zu lesen. Stundenlang kann er in einem Buch blättern, sich mit den Werken beschäftigen, die gedruckten Seiten anstarren – doch er versteht sie nicht. Er ist ein Bücherfreund, der nicht lesen kann.

Eines Tages fällt sein Geheimnis auf; augenblicklich verlieren die Leute den Respekt vor ihm; was sie früher bewunderten, stößt sie auf einmal ab, sie finden ihn jetzt hirnrissig, skurril, er macht ihnen Angst. Sie fangen an, ihn zu meiden. Eltern mit Kindern wechseln die Straßenseite, wenn sie dem Bücherfreund begegnen, alte Freunde wenden sich von ihm ab (sie tun es nicht aggressiv, sondern sanft, sie melden sich seltener, finden Ausreden, sind sehr beschäftigt). Doch der Bücherfreund lebt weiter wie bisher, er ändert sich nicht – warum auch – er kauft weiter seine Bücher, liebt und hegt sie, die schönsten und aufwendigsten Werke, sein Zimmer quellt über vor tausenden von Büchern, die er niemals alle lesen kann; weil er nicht lesen kann.

Was aber niemand, nicht einmal seine ersten Freunde, die letzten Verwandten begreifen wollen: Er ist nicht arm, nicht einmal hirnrissig. Er weiß, dass seine Bücherliebe absurd ist, doch es stört ihn nicht, hat ihn nie gestört. Im Gegenteil: Er liebt seine Bücher nicht obwohl, sondern weil er sie nicht versteht. Und vielleicht (denke ich, jetzt, am Ende dieser Geschichte, am Ende eines Spazierganges im Mai oder April), vielleicht ist das sogar die Bedingung, die stille Voraussetzung jeder wahren und tief empfundenen Liebe: Sie nicht verstehen, sie niemals vollständig begreifen zu können.