Sonntag, 31. August 2025

Nach der Reifeprüfung

Es gibt einen kurzen Dialog in Mike Nichols The Graduate, eine sehr unscheinbare, nebensächliche Bemerkung, die man leicht überhören könnte, in der aber ein ganzes, verborgenes Leben steckt: Benjamin und Mrs. Robinson liegen im Bett, und der junge Student fragt die gelangweilte Ehefrau, mit der er eine Affäre pflegt, was damals ihr Hauptfach am College war. Kunst, antwortet Mrs. Robinson, was Benjamin völlig überrascht. „I guess you kind of lost interest in it over the years, then“, sagt der Jungspund, der nichts kapiert. „Kind of“, wiederholt Mrs. Robinson müde – und in diesen zwei Worten liegt alles, ihr banales Schicksal, ihre Reue, die gesamte Bitterkeit eines Lebens, das nie der Plan war.

Kind of, klar, natürlich war es das Kind, das ihr in die Quere gekommen ist, die Geburt der Tochter, in die sich der Held des Films verlieben wird, obwohl (oder gerade weil) Mrs. Robinson alles daran setzt, um die Verbindung zu verhindern; die ungeplante Geburt ihrer Tochter Elaine hatte einst verhindert, dass aus Mrs. Robinson womöglich eine ledige, unabhängige Künstlerin geworden wäre, und der Film braucht nur einen knappen und beiläufigen Dialog, im Grunde bloß zwei Worte, um aus der zynischen und verbitterten Verführerin eine tragische Existenz mit verhinderten Träumen zu machen. Kind of.

Charaktere leben über ihr Werk hinaus, und kaum ein Film vermittelt das besser als The Graduate, die filmische Reifeprüfung eines jungen Theaterregisseurs, die bis heute nichts an Relevanz und Frische verloren hat. Für die Akteure eines Films zählen immer die Hintergründe der Figuren, heißt es, die phantomhafte Backstory, doch es ist der geteilte Blick in die Zukunft, die letzten zwei, drei Sekunden, die The Graduate zum Meisterwerk machen – wenn die Kamera in der allerletzten Einstellung eine Spur zu lange auf die Gesichter von Benjamin und Elaine hält, dann mischt sich ins sture Glück plötzlich noch ein Zweites, ein aufkommendes, ängstliches Begreifen: Was nun? Im finalen Sound der Stille liegt die Melancholie des Ungewissen, die leise Ahnung, das Schwerste noch vor sich zu haben. Deshalb sind die Charaktere des Films so glaubhaft: Sie beenden die Geschichte nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage; der ungestellten Frage, ob die beiden es miteinander schaffen und was aus ihnen wird. Doch daneben schlummert noch eine weitere Frage in der Handlung, eine, die mich immer wieder beschäftigt hat: Was wird aus Mrs. Robinson?

Bevor der Film beginnt, bevor sie Mutter, Hausfrau, Alkoholikerin wurde, da hat sie sich für Kunst begeistert, nicht sehr lange, aber doch. Vielleicht liebte sie die Surrealisten (ich glaube, sie hätte Magritte gemocht) und vielleicht blätterte sie im Lesesaal durch ein  Kunstbuch und stieß darin auf ein Bild, sagen wir, Die Vergewaltigung von Magritte, ein Gesicht ohne Sinne, in das ein weiblicher Akt eingemalt wurde – Brüste statt Augen, Scham statt Lippen – ein grauenvoll starkes Bild, das sie im Innersten erschüttert hätte, und jetzt, Jahrzehnte später, wo die Tochter mit dem Falschen weggelaufen ist, wo sie niemanden mehr hat (außer ihren Gatten, den sie schon lange nicht mehr will), da stelle ich mir vor, dass Mrs. Robinson wieder an dieses gewaltige Bild denkt. Jetzt, nach Ende des Films, würde sie vielleicht sogar von diesem Bild träumen, dass sie einst am College so erregt hatte, und womöglich, da würde sie tatsächlich mit dem Malen beginnen. Mit dem Alkohol und den Zigaretten würde sie natürlich nicht aufhören, im Gegenteil, doch sie hätte die Scheidung endlich hinter sich und würde auf ihre späten Tage den jugendlichen Traum, das eigentliche Leben nachholen, das sie für ihre Tochter geopfert hatte. Sie hätte nicht mehr viel Zeit, sie würde am Alkohol oder am Krebs zugrunde gehen (womöglich an beidem), sie wäre mittellos, erfolglos, unangesehen, doch das machte ihr nichts, weil sie ihre Bilder im Grunde nur für sich selbst malte, für ein Lebensende ohne Kompromisse.

Nach ihrem Tod würden sämtliche Gemälde an ihre Tochter gehen, stelle ich mir vor, und in diesen Bildern steckte die späte, posthume Versöhnung zwischen Tochter und Mutter, von der im Film nur die irre Fratze einer alten Märchenhexe übrigblieb. Diese pure, einseitige Aggression in ihrem finalen Blick, wenn sie begreift, dass die Tochter sich für das Ungewisse entscheidet, fand ich immer schon befremdlich. Blicken wir rückwärts in die Zukunft, wird klar, dass sehr viel mehr in dieser Figur steckt: Wir müssen uns Mrs. Robinson nicht bloß als zynische, verbitterte Verführerin vorstellen, als Projektion, als Song, als ödipalen Fetisch. Wir können sie auch als das denken, was das Werk nicht zeigt.

Es sind gerade die unausgelebten Möglichkeitsformen dieses Nebencharakters, die mir nahe gehen: Höre ich in The Graduate an einer kurzen, beiläufigen Stelle nur ganz genau hin, dann verstehe ich den Schmerz dieser Frau, die wir nur als eheliche Anrede kennen, ich begreife ihren Zorn, ihre Apathie, und will ihr zumindest eine Zukunft schenken, die ihr ganz allein gehört.

Sonntag, 10. August 2025

Die unerwünschte Person

Sie ist jung, klein, witzig; schwarze Locken, helle Stimme, die Diensthose immer eine Spur zu kurz, ihre Gestik fein, sicher, pantominenhaft, sie trägt die Aura, die Präsenz eines Stummfilmstars – clownesk, aber nicht tollpatschig, herzlich, aber aufrichtig. Kurzum: es ist unmöglich, sich nicht über einen Dienst mit ihr zu freuen.

Ganz besonders heute, Anfang August, als ich sie nach Wochen wiedersehe, lebendig und heil, so herzlich, so quirlig, dass mir die Traurigkeit nicht sofort auffällt. Sie war im Heimaturlaub, wenn man es so nennen kann, denn sie ist Ukrainerin, und zum ersten Mal seit Beginn der Vollinvasion wollte sie die Eltern besuchen – das heißt, sie hätte es schon früher wollen, natürlich, doch Putins Truppen ließen es nicht zu: ihre Eltern leben im besetzten Süden des Landes, mussten sich den fremden russischen Pass aufzwingen lassen, können nicht in die freie Ukraine reisen. Sie wiederum kann nicht einfach so aus der Ukraine in die Besatzungszone rein, kann die Eltern nur (wenn überhaupt) über Umwege besuchen, muss ein absurdes persönliches Risiko eingehen, über Belarus nach Moskau reisen, sie hofft, von dort aus in die besetzte Zone zu gelangen, ihre Eltern, ihren Hund, ihr Kinderzimmer, alles wiederzusehen, was sie so abrupt hinter sich lassen musste.

Doch in Moskau hält man sie auf; der Pass wird ihr kurzzeitig abgenommen, das Handy durchsucht, schließlich wird sie abgewiesen und zurückgeschickt: eine junge, kleine, witzige Ukrainerin, die im Westen lebt, in „Gayropa“, wie der Russe sagt, sei eine unerwünschte Person. Keine weiteren Gründe, Erklärungen, wozu auch, ein Regime braucht keine Erklärungen, sie kann froh sein, dass sie nicht verhaftet wird, oder schlimmer noch: verschwindet (wie viele andere vor ihr). Zumindest, sagt sie mir heute, es ist ihr erster Dienst, seit sie zurück im Land ist, zumindest konnte sie ihre Mutter dennoch für ein paar Tage treffen – nicht zuhause, aber in einem Hotel in der Türkei. Sie konnte sie wiedersehen, doch kaum wiedererkennen – nach dreieinhalb Jahren auf erzwungener Distanz, dreieinhalb Jahren unter brutaler Besatzung, da war ihre Mutter alt geworden. Die Augen müde, leer, fremd für die eigene Tochter, wie sie mir monoton, beinah beiläufig erklärt. Und erst jetzt, beim nächsten Blickwechsel, sehe ich auch endlich die Anstrengung, die Traurigkeit im Gesicht der Kollegin, das tiefe Begreifen, zur unerwünschten Person gemacht worden zu sein, aus dem Kindheitsspeicher ausgegrenzt zu werden, all die Willkür und Hoffnungslosigkeit, die darin mitschwingt.

Es ist Sommer, August, es ist immer noch Krieg, und demnächst trifft der selbsternannte König von Amerika den selbsternannten russischen Zar, um über besetzte Gebiete zu verhandeln, die ihnen beide nicht gehören, während hier in meiner Stadt keiner mehr weiß, keiner wissen kann oder will, was Besatzung eigentlich bedeutet – außer Menschen wie der kleinen, mutigen Kollegin mit den zu kurzen Hosen, die heute weitaus mehr durchstehen muss, als nur einen weiteren Aufsichtsdienst.

Besatzung, sagt die Aktivistin und Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwitschuk, bedeutet keinen Frieden; sie ist nur eine andere Form von Krieg. Manchmal genügt ein Blickwechsel, um das zu verstehen.

Montag, 28. Juli 2025

Ni más ni menos

Ich schreibe gerade sehr wenig. Im Grunde habe ich nie viel geschrieben, nie diese notorischen Vielschreiber verstanden, die von Text zu Text, von Werk zu Werk hetzen, sich jeden verdammten Tag zur selben Stunde vor den Schreibtisch begeben, das Dokument öffnen, so als hätten sie gar keine Angst vor dem falschen Wort, dem leeren Blatt, dem Scheitern, dem Verlust der Muse, dem Zweifel, ob sie jemals wirklich da war.

Ich dagegen habe immer Angst, kann gar nicht ohne sie schreiben – die Möglichkeit, das Gefühl, das vielleicht doch alles Quatsch ist, womöglich falsch, dumm, zumindest nicht gut genug (für wen eigentlich?), dieses Unbehagen verlässt mich nie wirklich; ich muss der Angst immer wieder trotzen, sie ständig überwinden, oder immerhin kontrollieren, wie der Hulk seine Wut, um zumindest hin und wieder etwas zu Papier zu bringen, das sich zumindest im Moment als richtig und wichtig angefühlt hat, bevor ich es kritisch gegenlese und hinter die Lücken sehe, die ich setze. Entsetzliche, wundervolle Lücken.

Doch, wenn ich ganz offen bin, gibt es noch einen zweiten Grund, warum ich wenig schreibe: weil ich es, trotz allem, sehr gerne tue. Und alles, was ich gerne tue, mache ich gefühlt zu selten. Vielleicht unbewusst, vielleicht bewusst, natürlich auch, weil ich faul bin (ehrlich faul, nicht bloß kokettierend, wie Borges). Vielleicht liegt etwas Liebe in der Faulheit, womöglich wieder eine Furcht, doch nicht ganz unberechtigt, es ist eine weitere Angst, die bloße Möglichkeit, mir den furchtbaren Genuss am Schreiben zu vermiesen, wenn es zur lieblosen Pflicht, zur alltäglichen Gewohnheit, schlimmer noch: zur einsamen Sucht wird.

Jemand hat mal auf die Frage, wofür er sich entscheiden würde, wenn er bis ans Lebensende nur noch eine Speise essen könnte, geantwortet: Ganz einfach, Polenta. Auf die Frage nach dem Warum, sagte er, Polenta mag ich jetzt schon nicht; lieber esse ich etwas, was ich ohnehin nicht leiden kann, als mir mein Lieblingsessen zu zerstören, weil ich es jeden Tag bekomme.

Die beste, exklusivste Speise verliert ihren Reiz, wenn ich sie täglich vorgesetzt kriege, irgendwann wird sie mir banal, vielleicht sogar unerträglich – und so verhält es sich mit allen Genüssen. Genieße, tue ich etwas tagtäglich, ohne Abstände, ohne Mut zur Lücke, verliert die Sache seine Besonderheit – und das ist, neben allen anderen, vielleicht meine größte Angst. Deshalb schreibe wenig, zu wenig vielleicht. Aber nie zu viel.

Donnerstag, 22. Mai 2025

Der Bücherfreund

Die Geschichte flog mir zu (wie man so sagt), während eines langen Spazierganges an einem kühlen, unaufgeregten, seltsam farblosen Tag, vielleicht April, vielleicht schon Mai, ich denke in letzter Zeit wieder weniger an den Kalender (ein gutes Zeichen?); der Bücherfreund ist ein nicht mehr ganz junger Mann, dessen Leidenschaft darin besteht, sich Bücher zu besorgen – „sammeln“ ist der falsche Begriff – er besorgt sie sich, wo immer er hinkommt, er kann nicht durch die Stadt spazieren, ohne an den offenen Bücherschränken stehen zu bleiben, kann nicht vor den Schränken stehen, ohne ein Buch zu entnehmen; alle Buchhändler, jede Verkäuferin kennt ihn, überall hat er schon eingekauft, er schafft es nicht, an einer Buchhandlung vorbeizugehen, ohne ein Buch zu kaufen. Er ist nicht reich, aber bescheiden, er kauft keine Kleidung, keine Aktien, keine Chemie, er kauft nur Bücher.

Seine Freunde, Kollegen, die Nachbarn kennen ihn nur mit einem Buch in der Hand, nie verlässt er die Wohnung ohne einem Werk (ohne mehrere Werke), immer hat er etwas zu lesen dabei. Was jedoch niemand weiß, was er (vielleicht unbewusst) wie ein furchtbares Geheimnis hütet: Der Mann hat nie gelernt zu lesen. Stundenlang kann er in einem Buch blättern, sich mit den Werken beschäftigen, die gedruckten Seiten anstarren – doch er versteht sie nicht. Er ist ein Bücherfreund, der nicht lesen kann.

Eines Tages fällt sein Geheimnis auf; augenblicklich verlieren die Leute den Respekt vor ihm; was sie früher bewunderten, stößt sie auf einmal ab, sie finden ihn jetzt hirnrissig, skurril, er macht ihnen Angst. Sie fangen an, ihn zu meiden. Eltern mit Kindern wechseln die Straßenseite, wenn sie dem Bücherfreund begegnen, alte Freunde wenden sich von ihm ab (sie tun es nicht aggressiv, sondern sanft, sie melden sich seltener, finden Ausreden, sind sehr beschäftigt). Doch der Bücherfreund lebt weiter wie bisher, er ändert sich nicht – warum auch – er kauft weiter seine Bücher, liebt und hegt sie, die schönsten und aufwendigsten Werke, sein Zimmer quellt über vor tausenden von Büchern, die er niemals alle lesen kann; weil er nicht lesen kann.

Was aber niemand, nicht einmal seine ersten Freunde, die letzten Verwandten begreifen wollen: Er ist nicht arm, nicht einmal hirnrissig. Er weiß, dass seine Bücherliebe absurd ist, doch es stört ihn nicht, hat ihn nie gestört. Im Gegenteil: Er liebt seine Bücher nicht obwohl, sondern weil er sie nicht versteht. Und vielleicht (denke ich, jetzt, am Ende dieser Geschichte, am Ende eines Spazierganges im Mai oder April), vielleicht ist das sogar die Bedingung, die stille Voraussetzung jeder wahren und tief empfundenen Liebe: Sie nicht verstehen, sie niemals vollständig begreifen zu können.

Samstag, 30. November 2024

Posthume Erkenntnisse

Kürzlich träumte ich von einem Kollegen, einem schrulligen, freundlichen Mann in meinem Alter (gefühlt in meinem Alter), Hornbrille, Topffrisur, ein talentierter Kunstfotograf, der seine bescheidenen Brötchen in der Aufsicht verdient, wie so viele Künstler und Fotografen vor ihm, und in meinem Traum erhält er einen Preis für eines seiner Bilder – ich freue mich unheimlich für ihn, ich weiß, dass er den Preis verdient hat, und doch bin ich traurig, weil ihm die Ehre erst jetzt zuteil wird; er bekommt die Auszeichnung posthum.

Zwei Monate zuvor erhalte ich die Nachricht, dass der Kollege verstorben ist. Sie trifft mich aus dem Nichts, trifft mich hart, obwohl ich ihn nicht besonders gut kannte, ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte, doch sein Tod geht mir ehrlich nahe, und mich überkommt eine seltsame und seltene Wut, wie damals, als Philip Seymour Hoffman starb, und der erste Gedanke war: „Warum gerade der?“ Als wäre Talent jemals ein Kriterium für den Tod.

Ich erinnere mich an meinen letzten gemeinsamen Dienst mit dem verstorbenen Kollegen (dessen Todesursache ich nicht erfahren habe), es war noch im Frühjahr, während der Sonderausstellung des fürstlichen Doppelkinns, und in einer Pause fanden wir etwas Zeit für eine kurze Unterhaltung. Wir waren beide fasziniert von dem rasanten Aufstieg der künstlichen Intelligenz, den Möglichkeiten und Gefahren, die sie mit sich brachte, und wir fragten uns, was der Begriff der Künstlichkeit für die Zukunft unserer Zunft bedeutet. Wie immer stand ich auf der ängstlicheren Seite, sah die Risiken, wenn das Werkzeug stärker wird als die Hand, die es führt, und es jetzt schon schwer zu unterscheiden fällt, welche Kunst echt (von Mensch gemacht) und künstlich (von der Maschine gemacht) ist. Was zur Frage führt, wie wir damit umgehen werden, wenn sich die Unterschiede ganz aufheben.

In diesem Moment sagte mir der Kollege etwas, das ich sofort notieren musste, eine Sichtweise, eine Erkenntnis, an die ich immer wieder zurückdenke, seit ich vom Tod dieses uneitlen, immer lächelnden Lebenskünstlers erfahren habe: Wenn Kunst künstlich erzeugt werden kann, meinte er, also ohne das schöpferische Zutun des Menschen, dann muss man in Zukunft vielleicht nicht die Kunst selbst, sondern den Menschen neu positionieren.

Noch ist die Maschine vom Menschen abhängig (und nicht umgekehrt), doch wenn sich die künstliche Intelligenz eines Tages nicht mehr auf die Informationen stützen muss, mit denen wir sie füttern, sprich: wenn sie vollkommen schöpferisch agiert, und menschliche Authentizität in der Kunst nichts mehr bedeutet, wenn Werke ohne Autor den Markt regieren, dann stellt sich tatsächlich die Frage, welche Position für den lebenden Künstler, die lebende Künstlerin noch bleibt.

Ich habe keine Antwort darauf. Ich wünschte bloß, ich könnte das Gespräch mit dem Kollegen noch ein wenig fortsetzen, und müsste ihm nicht posthum diesen Text widmen.

Sonntag, 6. Oktober 2024

Die Kubanerin

Auf die Frage nach dem wichtigsten Tag, dem wichtigsten Abend des Jahres gibt es für Museumsaufsichten nur eine richtige Antwort: die Lange Nacht der Museen. Einmal im Jahr herrscht Ausnahmezustand und Urlaubssperre, jede Kraft wird gebraucht, um die anstürmenden Massen im Zaum zu halten – es ist der Black Friday der hiesigen Kulturlandschaft (an einem Samstag), es ist Anfang Oktober, und es ist mit allem zu rechnen: erwachsene Damen, die sich Klopapierrollen in die Handtaschen stopfen, erwachsene Herren, die ihre Kaugummis auf den Museumsteppich spucken – alles schon passiert. Das goldene Ticket, das für einen Abend Einlass gewährt in alle Kunstkammern des Landes, es lockt die Leute magnetisch an, es holt ihr bestes und ihr schlechtestes hervor. Wer etwas über die Natur des Menschen lernen will, ist hier nicht falsch.

Ich erinnere mich an die große Nacht vor einem Jahr, eingeteilt in einem Palais in der Innenstadt, stand ich zitternd und frierend (meine Jacke zu dünn) im überdachten Eingangsbereich, durch den der Wind blies, während sich die Besuchermassen bis um die Straßenecke reihten, und meine Aufgabe darin bestand, den unnachgiebigen Andrang zu ordnen, die ewigen Fragen zu klären, die Ausgänge frei zu halten und (besonders) Unfälle zu vermeiden.

Die längste Zeit läuft alles gut in diesem Jahr, es ist schon kurz vor Mitternacht, als es passiert: Hinter mir ertönt ein Knall, der durch das Vestibül hallt, ich drehe den Körper – nur ein paar Meter entfernt, inmitten der Menge, liegt eine Frau am Boden. Eine Mitarbeiterin der Museumskasse kommt ihr zur Hilfe, ich hinzu, die anstehenden Gäste treten zur Seite, der Portier schafft Platz, die Oberaufsicht wird verständigt. Wir versuchen, der Frau hoch zu helfen, es gelingt nicht; sie schreit auf, bleibt am kalten Stein sitzen. Neben ihr eine jüngere Frau, ihre Tochter, wie ich später erfahre, und beide haben Tränen in den Augen; nicht wegen des Schmerzes, nicht wegen der Verletzung, sondern weil sie beide sofort verstehen, was es bedeutet – die Mutter wird in ein Krankenhaus müssen. Die Oberaufsicht kommt hinzu, die Frau immer noch am Boden, die Rettung soll verständigt werden. Bitte nicht, sagt die Tochter flehend, mit spanischem Akzent, sie seien nicht versichert.

Es ist faszinierend, denke ich, wie im Chaos eines Notfalls die Fragmente nach und nach ineinander fallen und sich zu Bausteinen einer Geschichte fügen. Später, mit allen Informationen, könnte man diese Geschichte so erzählen: Eine Kubanerin, längst im Pensionsalter, zieht mit ihrer erwachsenen Tochter in die schöne Stadt an der Donau, weil ihnen hier ein schönes Leben versprochen wurde. Beide arbeiten als Reinigungskräfte für die kubanische Botschaft, bekommen eine Wohnung, doch keine Anstellung. Sie leben für den Botschafter, leben auf der Hut, weil sie wissen, dass ihnen hier nichts passieren darf. Weil sie nicht versichert sind. An einem Samstagabend möchte sich die Tochter einmal etwas gönnen, es ist Lange Nacht, und sie überredet die Mutter, mit ihr hinzugehen. Sie haben noch wenig von der Stadt erlebt, wollen nur einmal in ein Palais schnuppern; es ist schon spät, fast zu spät, als sie in der Schlange für die letzte Führung stehen – da stolpert die Mutter in der Menge über die einzige Stufe im Eingangsbereich, stolpert und stürzt auf die linke Schulter, bleibt liegen. Sofort wissen beide, dass der Albtraum eingetreten ist – die Angst, die Panik, ihre Arbeit, die Wohnung, ihre Existenz zu verlieren. Trotz alles Flehens wird die Rettung verständigt. Die Tochter ruft den Botschafter an. Die Mutter steht unter Schock. Sie ist neunundsechzig Jahre alt. Während sie auf die Rettung wartet, wird sie der jungen Aufsicht neben ihr erzählen, dass sie in ihrer kubanischen Heimat noch nie im Krankenhaus war. Sie wird von ihrer Jugend erzählen, sie wird über die deutsche Sprache schimpfen, sie wird die Aufsicht nach ihrem Namen fragen, sie wird ihr anvertrauen, dass sie nichts mehr fürchtet, als die Nadel einer Spritze. Als der Krankenwagen endlich kommt und zwei kräftige Sanitäter sie auf eine Trage bugsieren, steht der kubanische Botschafter schweigend daneben. Die Aufsicht informiert sich bei den Sanitätern, in welches Krankenhaus die Frau gebracht wird. Der Wagen fährt ab, die Reihen lichten sich, das Museum schließt. Am nächsten Tag wird die Aufsicht das Unfallkrankenhaus besuchen, um nach der Kubanerin zu sehen, doch die Frau ist nicht dort. Die Geschichte endet damit, dass die Aufsicht ohne Antworten nach Hause spaziert und auf halbem Weg den Schirm aufspannt, weil es wieder zu regnen beginnt.

Als ich den Dienstplan für die erste Oktoberwoche erhalte, bin ich wieder im gleichen Objekt eingeteilt wie letztes Jahr; wieder muss ich an die Kubanerin denken, die es nicht ins Palais geschafft hat. In einem schlechten Film würde ich sie heuer an den Eingangsstufen wiedersehen; und ich würde sie sofort erkennen, und sie würde es diesmal ins Museum schaffen, mitsamt der Tochter. Und im Abspann würde fröhliche kubanische Musik erklingen.

Aber wer wollte so einen Film schon sehen?

Freitag, 16. August 2024

Fette Karren

Während einer meiner letzten, unmotivierten Reisen durch das Internet stieß ich auf ein erstaunliches Video: auf einem Parkplatz in Peking wurden Autos gefilmt, deren Karosserie riesige Beulen aufwies, als wären sie unter der prallen Sommerhitze aufgebläht wie ein Germteig im Rohr. Tatsächlich handelte es sich um chinesische Neuwägen, bei denen eine spezielle Lackfolierung aufgetragen wurde; die drückenden Temperaturen sorgten dafür, dass sich die Folie dehnte und die Wagen aussahen, als hätten sie die Beulenpest, oder wie es im Video hieß: als gingen sie schwanger.

Unvermittelt muss ich bei dem skurrilen, irrwitzigen Anblick an Erwin Wurm und sein FAT CAR denken, der aufgeblähte rote Passivsportwagen, der dem konsumgeilen Markt seinen Spiegel vorhält - ein adipöses Auto, ein großer Spaß, Wurms Durchbruch in der Kunstwelt. Doch heute, nach Sicht der fetten Pekinghauben, da scheint es mir mehr als das, glänzt das aufgedunsene Chrom in neuem Licht - die Realität, sie hat die Kunst eingeholt.

In einem vieldiskutierten Essay schrieb Oscar Wilde einmal, es sei nicht die Kunst, die das Leben imitiere (wie Sokrates festhielt), sondern das Leben, das die Kunst nachahme. Wilde sprach sich vehement für eine Anti-Mimesis aus, glaubte fest daran, dass wir im Londoner Nebelloch nur deshalb eine mysteriöse, traumartige Schönheit ausmachen, weil sie zuvor von Dichtern und Malern beschworen wurde - "Life imitating art" war das Fazit seiner Überzeugung, und genau diese Worte kommen mir in den Sinn, wenn ich die dickbäuchigen Asia-Autos sehe: sie imitieren eine ironische Kunstikone, doch sie tun es nicht freiwillig; sie beugen sich dem Klima, werden von einem neuen Rekordsommer verformt, zeigen auf besonders abwegige Weise die Konsequenz der Erderwärmung – ein PKW, der Blasen bildet wie ein kochender Geysir – was wäre ein stärkeres Bild für die menschgemachte Heißzeit?

Durch dieses Bild, diese Gegenwart, erhält Erwin Wurms überfettete Kunstkarre eine neue, nachträgliche Bedeutung, die erst jetzt deutlich wird: es ist nicht einfach eine lachende Kritik am Kapitalismus, es ist die prophetische Warnung vor der globalen Überhitzung, der Erd- und Hirnschmelze, die zu bizarren Transformationen führt, zu feuerroten, wild wuchernden Brandblasen, die wir all die Zeit nicht gesehen haben, nicht sehen wollten, bevor das Leben anfing, die Kunst nachzuahmen.

Vielleicht hinkt dieser Vergleich ein wenig, vielleicht ist die Parallele allzu weit hergeholt, keine Ahnung – ich weiß nur, dass es verdammt schwerfällt, einen klaren Kopf zu bewahren, bei der unnachgiebigen, drückenden Hitze in diesen Tagen.