Freitag, 3. Oktober 2025

Gott ohne Jugend

Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit, dieses ewige Motto steht in goldenen Lettern über dem Haupteingang der Secession, und eigentlich ist damit alles gesagt, es braucht nicht mehr, nur diese kurzen Zeilen, um jedes noch so schlechte oder verwegene Werk zu rechtfertigen. Und wo die Zeiten düster sind, da ist es auch ihre Kunst – zumindest muss ich das glauben, wenn ich mich wieder einmal dorthin begebe, auf die dunkelste Position, ins finstere Mittelalter.

In der zweistöckigen Touristenfalle meiner Stadt zieht sich die Kunst wie eine Zeitreise durch das Gebäude, doch während die Gäste jederzeit in den Glanz des Jugendstils und den Trotz der Avantgarde hinaufsteigen dürfen, bleibt eine Person immer zurück; eine Aufsicht muss sich erbarmen, sich opfern, den ganzen Tag im Erdgeschoss zu verbringen, zwischen Kreuzgang und Buße, Bibel und Beuschel, in den endlos schweren Bilderwelten mittelalterlicher Passionsspiele. Neun Stunden in dieser finsteren Abteilung, ohne Tageslicht und ironische Brüche, das hinterlässt Spuren; ja, es verfinstert das Gemüt, ganze Tage diesen Bildern ausgeliefert zu sein, die eine qualvolle, endlose Kreuzigung festhalten, um Jesu Leid für dich erfahrbar zu machen.

Niemand geht in heller Laune aus diesen Bildern, die Schwere der Ikonen, die geballten Grausamkeiten ihrer Zeit ziehen dich hinab in deine dunkelsten Momente, du wirst bleiern und alt, je länger du sie betrachtest, weil es in den Werken der Mittelalterkunst keine Jugend gibt – selbst die Madonnenbabys, die Heilandkinder, der frisch geborene Messias, alle Kindchen dieser Zeit tragen immer schon die Gesichter alter Herren. Die düstere Kunst des Dark Age, sie hat sich voll und ganz darauf spezialisiert, jede Hoffnung fahren zu lassen – denn wo es keine Jugend gibt, kann es auch keine Hoffnung geben – und jeder Gang durch diesen trostlosen Fetisch scheint dir sagen zu wollen: Alles was geboren wurde, liegt bereits im Sterben.

Die schlecht beleuchteten Wandtexte erklären mir, all das schmerzverzerrte, leidliche Pathos sei ganz bewusst so inszeniert, damit wir uns, damals wie heute, in den geopferten Gottessohn hineinversetzen können, doch was ich vor allem sehe, wenn ich einen ganzen Tag in diesen Räumen zubringe, das ist Angst; eine allgemeine, kollektive Angst, die in allen Holzfiguren und Altarbildern forciert wird, um sie ganz bewusst zu kontrollieren und auszunutzen. Das ist der perfide, gordische Knoten, den die Kirche des Mittelalters ganz bewusst geknüpft hat: Sie verspricht Erlösung von dem Leid, das sie selbst aufrechterhält.

Dass es auch anders geht, zeigt eine einsame, unscheinbare Holzstatuette direkt am Eingang zum Mittelalter: Dieser unförmige Christus, der hier ans Kreuz geschnitzt wurde, ist älter als alle anderen Kunstwerke im Haus, und doch wirkt er frischer und moderner als all die späteren, untröstlich Gekreuzigten; eher ein lustiger Gallier denn ein gemarterter Märtyrer, als hätte ihm die naive Vorschulskizze eines späteren Comiczeichners die Vorlage gereicht, steht er mit beiden Plattfüßen gelassen am Kreuztritt, stoisch lächelnd wie ein Kind, das die Absurdität der Welt noch ohne Einwände akzeptiert.

Da war nur ein Problem: Das fröhliche Opfer zeigte beim Betrachten offenbar keine Wirkung. Niemand hatte Angst vor diesem Gottessohn, diesem aufgefahrenen Lächler, grob geschnitzten Zimmermann, der ein jugendliches Gefühl von Aufbruch und Hoffnung vermittelte, trotz allem. Und deshalb wurde diese naive, lebensfrohe Darstellung vom Klerus schnell wieder gekippt und durch die altbekannten, schmerzverzerrten, ewig blutgetränkten Bilder ersetzt. Die dunkle, höllische Schwere, die beim Betrachten schon alt macht, sie hat nichts mit Einfühlung zu tun, ist bloßes Kalkül; weil Angst und Verzweiflung einfach besser zahlen als Freude und Hoffnung.

Auch die Erkenntnis scheint niemals jung gewesen zu sein.

Mittwoch, 24. September 2025

Den Traum streicheln

Es ist Freitagabend, ich flaniere durch die belebten Straßen, als ich an einer Galerie vorbeikomme; ich will nicht stehen bleiben, doch etwas zwingt mich dazu. Im Schaufenster steht eine Leinwand, die mich völlig unvorbereitet in seinen Bann zieht, auf einmal wieder Kind, an der Hand der Mutter spätabends die Einkaufsstraße hoch, an jedem Schaufenster stehen bleiben und sich vorstellen, was man alles haben könnte; es war nicht einfach nur ein Bummeln, damals, es war die Entdeckung Amerikas, hinter jeder Scheibe. 

Heute stehe ich vor so einer Entdeckung, ein Bild, das mich erst im zweiten, im dritten Moment berührt, doch dafür richtig. Von der Künstlerin, Joanna Jesse, habe ich noch nie gehört, doch dieses Bild (das einzige von ihr, das im Schaufenster hängt) trifft mich so, als kannten wir einander ewig, als hätte sie es nur für mich gemalt. Der Titel ist schlicht, Junge mit Katze, er sagt, was das Werk darstellt, doch nur auf den ersten Blick: Das Leinwandmotiv zeigt einen Jungen im blassroten Hemd, er steht rechts im Bild und führt den Arm zu den zwei Kätzchen (ein schwarzes, ein geschecktes), die übereinander liegen. Es scheint, dass der Junge die größere schwarze Katze mit dem Handrücken streichelt (streicheln möchte), während von der anderen Seite, aus dem linken unteren Rand eine zweite Hand ins Bild ragt – eine anonyme Hand, eine unklare Geste, die womöglich ebenfalls nur die Katze streicheln will. Doch vielleicht, und das ist durchaus denkbar, will sie stattdessen den Jungen auf Distanz halten, ihn von den Katzen fernhalten. Nur warum?

Etwas stimmt nicht mit der jugendlichen Unschuld in diesem Bild, es kann keine friedliche Kindheitserinnerung sein, sieht man nur ein wenig länger hin, wird es sehr deutlich: der Junge kann die Katzen niemals streicheln. Die Ohren des kleineren Kätzchens, das auf der schwarzen Katze liegt, sind von einem Rahmen abgeschnitten, der quer durch das Bild ragt; er zerschneidet das Motiv, die Idylle auf den ersten Blick, denn die Katzen sind zum Greifen nah und doch unfassbar. Der Rahmen, der sie abschneidet, könnte zu einem Fenster gehören, und die Katzen hinter der Scheibe von dem Jungen trennen. Doch wahrscheinlicher ist es (zumindest wirkt es auf mich so), dass es sich um einen Gemälderahmen handelt, dass die beiden Katzen, die so lebendig scheinen, nur ein gemaltes Bild im Bild sind. Ein Sehnsuchtsbild, das der Junge in Hellrot unbedingt berühren möchte. Und mich damit unheimlich berührt.

Es ist die traurigste Berührung, die ich in langer, langer Zeit entdeckt habe, ein unbekanntes, meisterhaftes Werk, in seiner Ausführung irgendwo zwischen Maria Lassnig und Xenia Hausner, doch der Inhalt ist realistischer, subtiler, die größere Emotion kommt direkt aus dem Leben, zeigt die sanfte Geste eines Jungen, der nicht haben kann, was er berühren will. Durch den zerschneidenden Rahmen im Bild werden die gemalten Tiere zu Schrödingers Katzen, sie sind da und gleichzeitig abwesend, eine unauflösbare Situation. Die Frage ist: Weiß der Junge, dass er nur ein Bild von zwei übereinander liegenden Katzen sieht – oder ist er (wie ich) so gebannt von dem Bild, dass er die Gesetze der Welt vergisst und wirklich daran glaubt, die Katzen streicheln zu können?

Angeblich haben Rembrandts beste Schüler ihm öfter einen Streich gespielt, indem sie auf den Boden seiner Werkstätte eine Münze gemalt haben, die so echt aussah, dass sich der alte Meister nach ihr bückte. Es ist eine schöne Anekdote, die vermutlich nicht stimmt (obwohl der Gedanke, dass Rembrandt mehr als einmal auf die Münze reinfiel, fast zu gut ist, um erfunden zu sein), in jedem Fall erzählt sie auf entwaffnende Weise von der überwältigenden Illusion, die Kunst bewirken kann; für eine gewisse Zeit, vielleicht nur eine Sekunde, scheint sie echter als die Wirklichkeit, berührt sie tiefer als das Weltgeschehen.

Der Junge mit Katze ist in Wahrheit ein Junge ohne Katze, der so naiv und eingenommen von einem Katzenbild ist, dass er nicht anders kann, als es streicheln zu wollen – was die zweite, anonyme Hand zu verhindern sucht. Und vielleicht ist es gerade diese zweite Geste, die mich mit dem Jungen so stark mitfühlen lässt: die unvermeidliche Erwachsenengeste, die den Traum des Kindes unterdrückt, in seine Wünsche eingreift, die Illusion zerstört. In diesem Bild aber, in dem Moment der Darstellung, ist sie noch nicht verloren, und auf ewige Zeit wird der Junge die offene Hand reichen, um den Traum zu streicheln.

Eines Tages, stelle ich mir vor (wünsche ich mir), würde ich dieses Kunstwerk, diese unwahrscheinliche Entdeckung von Joanna Jesse in einem Museum wiedersehen. Doch ich wäre keine Aufsicht mehr an diesem Tag; ich wäre der Junge im Bild.

Montag, 15. September 2025

Batman, neu erzählt

Ein Junge verliert seine Eltern. Er stammt aus reichem, sehr reichem Haus, er ist der einzige Sohn, der letzte Nachkomme, und als er volljährig ist, wird er alles erben, das gigantische Unternehmen, ein unendliches Vermögen. Er lebt in einem riesigen, geisterhaften Schloss, lebt allein mit seinem Butler, der ihn ständig an das Erbe erinnert, ihn dazu drängt, in die Fußstapfen der Eltern zu treten, das Imperium zu führen. Doch der junge Mann hat sich nie für diese Wahl entschlossen. Er ist nicht einfach reich, er ist unfreiwillig reich; das Vermögen wurde ihm auferlegt, er hat es nicht verdient, er hat es geerbt; weil es keine anderen Erben gab.

Reichtum ohne Verdienst ist eine Last, ein Imperium ohne Willen ein Gefängnis; der junge Mann spürt das, jeden Tag spürt er es, und zunehmend zerbricht er unter einem Geschenk, das er niemals wollte. Er versucht es von sich zu schieben, doch es gelingt ihm nicht; er ist der Name, das Gesicht eines Weltunternehmens, und egal, was er auch tut, egal, welche Summen er verschenkt oder verprasst, das Imperium wird nicht kleiner, sein Vermögen nicht geringer. Das Wissen um das fremde Geld, den anonymen Alltag, den er nie, niemals gegen die Eltern eintauschen kann, es verändert ihn, macht ihn ruhelos, getrieben, stumpft ihn ab, bis er wird, was er nie sein wollte: ein Sklave seiner Privilegien, die Elite der Stadt. 

Nur in den Nächten ist er frei. In dunklen Träumen versucht er, seinem Reichtum zu entkommen, er flüchtet sich in finstere Höhlen, zu einer ursprünglichen, geldfreien Existenz, zu den einzigen Lebewesen, denen er sich noch verwandt fühlt: den Fledermäusen. Als Kind haben sie ihn verängstigt und angezogen, jahrelang hat er sie beobachtet, studiert, diese Kreaturen der Nacht, die ihm so viel näher scheinen als das Geschäft des Alltags. In seinen Träumen ist er unter ihnen, wird akzeptiert, mit oder ohne Geld, als wäre er einer von ihnen. Die Verwandlung geschieht abrupt (er kann nicht sagen, wann es passiert ist); früher spürte er die zuckenden Flügelschläge rund um sein Gesicht – jetzt erzeugt er selbst den Flügelschlag. Er flattert, er kreist um den Milliardär, der er früher einmal war, doch er sieht ihn dabei nicht (nicht im eigentlichen Sinne), er lernt, ohne Augenlicht zu sehen, sich in Finsternis zu orientieren. Dunkelheit wird sein Leben, die Nacht sein Verbündeter.     

Hin und wieder wird ihn der Milliardär noch besuchen, aber er kommt immer seltener. Er weiß, dass er ihn nicht vermisst; auch nicht seinen Butler, nicht sein Imperium, und schon gar nicht das viele, schwere Geld. In der Nacht ist er niemandem Rechenschaft schuldig. Er ist eine Fledermaus, flatterhaft und leicht.

Sonntag, 31. August 2025

Nach der Reifeprüfung

Es gibt einen kurzen Dialog in Mike Nichols The Graduate, eine sehr unscheinbare, nebensächliche Bemerkung, die man leicht überhören könnte, in der aber ein ganzes, verborgenes Leben steckt: Benjamin und Mrs. Robinson liegen im Bett, und der junge Student fragt die gelangweilte Ehefrau, mit der er eine Affäre pflegt, was damals ihr Hauptfach am College war. Kunst, antwortet Mrs. Robinson, was Benjamin völlig überrascht. „I guess you kind of lost interest in it over the years, then“, sagt der Jungspund, der nichts kapiert. „Kind of“, wiederholt Mrs. Robinson müde – und in diesen zwei Worten liegt alles, ihr banales Schicksal, ihre Reue, die gesamte Bitterkeit eines Lebens, das nie der Plan war.

Kind of, klar, natürlich war es das Kind, das ihr in die Quere gekommen ist, die Geburt der Tochter, in die sich der Held des Films verlieben wird, obwohl (oder gerade weil) Mrs. Robinson alles daran setzt, um die Verbindung zu verhindern; die ungeplante Geburt ihrer Tochter Elaine hatte einst verhindert, dass aus Mrs. Robinson womöglich eine ledige, unabhängige Künstlerin geworden wäre, und der Film braucht nur einen knappen und beiläufigen Dialog, im Grunde bloß zwei Worte, um aus der zynischen und verbitterten Verführerin eine tragische Existenz mit verhinderten Träumen zu machen. Kind of.

Charaktere leben über ihr Werk hinaus, und kaum ein Film vermittelt das besser als The Graduate, die filmische Reifeprüfung eines jungen Theaterregisseurs, die bis heute nichts an Relevanz und Frische verloren hat. Für die Akteure eines Films zählen immer die Hintergründe der Figuren, heißt es, die phantomhafte Backstory, doch es ist der geteilte Blick in die Zukunft, die letzten zwei, drei Sekunden, die The Graduate zum Meisterwerk machen – wenn die Kamera in der allerletzten Einstellung eine Spur zu lange auf die Gesichter von Benjamin und Elaine hält, dann mischt sich ins sture Glück plötzlich noch ein Zweites, ein aufkommendes, ängstliches Begreifen: Was nun? Im finalen Sound der Stille liegt die Melancholie des Ungewissen, die leise Ahnung, das Schwerste noch vor sich zu haben. Deshalb sind die Charaktere des Films so glaubhaft: Sie beenden die Geschichte nicht mit einer Antwort, sondern mit einer Frage; der ungestellten Frage, ob die beiden es miteinander schaffen und was aus ihnen wird. Doch daneben schlummert noch eine weitere Frage in der Handlung, eine, die mich immer wieder beschäftigt hat: Was wird aus Mrs. Robinson?

Bevor der Film beginnt, bevor sie Mutter, Hausfrau, Alkoholikerin wurde, da hat sie sich für Kunst begeistert, nicht sehr lange, aber doch. Vielleicht liebte sie die Surrealisten (ich glaube, sie hätte Magritte gemocht) und vielleicht blätterte sie im Lesesaal durch ein  Kunstbuch und stieß darin auf ein Bild, sagen wir, Die Vergewaltigung von Magritte, ein Gesicht ohne Sinne, in das ein weiblicher Akt eingemalt wurde – Brüste statt Augen, Scham statt Lippen – ein grauenvoll starkes Bild, das sie im Innersten erschüttert hätte, und jetzt, Jahrzehnte später, wo die Tochter mit dem Falschen weggelaufen ist, wo sie niemanden mehr hat (außer ihren Gatten, den sie schon lange nicht mehr will), da stelle ich mir vor, dass Mrs. Robinson wieder an dieses gewaltige Bild denkt. Jetzt, nach Ende des Films, würde sie vielleicht sogar von diesem Bild träumen, dass sie einst am College so erregt hatte, und womöglich, da würde sie tatsächlich mit dem Malen beginnen. Mit dem Alkohol und den Zigaretten würde sie natürlich nicht aufhören, im Gegenteil, doch sie hätte die Scheidung endlich hinter sich und würde auf ihre späten Tage den jugendlichen Traum, das eigentliche Leben nachholen, das sie für ihre Tochter geopfert hatte. Sie hätte nicht mehr viel Zeit, sie würde am Alkohol oder am Krebs zugrunde gehen (womöglich an beidem), sie wäre mittellos, erfolglos, unangesehen, doch das machte ihr nichts, weil sie ihre Bilder im Grunde nur für sich selbst malte, für ein Lebensende ohne Kompromisse.

Nach ihrem Tod würden sämtliche Gemälde an ihre Tochter gehen, stelle ich mir vor, und in diesen Bildern steckte die späte, posthume Versöhnung zwischen Tochter und Mutter, von der im Film nur die irre Fratze einer alten Märchenhexe übrigblieb. Diese pure, einseitige Aggression in ihrem finalen Blick, wenn sie begreift, dass die Tochter sich für das Ungewisse entscheidet, fand ich immer schon befremdlich. Blicken wir rückwärts in die Zukunft, wird klar, dass sehr viel mehr in dieser Figur steckt: Wir müssen uns Mrs. Robinson nicht bloß als zynische, verbitterte Verführerin vorstellen, als Projektion, als Song, als ödipalen Fetisch. Wir können sie auch als das denken, was das Werk nicht zeigt.

Es sind gerade die unausgelebten Möglichkeitsformen dieses Nebencharakters, die mir nahe gehen: Höre ich in The Graduate an einer kurzen, beiläufigen Stelle nur ganz genau hin, dann verstehe ich den Schmerz dieser Frau, die wir nur als eheliche Anrede kennen, ich begreife ihren Zorn, ihre Apathie, und will ihr zumindest eine Zukunft schenken, die ihr ganz allein gehört.

Sonntag, 10. August 2025

Die unerwünschte Person

Sie ist jung, klein, witzig; schwarze Locken, helle Stimme, die Diensthose immer eine Spur zu kurz, ihre Gestik fein, sicher, pantominenhaft, sie trägt die Aura, die Präsenz eines Stummfilmstars – clownesk, aber nicht tollpatschig, herzlich, aber aufrichtig. Kurzum: es ist unmöglich, sich nicht über einen Dienst mit ihr zu freuen.

Ganz besonders heute, Anfang August, als ich sie nach Wochen wiedersehe, lebendig und heil, so herzlich, so quirlig, dass mir die Traurigkeit nicht sofort auffällt. Sie war im Heimaturlaub, wenn man es so nennen kann, denn sie ist Ukrainerin, und zum ersten Mal seit Beginn der Vollinvasion wollte sie die Eltern besuchen – das heißt, sie hätte es schon früher wollen, natürlich, doch Putins Truppen ließen es nicht zu: ihre Eltern leben im besetzten Süden des Landes, mussten sich den fremden russischen Pass aufzwingen lassen, können nicht in die freie Ukraine reisen. Sie wiederum kann nicht einfach so aus der Ukraine in die Besatzungszone rein, kann die Eltern nur (wenn überhaupt) über Umwege besuchen, muss ein absurdes persönliches Risiko eingehen, über Belarus nach Moskau reisen, sie hofft, von dort aus in die besetzte Zone zu gelangen, ihre Eltern, ihren Hund, ihr Kinderzimmer, alles wiederzusehen, was sie so abrupt hinter sich lassen musste.

Doch in Moskau hält man sie auf; der Pass wird ihr kurzzeitig abgenommen, das Handy durchsucht, schließlich wird sie abgewiesen und zurückgeschickt: eine junge, kleine, witzige Ukrainerin, die im Westen lebt, in „Gayropa“, wie der Russe sagt, sei eine unerwünschte Person. Keine weiteren Gründe, Erklärungen, wozu auch, ein Regime braucht keine Erklärungen, sie kann froh sein, dass sie nicht verhaftet wird, oder schlimmer noch: verschwindet (wie viele andere vor ihr). Zumindest, sagt sie mir heute, es ist ihr erster Dienst, seit sie zurück im Land ist, zumindest konnte sie ihre Mutter dennoch für ein paar Tage treffen – nicht zuhause, aber in einem Hotel in der Türkei. Sie konnte sie wiedersehen, doch kaum wiedererkennen – nach dreieinhalb Jahren auf erzwungener Distanz, dreieinhalb Jahren unter brutaler Besatzung, da war ihre Mutter alt geworden. Die Augen müde, leer, fremd für die eigene Tochter, wie sie mir monoton, beinah beiläufig erklärt. Und erst jetzt, beim nächsten Blickwechsel, sehe ich auch endlich die Anstrengung, die Traurigkeit im Gesicht der Kollegin, das tiefe Begreifen, zur unerwünschten Person gemacht worden zu sein, aus dem Kindheitsspeicher ausgegrenzt zu werden, all die Willkür und Hoffnungslosigkeit, die darin mitschwingt.

Es ist Sommer, August, es ist immer noch Krieg, und demnächst trifft der selbsternannte König von Amerika den selbsternannten russischen Zar, um über besetzte Gebiete zu verhandeln, die ihnen beide nicht gehören, während hier in meiner Stadt keiner mehr weiß, keiner wissen kann oder will, was Besatzung eigentlich bedeutet – außer Menschen wie der kleinen, mutigen Kollegin mit den zu kurzen Hosen, die heute weitaus mehr durchstehen muss, als nur einen weiteren Aufsichtsdienst.

Besatzung, sagt die Aktivistin und Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwitschuk, bedeutet keinen Frieden; sie ist nur eine andere Form von Krieg. Manchmal genügt ein Blickwechsel, um das zu verstehen.

Montag, 28. Juli 2025

Ni más ni menos

Ich schreibe gerade sehr wenig. Im Grunde habe ich nie viel geschrieben, nie diese notorischen Vielschreiber verstanden, die von Text zu Text, von Werk zu Werk hetzen, sich jeden verdammten Tag zur selben Stunde vor den Schreibtisch begeben, das Dokument öffnen, so als hätten sie gar keine Angst vor dem falschen Wort, dem leeren Blatt, dem Scheitern, dem Verlust der Muse, dem Zweifel, ob sie jemals wirklich da war.

Ich dagegen habe immer Angst, kann gar nicht ohne sie schreiben – die Möglichkeit, das Gefühl, das vielleicht doch alles Quatsch ist, womöglich falsch, dumm, zumindest nicht gut genug (für wen eigentlich?), dieses Unbehagen verlässt mich nie wirklich; ich muss der Angst immer wieder trotzen, sie ständig überwinden, oder immerhin kontrollieren, wie der Hulk seine Wut, um zumindest hin und wieder etwas zu Papier zu bringen, das sich zumindest im Moment als richtig und wichtig angefühlt hat, bevor ich es kritisch gegenlese und hinter die Lücken sehe, die ich setze. Entsetzliche, wundervolle Lücken.

Doch, wenn ich ganz offen bin, gibt es noch einen zweiten Grund, warum ich wenig schreibe: weil ich es, trotz allem, sehr gerne tue. Und alles, was ich gerne tue, mache ich gefühlt zu selten. Vielleicht unbewusst, vielleicht bewusst, natürlich auch, weil ich faul bin (ehrlich faul, nicht bloß kokettierend, wie Borges). Vielleicht liegt etwas Liebe in der Faulheit, womöglich wieder eine Furcht, doch nicht ganz unberechtigt, es ist eine weitere Angst, die bloße Möglichkeit, mir den furchtbaren Genuss am Schreiben zu vermiesen, wenn es zur lieblosen Pflicht, zur alltäglichen Gewohnheit, schlimmer noch: zur einsamen Sucht wird.

Jemand hat mal auf die Frage, wofür er sich entscheiden würde, wenn er bis ans Lebensende nur noch eine Speise essen könnte, geantwortet: Ganz einfach, Polenta. Auf die Frage nach dem Warum, sagte er, Polenta mag ich jetzt schon nicht; lieber esse ich etwas, was ich ohnehin nicht leiden kann, als mir mein Lieblingsessen zu zerstören, weil ich es jeden Tag bekomme.

Die beste, exklusivste Speise verliert ihren Reiz, wenn ich sie täglich vorgesetzt kriege, irgendwann wird sie mir banal, vielleicht sogar unerträglich – und so verhält es sich mit allen Genüssen. Genieße, tue ich etwas tagtäglich, ohne Abstände, ohne Mut zur Lücke, verliert die Sache seine Besonderheit – und das ist, neben allen anderen, vielleicht meine größte Angst. Deshalb schreibe wenig, zu wenig vielleicht. Aber nie zu viel.

Donnerstag, 22. Mai 2025

Der Bücherfreund

Die Geschichte flog mir zu (wie man so sagt), während eines langen Spazierganges an einem kühlen, unaufgeregten, seltsam farblosen Tag, vielleicht April, vielleicht schon Mai, ich denke in letzter Zeit wieder weniger an den Kalender (ein gutes Zeichen?); der Bücherfreund ist ein nicht mehr ganz junger Mann, dessen Leidenschaft darin besteht, sich Bücher zu besorgen – „sammeln“ ist der falsche Begriff – er besorgt sie sich, wo immer er hinkommt, er kann nicht durch die Stadt spazieren, ohne an den offenen Bücherschränken stehen zu bleiben, kann nicht vor den Schränken stehen, ohne ein Buch zu entnehmen; alle Buchhändler, jede Verkäuferin kennt ihn, überall hat er schon eingekauft, er schafft es nicht, an einer Buchhandlung vorbeizugehen, ohne ein Buch zu kaufen. Er ist nicht reich, aber bescheiden, er kauft keine Kleidung, keine Aktien, keine Chemie, er kauft nur Bücher.

Seine Freunde, Kollegen, die Nachbarn kennen ihn nur mit einem Buch in der Hand, nie verlässt er die Wohnung ohne einem Werk (ohne mehrere Werke), immer hat er etwas zu lesen dabei. Was jedoch niemand weiß, was er (vielleicht unbewusst) wie ein furchtbares Geheimnis hütet: Der Mann hat nie gelernt zu lesen. Stundenlang kann er in einem Buch blättern, sich mit den Werken beschäftigen, die gedruckten Seiten anstarren – doch er versteht sie nicht. Er ist ein Bücherfreund, der nicht lesen kann.

Eines Tages fällt sein Geheimnis auf; augenblicklich verlieren die Leute den Respekt vor ihm; was sie früher bewunderten, stößt sie auf einmal ab, sie finden ihn jetzt hirnrissig, skurril, er macht ihnen Angst. Sie fangen an, ihn zu meiden. Eltern mit Kindern wechseln die Straßenseite, wenn sie dem Bücherfreund begegnen, alte Freunde wenden sich von ihm ab (sie tun es nicht aggressiv, sondern sanft, sie melden sich seltener, finden Ausreden, sind sehr beschäftigt). Doch der Bücherfreund lebt weiter wie bisher, er ändert sich nicht – warum auch – er kauft weiter seine Bücher, liebt und hegt sie, die schönsten und aufwendigsten Werke, sein Zimmer quellt über vor tausenden von Büchern, die er niemals alle lesen kann; weil er nicht lesen kann.

Was aber niemand, nicht einmal seine ersten Freunde, die letzten Verwandten begreifen wollen: Er ist nicht arm, nicht einmal hirnrissig. Er weiß, dass seine Bücherliebe absurd ist, doch es stört ihn nicht, hat ihn nie gestört. Im Gegenteil: Er liebt seine Bücher nicht obwohl, sondern weil er sie nicht versteht. Und vielleicht (denke ich, jetzt, am Ende dieser Geschichte, am Ende eines Spazierganges im Mai oder April), vielleicht ist das sogar die Bedingung, die stille Voraussetzung jeder wahren und tief empfundenen Liebe: Sie nicht verstehen, sie niemals vollständig begreifen zu können.