Sonntag, 22. Juli 2018

Die abgewandte Eva

Es gibt eine Regel, vielleicht die wichtigste: Jeder gesunde, erwachsene Mensch hat eine Eigenverantwortung für sein Tun. Hormone? Ausrede. Druck? Ausrede. Geld? Ausrede. Gott? Tot. Ich allein bin verantwortlich für meine Entscheidungen, meine Handlungen und Nichthandlungen. Auch wenn es nie so einfach ist, es nie sein kann; die Verantwortung ist da.

Es gibt welche, die entscheiden sich dafür, von einem Tier an der Leine gezogen zu werden. Es gibt solche, die entscheiden, ganz bewusst, sich gegen Geld heiße Tinte in die Haut ritzen zu lassen. Es gibt Menschen, die entscheiden sich für die Wirtschaft, das Schreiben, den Nachwuchs, Stabhochsprung, die Politik.

Und es gibt Menschen (nicht wenige), die entscheiden sich dafür, einer Frau auf den Po zu klapsen. Bei meinem heutigen Dienst im Touristenschloss: im ersten Stock beobachte ich einen Mann (schwarze Lederjacke, Bauch), der neben einem zweiten an der vergoldeten Fensterbankkante lehnt, direkt hinter der lebensgroßen, nackten Evastatue von Auguste Rodin, sehr gelassen, fast gelangweilt. Plötzlich stoßen sich die beiden Männer ab, bewegen sich in den Raum, vorbei an der Eva im Adamskostüm, und der Lederjackenmann gibt Rodins verschämtem Meisterwerk im Vorbeigehen zwei – nicht einen: zwei – Klapse auf den harten Hintern. Ich starre den Typen fassungslos an, er trifft meinen Blick, ich schüttle den Kopf, er macht eine dumme, entschuldigende Pantomime, lächelt hinterher, verschwindet mit dem Kumpel im nächsten Raum. Ich bleibe zurück und drehe meinen Kopf zu ihr: Rodins Eva hat den Blick längst abgewandt, seit 1881 wendet sie den Blick ab, ich kann es ihr wirklich nicht verübeln.

Was bewegt einen Menschen, so zu sein? Wäre ich nicht im nächsten Moment zur Pause abgelöst, ich wollte die schwarze Lederjacke aufhalten und sie fragen, warum. Ich habe gesehen, was Sie getan haben, wir sind zwei erwachsene Menschen, ich möchte nur den Grund, das ist alles. Natürlich, ich weiß, es gibt die Nur-Sager, wahrscheinlich ist er einer von ihnen: ist doch kein Mensch, ist doch „nur“ eine Statue. War doch „nur“ Spaß. Nur, nur, nur – wer hat dieses unnütze Wort überhaupt erfunden? Mit „nur“ ist nichts zu holen, nichts zu gewinnen, nichts zu entschuldigen.

Ob ich der Skulptur, der Kollegin oder der Direktorin auf den Hintern klapse – was ändert es? Letztlich gibt es nur eine Frage, die ich mir stellen muss, jeden Tag aufs Neue: Was für ein Mensch möchte ich sein? Wenn ich zufällig ein Mann bin, und der Mensch sein möchte, der Frauen auf den Hintern klapst, dann ist das meine Entscheidung. Wenn ich in den Fünfzigern, Sechzigern geboren wurde, wird es mich vielleicht verwundern, warum jetzt so eine große Sache daraus gemacht wird; es ändert nichts an der Aktion an sich. Ein öffentlicher Klaps auf den Hintern einer Fremden, einer Kollegin, einer Eva, es war niemals „nur“ ein Klaps. Es war immer schon und wird immer eine ziemlich lächerliche, peinliche, sich selbst erniedrigende und für einen Beobachter zum Schämen lausige Aktion sein – völlig egal, ob es eine Konsequenz nach sich zieht oder nicht.

Was für ein Mensch möchte ich sein? Bis heute weiß ich keine befriedigende Antwort auf diese Frage. Wohl aber weiß ich, was für ein Mensch ich nicht sein möchte. Leute wie der Lederjackenmann machen sie mir sehr einfach, diese Entscheidung.