Dienstag, 10. Juli 2018

Über Frechheit

„Frechheit siegt“ – nur, es stimmt nicht. Sie führt vielleicht zum Ziel, zu einem Erfolg, doch dieser Erfolg ist kein Sieg, wenn er nicht nach gewissen Regeln spielt. Wenn die Touristin ihre Tochter gratis ins Museum schmuggelt, indem sie vorgibt, sie hätte ihr Ticket verloren, wenn der Tourist ein Wunschbild heimlich fotografiert, obwohl er weiß, dass es nicht fotografiert werden darf, und doch so tut, als hätte er es nicht gewusst, wenn er ertappt wird, wenn die andere Touristin ein Gemälde anfasst, um das Verlangen nach Berührung zu stillen, und sich dann überrascht entschuldigt, wenn der Alarm oder die Aufseherstimme schreit … Dann sind das freche, kindische Aktionen, die jeden Respekt vor einem Museum vergessen oder ihn nie gelernt haben, die sich regellos in einer Welt bewegen, deren Regeln sie allzu gut kennen.

Es ist ein seltsames Gefühl: Immer wieder scheint es mir im Dienst, als beträten viele erwachsene Besucher ein Museum zum allerersten Mal, als wüssten sie nicht, was das mit den Bildern da ist und wie man sich hier vielleicht verhalten sollte, weil man der Hausordnung still zugestimmt hat. Doch es ist ein Trug, ein falsches Bild; niemand ist zum ersten Mal in einem Museum, der sich die Reise hierher leisten kann, und es ist keine Premiere, es ist der Charakter, der so tut, als kenne er keine Verbote, der sich jedes Mal wieder überrascht und schockiert zeigt, dass es in jedem Museum der Welt ein Rucksackverbot gibt. Und sich in jedem Moment darüber hinwegsetzt, in dem der Aufseher gerade wegsieht, gerade woanders ist, gerade blinzelt, gähnt, sich umdreht.

Ich habe mich über eine Regel hinweggesetzt: Ich habe meinen Willen durchgesetzt: Ich bin frech. Der Erfolg gibt der Frechheit Recht, kann man sagen, er lädt sie zur Wiederholung ein, gibt den Ausführenden ein Glücksgefühl; doch es ist ein trügerisches. Weil in der Frechheit immer schon ein kleiner Betrug liegt, und weil dieser Betrug jedes Ziel schmälert, es relativiert und sich damit selbst herabsetzt. Am Ende habe ich nichts erreicht, wenn ich es mit unfairen Mitteln erreicht habe. Dann steht am Ende zwar der Erfolg (am Beispiel des Museums: ich habe meiner Tochter den Eintritt erspart, habe das Wunschbild am Handy, den Rahmen berührt), doch ich habe mich dafür selbst erniedrigt, weil ich dafür betrügen musste. Deshalb ist der Erfolg kein Sieg, sondern eine Niederlage. Weil er weiß, wie er zustande gekommen ist.

Von außen betrachtet, erreicht mein Leben vielleicht weniger, wenn ich nicht frech bin, es nicht sein möchte, wenn ich nicht die Frechheit besitze, meinen Anstand zu betrügen und meinen Willen respektlos durchzusetzen. Doch erreiche ich nichts, habe ich auch nichts verloren; habe mich nicht im Betrug erniedrigt, mich nicht selbst oder die Welt belogen – und mich damit zum Verlierer gemacht. Nicht nach außen hin, aber innerlich; denn Frechheit verliert. Sie ist schneller, einfacher, erfolgreicher, aber sie setzt die Frechen selbst herab, wenn sie die Frechheit besitzen, völlig bewusst frech zu handeln. Und in der Frechheit so zu tun, als gelten gewisse Regeln nur für alle anderen, aber nicht für sie. Und sich noch darüber zu freuen, damit durchgekommen zu sein.

Deshalb liegt mir das Scheitern so viel näher: es wirkt einfach aufrichtig. Wer ehrlich scheitert, hat menschlich nichts verloren. Wer mit Trug gewinnt, bleibt immer Verlierer.