Samstag, 14. Juli 2018

Semmeln und Mitleid

Heute möchte ich von einem Kollegen erzählen. Er trägt Brille, blondes Borstenhaar, bundesheerkurz, hat eine gewölbte Oberlippe, einen kindlichen, konstant verwunderten Blick. Er ist nicht „von hier“, wie man so sagt (wie so viele), er kommt aus einem anderen Land ins Museum, es könnte jedes sein, es ist der Kosovo. Die Eltern haben ihn nach der Schule hierher geschickt, allein. Er wohnt am schönen blauen Fluss, allein, geht zur Arbeit, allein, wird alleine nach Hause fahren. Wenn die Semmeln beim Bäcker knusperfrisch sind, freut er sich, er freut sich ehrlich und spricht euphorisch darüber. Seine Gedanken sind einfach, sein Weltbild ein Kind. Er glaubt felsenfest, dass jeder Chinese Karate kann, doch er glaubt es ohne Ideologie, ohne Vorsatz oder bösen Willen. Einmal soll er sich im Museum hingelegt haben, weil er müde war. Ein paar Mal hat er sich im Dienst verlaufen, einmal im Lift eingesperrt. Manche Kollegen reden nachsichtig über ihn, manche belustigt, andere meiden ihn, halten sein Tempo nicht aus, verzweifeln an der Schlichtheit. In manchen Firmenobjekten ist er gesperrt. Es heißt, seine Familie kommt ihn nie besuchen.

Ich sehe ihn selten, aber ich denke oft an den Kollegen, zuletzt träumte ich sogar von ihm: Wir arbeiten bei einer faden Gartenveranstaltung, ich drehe meine Runden um die Gäste, sehe ihn plötzlich am Boden liegen. Ich hetze zu ihm hin, beuge mich hinab – der Kollege ist zur Kindergröße geschrumpft, das Gesicht rot und verquollen, die hellen Bundesheerborsten zu fettigen, teerschwarzen Strähnen verwachsen; er muss etwas vom Catering genascht haben, kombiniere ich umgehend, eine allergische Reaktion, er bekommt keine Luft. Ich wiege ihn in meinen Armen, beruhige ihn, rede gut zu, bis er wieder größer und schwerer wird und die roten Wunden langsam verschwinden, der Atem zurückkommt. Er tut mir Leid, in diesem und in allen Momenten, denke ich noch im Traum, denke ich weiter, als ich aufwache.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich dabei ertappe, Mitleid mit ihm zu haben. Ich sehe ihn allein und glaube ihn einsam, ohne Familie, ohne Freunde, ohne reflektierten Geist. Und es stört mich, dieses vage, falsche Mitleid. Ich schreibe ihm Traurigkeit zu, obwohl ich kein Recht darauf habe, denn letztlich denke ich dabei wieder nur an mich selbst; ich fühle kein Mitleid, weil ich weiß, dass es ihm schlecht geht, ich fühle Mitleid, weil ich mir vorstelle, dass ich mich an seiner Stelle schlecht fühlen würde. Doch woher weiß ich, dass er nicht völlig anders empfindet, als ich es in seiner Situation täte? Wer sagt, dass er nicht glücklich und zufrieden sein kann mit seinem Leben, nur weil ich glaube, es nicht selbst führen zu wollen, mit mir?

Ich muss wieder daran denken, was André Breton in seinen surrealen Manifesten über die Tiere schreibt, diese Lebewesen, die wir ständig mit menschlichen Gefühlen ausstatten, und den Hund „treu“ nennen, nur weil wir unsere Eigenschaften auf ihn übertragen – was in Folge dazu führen kann, „Mücken für absichtlich grausam und den Krebs für vorsätzlich rückschrittlich zu halten.“ Breton nennt diese vermenschlichte Beurteilung der Tiere eine „bedauerliche Nachlässigkeit des Denkens“, und ich muss ihm zustimmen, diesem strengen Träumer, muss nicken und will noch ergänzen: Nicht nur unsere Beurteilung der Tiere ist vermessen und vereinfachend, auch die Einschätzung der Mitmenschen ist es; wenn sie wieder nur von sich selbst ausgeht und den Mitmenschen kein eigenes Erleben zugesteht – eines, das völlig konträr und unverständlich zu meinem eigenen steht; zu dem einzigen, das ich wirklich kennen kann, wenn überhaupt.

Wie kann ich mich anmaßen, das Empfinden meines Kollegen zu beurteilen, wenn ich ihn selbst nur flüchtig und oberflächlich kenne? Es ist völlig unnütz, es ist beschämend und beschränkt, dieses wertende, sture Denken, so wie Breton es bei einem (zutiefst intellektuellen) Hundeliebhaber feststellte, der felsenfest davon überzeugt war, was sein Hund für ihn empfindet – um sich damit selbst besser und geliebter zu fühlen. Und letztlich ist mein schnelles Mitleid auch bloß das: ein Weg, mich selbst besser zu fühlen. So als wäre ich es auch, als wäre irgendjemand besser als der Kollege, besser als der borstenblonde, junge Mann, der sich über frische Semmeln freut und ohne Hilfe in einer Stadt zurechtkommt, die ihm nichts geschenkt hat – und der im Übrigen niemals traurig aussieht, wenn ich ihn treffe.