Sonntag, 10. August 2025

Die unerwünschte Person

Sie ist jung, klein, witzig; schwarze Locken, helle Stimme, die Diensthose immer eine Spur zu kurz, ihre Gestik fein, sicher, pantominenhaft, sie trägt die Aura, die Präsenz eines Stummfilmstars – clownesk, aber nicht tollpatschig, herzlich, aber aufrichtig. Kurzum: es ist unmöglich, sich nicht über einen Dienst mit ihr zu freuen.

Ganz besonders heute, Anfang August, als ich sie nach Wochen wiedersehe, lebendig und heil, so herzlich, so quirlig, dass mir die Traurigkeit nicht sofort auffällt. Sie war im Heimaturlaub, wenn man es so nennen kann, denn sie ist Ukrainerin, und zum ersten Mal seit Beginn der Vollinvasion wollte sie die Eltern besuchen – das heißt, sie hätte es schon früher wollen, natürlich, doch Putins Truppen ließen es nicht zu: ihre Eltern leben im besetzten Süden des Landes, mussten sich den fremden russischen Pass aufzwingen lassen, können nicht in die freie Ukraine reisen. Sie wiederum kann nicht einfach so aus der Ukraine in die Besatzungszone rein, kann die Eltern nur (wenn überhaupt) über Umwege besuchen, muss ein absurdes persönliches Risiko eingehen, über Belarus nach Moskau reisen, sie hofft, von dort aus in die besetzte Zone zu gelangen, ihre Eltern, ihren Hund, ihr Kinderzimmer, alles wiederzusehen, was sie so abrupt hinter sich lassen musste.

Doch in Moskau hält man sie auf; der Pass wird ihr kurzzeitig abgenommen, das Handy durchsucht, schließlich wird sie abgewiesen und zurückgeschickt: eine junge, kleine, witzige Ukrainerin, die im Westen lebt, in „Gayropa“, wie der Russe sagt, sei eine unerwünschte Person. Keine weiteren Gründe, Erklärungen, wozu auch, ein Regime braucht keine Erklärungen, sie kann froh sein, dass sie nicht verhaftet wird, oder schlimmer noch: verschwindet (wie viele andere vor ihr). Zumindest, sagt sie mir heute, es ist ihr erster Dienst, seit sie zurück im Land ist, zumindest konnte sie ihre Mutter dennoch für ein paar Tage treffen – nicht zuhause, aber in einem Hotel in der Türkei. Sie konnte sie wiedersehen, doch kaum wiedererkennen – nach dreieinhalb Jahren auf erzwungener Distanz, dreieinhalb Jahren unter brutaler Besatzung, da war ihre Mutter alt geworden. Die Augen müde, leer, fremd für die eigene Tochter, wie sie mir monoton, beinah beiläufig erklärt. Und erst jetzt, beim nächsten Blickwechsel, sehe ich auch endlich die Anstrengung, die Traurigkeit im Gesicht der Kollegin, das tiefe Begreifen, zur unerwünschten Person gemacht worden zu sein, aus dem Kindheitsspeicher ausgegrenzt zu werden, all die Willkür und Hoffnungslosigkeit, die darin mitschwingt.

Es ist Sommer, August, es ist immer noch Krieg, und demnächst trifft der selbsternannte König von Amerika den selbsternannten russischen Zar, um über besetzte Gebiete zu verhandeln, die ihnen beide nicht gehören, während hier in meiner Stadt keiner mehr weiß, keiner wissen kann oder will, was Besatzung eigentlich bedeutet – außer Menschen wie der kleinen, mutigen Kollegin mit den zu kurzen Hosen, die heute weitaus mehr durchstehen muss, als nur einen weiteren Aufsichtsdienst.

Besatzung, sagt die Aktivistin und Nobelpreisträgerin Oleksandra Matwitschuk, bedeutet keinen Frieden; sie ist nur eine andere Form von Krieg. Manchmal genügt ein Blickwechsel, um das zu verstehen.

Montag, 28. Juli 2025

Ni más ni menos

Ich schreibe gerade sehr wenig. Im Grunde habe ich nie viel geschrieben, nie diese notorischen Vielschreiber verstanden, die von Text zu Text, von Werk zu Werk hetzen, sich jeden verdammten Tag zur selben Stunde vor den Schreibtisch begeben, das Dokument öffnen, so als hätten sie gar keine Angst vor dem falschen Wort, dem leeren Blatt, dem Scheitern, dem Verlust der Muse, dem Zweifel, ob sie jemals wirklich da war.

Ich dagegen habe immer Angst, kann gar nicht ohne sie schreiben – die Möglichkeit, das Gefühl, das vielleicht doch alles Quatsch ist, womöglich falsch, dumm, zumindest nicht gut genug (für wen eigentlich?), dieses Unbehagen verlässt mich nie wirklich; ich muss der Angst immer wieder trotzen, sie ständig überwinden, oder immerhin kontrollieren, wie der Hulk seine Wut, um zumindest hin und wieder etwas zu Papier zu bringen, das sich zumindest im Moment als richtig und wichtig angefühlt hat, bevor ich es kritisch gegenlese und hinter die Lücken sehe, die ich setze. Entsetzliche, wundervolle Lücken.

Doch, wenn ich ganz offen bin, gibt es noch einen zweiten Grund, warum ich wenig schreibe: weil ich es, trotz allem, sehr gerne tue. Und alles, was ich gerne tue, mache ich gefühlt zu selten. Vielleicht unbewusst, vielleicht bewusst, natürlich auch, weil ich faul bin (ehrlich faul, nicht bloß kokettierend, wie Borges). Vielleicht liegt etwas Liebe in der Faulheit, womöglich wieder eine Furcht, doch nicht ganz unberechtigt, es ist eine weitere Angst, die bloße Möglichkeit, mir den furchtbaren Genuss am Schreiben zu vermiesen, wenn es zur lieblosen Pflicht, zur alltäglichen Gewohnheit, schlimmer noch: zur einsamen Sucht wird.

Jemand hat mal auf die Frage, wofür er sich entscheiden würde, wenn er bis ans Lebensende nur noch eine Speise essen könnte, geantwortet: Ganz einfach, Polenta. Auf die Frage nach dem Warum, sagte er, Polenta mag ich jetzt schon nicht; lieber esse ich etwas, was ich ohnehin nicht leiden kann, als mir mein Lieblingsessen zu zerstören, weil ich es jeden Tag bekomme.

Die beste, exklusivste Speise verliert ihren Reiz, wenn ich sie täglich vorgesetzt kriege, irgendwann wird sie mir banal, vielleicht sogar unerträglich – und so verhält es sich mit allen Genüssen. Genieße, tue ich etwas tagtäglich, ohne Abstände, ohne Mut zur Lücke, verliert die Sache seine Besonderheit – und das ist, neben allen anderen, vielleicht meine größte Angst. Deshalb schreibe wenig, zu wenig vielleicht. Aber nie zu viel.

Donnerstag, 22. Mai 2025

Der Bücherfreund

Die Geschichte flog mir zu (wie man so sagt), während eines langen Spazierganges an einem kühlen, unaufgeregten, seltsam farblosen Tag, vielleicht April, vielleicht schon Mai, ich denke in letzter Zeit wieder weniger an den Kalender (ein gutes Zeichen?); der Bücherfreund ist ein nicht mehr ganz junger Mann, dessen Leidenschaft darin besteht, sich Bücher zu besorgen – „sammeln“ ist der falsche Begriff – er besorgt sie sich, wo immer er hinkommt, er kann nicht durch die Stadt spazieren, ohne an den offenen Bücherschränken stehen zu bleiben, kann nicht vor den Schränken stehen, ohne ein Buch zu entnehmen; alle Buchhändler, jede Verkäuferin kennt ihn, überall hat er schon eingekauft, er schafft es nicht, an einer Buchhandlung vorbeizugehen, ohne ein Buch zu kaufen. Er ist nicht reich, aber bescheiden, er kauft keine Kleidung, keine Aktien, keine Chemie, er kauft nur Bücher.

Seine Freunde, Kollegen, die Nachbarn kennen ihn nur mit einem Buch in der Hand, nie verlässt er die Wohnung ohne einem Werk (ohne mehrere Werke), immer hat er etwas zu lesen dabei. Was jedoch niemand weiß, was er (vielleicht unbewusst) wie ein furchtbares Geheimnis hütet: Der Mann hat nie gelernt zu lesen. Stundenlang kann er in einem Buch blättern, sich mit den Werken beschäftigen, die gedruckten Seiten anstarren – doch er versteht sie nicht. Er ist ein Bücherfreund, der nicht lesen kann.

Eines Tages fällt sein Geheimnis auf; augenblicklich verlieren die Leute den Respekt vor ihm; was sie früher bewunderten, stößt sie auf einmal ab, sie finden ihn jetzt hirnrissig, skurril, er macht ihnen Angst. Sie fangen an, ihn zu meiden. Eltern mit Kindern wechseln die Straßenseite, wenn sie dem Bücherfreund begegnen, alte Freunde wenden sich von ihm ab (sie tun es nicht aggressiv, sondern sanft, sie melden sich seltener, finden Ausreden, sind sehr beschäftigt). Doch der Bücherfreund lebt weiter wie bisher, er ändert sich nicht – warum auch – er kauft weiter seine Bücher, liebt und hegt sie, die schönsten und aufwendigsten Werke, sein Zimmer quellt über vor tausenden von Büchern, die er niemals alle lesen kann; weil er nicht lesen kann.

Was aber niemand, nicht einmal seine ersten Freunde, die letzten Verwandten begreifen wollen: Er ist nicht arm, nicht einmal hirnrissig. Er weiß, dass seine Bücherliebe absurd ist, doch es stört ihn nicht, hat ihn nie gestört. Im Gegenteil: Er liebt seine Bücher nicht obwohl, sondern weil er sie nicht versteht. Und vielleicht (denke ich, jetzt, am Ende dieser Geschichte, am Ende eines Spazierganges im Mai oder April), vielleicht ist das sogar die Bedingung, die stille Voraussetzung jeder wahren und tief empfundenen Liebe: Sie nicht verstehen, sie niemals vollständig begreifen zu können.