Freitag, 19. Juli 2024

Nur ein Albtraum?

Borges hatte wieder mal recht – kaum etwas bereitet mehr Vergnügen, als Chesterton zu lesen. Egal, ob ich den dicken Father Brown begleite, wie er in genuiner Gemütlichkeit Verbrechen löst, oder ob ich The Man Who Was Thursday (was für ein Titel) verfolge – immer erzeugt der Autor eine bübische Begeisterung in mir, weil ich in jeder Zeile seine endlose Schreibfreude spüre, die sich sofort überträgt, sich im Gesicht ausbreitet und lange anhält, sogar an schlechten Tagen. Vor allem an schlechten Tagen.

Wie groß Chestertons Freude am Spiel mit seinen Lesern war, zeigt sich am besten in einem Detail – einem Untertitel. Gilbert Keith Chesterton war ein Mann des Glaubens, doch was das Schreiben betraf, glaubte er an keinerlei Grenzen; Kategorien waren ihm zuwider, in allen Genres war er zuhause, er verteidigte den Unsinn in seinen Essays und das Triviale in seinen Kriminalgeschichten; und dann gibt es da noch dieses eigenartige Werk, das Donnerstag war, eine bizarre Agentenfabel um Identität und Paranoia, die so maßlos unterhaltsam und temporeich geschrieben ist, dass man beinah übersehen könnte, wie viel gewitzte Weltanschauung hinter all dem Dynamit steckt. Doch was ist dieser Text eigentlich? Im Listenfetisch meiner Zeit wird The Man Who Was Thursday ganz selbstverständlich als Roman gereiht, doch in der englischen Originalausgabe fehlt der Begriff. Stattdessen steht da ein simpler Untertitel, ein Hinweis, eine Warnung: A Nightmare.

Ein Albtraum, doch ein verdammt vergnüglicher. Allein, auch dieser Wink überzeugt mich nicht, denn dafür ist er zu eindeutig, zu absolut. Ich stelle mir vor, dass Chesterton das wusste; und deshalb ist auch der Untertitel bloß Teil des Plans, des größeren Spiels.

The Man Who Was Thursday ist 1908 auf der Insel erschienen, im gleichen Jahr, als ein Kärntner Künstler am Kontinent seinen einzigen Roman schrieb – aus der größten Krise heraus schuf Alfred Kubin sein Buch Die andere Seite, ein phantastischer Roman, Kultbuch, Hirngewichse (würde man heute sagen), und beide Werke weisen faszinierende Parallelen auf, erzählen gleichermaßen eine surreale Geschichte, die in einem absurden Finale gipfelt, schließlich in sich stürzt, unter Lawinen an Handlungen begraben, bis sich alles als Traum auflöst – doch während Kubins narrischer Erzähler am Ende in die Heilanstalt muss, führt Chestertons Albtraum bei seinem Helden letztlich zu einem erhebenden Gefühl, einer unerklärlichen Leichtigkeit, ähnlich wie ich sie empfinde, wenn ich Chesterton lese.

Und doch ist da noch mehr; denn warum bloß steht der Untertitel diesem Text voran, warum sollte Chesterton schon auf der ersten Seite den Paukenschlag vorwegnehmen, ja, noch betonen, dass es sich bei der Geschichte um doppelte Agenten und drollige Anarchisten „nur“ um einen Traum handle (als wäre ein guter Traum wenig)? Jemand, der so wirksam mit Wendungen und Spannung arbeitete wie er, hätte diese Pointe wohl ungern vorweggenommen – es sei denn, der Hinweis erzählt mehr, als er anzeigt, erzeugt Erwartungen, die er nicht hält; nicht halten will: War das alles wirklich erträumt? Ist der Held am Ende tatsächlich wach oder ist gar der Schlusspunkt die Traumflucht? Und liegt der eigentliche Albtraum nicht ohnehin ganz woanders als in der vordergründigen Handlung?

Betonung macht verdächtig, und der vorangestellte Verweis sorgt unvermeidlich für detektivische Zwangsgedanken; denn natürlich sollte man den Autor nicht immer beim Wort nehmen, und womöglich lockt der Untertitel ganz bewusst auf falsche Fährten, bringt mich überhaupt erst zum hintersinnigen Nachdenken, räumt die Möglichkeit ein, dass hinter der rasanten Traumlogik von Täuschung und Verfolgung noch eine weitere Erzählebene steckt, die sich nicht so einfach und eindeutig zu erkennen gibt, wie es ein unheilschwangerer Untertitel vorzugeben scheint. Der wirkliche Albtraum wäre, wenn sich Bücher in Zukunft nur noch auf eine einzige Art lesen lassen und kein Platz mehr für verspielte Doppeldeutigkeiten bliebe.

Gegen diesen Albtraum hat Chesterton angeschrieben – und zum Glück für die Nachwelt hatte er unendlichen Spaß dabei. 

Freitag, 12. Juli 2024

Mittwoch, 19. Juni 2024

Die falschen Schlüsse

Die Sonne scheint, immer noch, auf nichts Neues. Es ist Juni, ich sitze mit Beckett auf einer Holzbank im Park hinter dem Museum und warte, bis mein Dienst beginnt. Ich habe mich in den Park hingesetzt, in der naiven Freude und Hoffnung, hier in Ruhe lesen zu können, ungestört, bei guter Luft; ich habe kein Kapitel geschafft, da passiert es schon.

Ein älterer Mann kommt vorbei, fragt, ob er sich neben mich setzen darf, was ich nicht ablehnen kann. Um zu verdeutlichen, dass ich weiter lesen möchte, drehe ich den Körper ein paar Grad zur Seite, hebe unbewusst das Buch an, doch es ist zu spät. Der Mann fragt, was ich da lese, ich nenne Titel, Autor, und fühle mich aus irgendeinem Grund verpflichtet, ein paar erklärende Worte zum Inhalt auszuführen, obwohl ich weiß, dass es den Mann nicht interessiert, er gar nicht zuhört, denn es ist der klassische Einstieg, um auf sich selbst überzuleiten, er könne auch ein ganzes Buch schreiben, sagt er und macht diese Handbewegung, er hätte Geschichten zu erzählen, und natürlich erzählt er sie mir, ungefragt und ausführlich; obwohl, eigentlich, da erzählt er sie sich selbst. 

Der Mann ist heute (so sagt er es) stolzer und zufriedener Pensionist, blickt heute zurück auf ein reiches Leben: über dreißig Jahre war er Frachtpilot, hat nebenbei ein halbes Vermögen mit Immobilien gemacht, rechtzeitig verkauft und seinen zwei Söhnen aus zwei Ehen jeweils ein Haus auf einer spanischen Insel geschenkt, ihre Zukunft gesichert in diesen unsicheren Zeiten, sie machen gute Ausbildungen, aus beiden wird was werden. Der Mann wirkt mit sich im Reinen, als er davon erzählt, er hat abgeschlossen mit der Arbeit, mit den Frauen, genießt ohne Geldsorgen die Rente, den Lebensabend, genießt seine eigene Geschichte. Doch dann geschieht das Seltsame: unvermittelt entgleitet seine Erzählung in eine nostalgische Verbitterung, die sich zunehmend aggressiv gegen das Heute richtet: heute wäre es ja völlig unmöglich, so zu fliegen, wie er früher geflogen sei, die unzähligen Vorschriften, Regelwerke und Sicherheitsstandards dieser EU machen heute jeden Spaß am Fliegen zunichte, und überhaupt, die Frauen heute! – was er in seiner Pilotenzeit für Abenteuer mit den Frauen hatte, das sei heute vollkommen unmöglich, heute denken die Frauen nur an sich selbst, ausnehmen wollen sie dich und dein Geld verprassen, und überhaupt findest du heute keine mehr, mit der du einfach Spaß haben kannst, so wie früher, denn früher, da wollten sie noch … Aus dem ursprünglichen Bedürfnis, sich mitzuteilen, die Einsamkeit des Alters wegzureden, entblößt sich plötzlich eine absurde Wut gegen die Welt, die der Mann neben mir offensichtlich nicht mehr versteht – nicht verstehen will – und deshalb tut, was man in meinem Land am besten kann: ziel- und folgenlos zu schimpfen.

Als er dann ebenso abrupt noch gegen die NATO wettert und Putins Propaganda wiederkäut, da verabschiede ich mich zur Arbeit, war selten so froh, den Dienst vor mir zu haben, doch wenn ich noch mehr Zeit, mehr Mut gehabt hätte, wollte ich dem Mann auf der Parkbank etwas erwidern, das ihn – vielleicht – für einen Moment zum Schweigen gebracht hätte; denn das absolut bizarre an seiner bitteren Suada, denke ich später, war, dass dieser Mann auf der Parkbank sein eigenes, unfassbares Glück nicht sehen konnte – er hat finanziell aus- und vorgesorgt, hat zwei Kinder in Sicherheit, ist ohne Schaden durch Pandemie und Krise gekommen, muss nicht vor dem Krieg flüchten; und dennoch glaubt er (spürt er), heute in der schlechtesten aller Welten zu leben, dabei scheint die Sonne noch immer auf den gleichen Spielball, und die einzige Sache, die der Mann nicht akzeptiert, ist die verdammte Dauer des Spiels: in der verzerrten Wahrnehmung, dass früher alles besser war, liegt in Wahrheit nur der Schmerz, dass alles früher war; ein erstes Mal lässt sich nicht wiederholen, ein junger Körper nicht zurückbringen; Alter heißt Abschied, und wer ist schon gut im Verabschieden?

Es ist bitter und schwer, zu akzeptieren, dass sich die Spielzüge des Lebens nicht wiederholen lassen – doch es sind die völlig falschen Schlüsse, die der Mann aus seiner Spielzeit gezogen hat, die unumstößlich dazu führt, dass der Typ heute am Rand sitzt, und zwar allein, weil er sich dafür entschieden hat; frei nach dem Schutzpatron des schlechten Geschmacks, John Waters: ein junger wütender Mann ist attraktiv, ein alter wütender Mann ist ein Arschloch.

Wäre bei dem Mann auf der Parkbank die Dankbarkeit über das Gewesene größer als die Bitternis über das Fortschreiten der Zeit, dann müsste er vielleicht keine Selbstgespräche mit Aufsichten führen; dann würde sich vielleicht noch mal jemand zu ihm auf die Bank setzen. 

Donnerstag, 23. Mai 2024

Der Rattenfänger, neu erzählt

Eines Tages kam ein Fremder in eine kleine, unauffällige, für nichts besonders bekannte Stadt und bot den Bewohnern seine Hilfe an. Er hatte gehört, dass die Stadt schon seit geraumer Zeit unter einer Plage litt – Ratten hatten sich in rauen Mengen breit gemacht, und die Bewohner (die den Aberglauben nicht scheuten), sahen darin ein dunkles Vorzeichen, vielleicht einen Fluch, sie beteten dagegen an, doch es half nichts.

Der Fremde, ein Nagetierexperte, sah dagegen die Gefahr einer Seuche und bat um Erlaubnis, sich um die Ratten zu kümmern. Die Bewohner waren skeptisch (sie waren gegenüber allem Fremden skeptisch), doch in ihrer Not willigten sie ein und versprachen dem Mann eine reiche Belohnung, sollte er die Nager tatsächlich aus der Stadt bekommen.

Ohne Zeit zu verlieren, machte sich der Fremde an die Arbeit, er holte sein Instrument aus dem Koffer und bediente die Tasten. In jahrelanger, akribischer Forschung hatte er herausgefunden, dass die Nagetiere auf eine bestimmte Tonfolge hypnotisch ansprachen und ihrer Quelle folgten; das Lockinstrument war mit Lautsprechern an seinem Wagen verbunden, und so gelang es, sämtliche Ratten auf die Ladefläche zu treiben und aus der Stadt zu führen, in ein weit entferntes Forschungszentrum, wo ihr Verhalten weiter untersucht wurde.

Als der Fremde zurück in die Stadt kehrte, um sich seine Belohnung abzuholen, schlug ihm jedoch nur Ignoranz und Ablehnung entgegen. Dass er die Bewohner und ihre Kinder vor einer Epidemie bewahrt hatte, schien kein Mensch mehr zu glauben. Auch an eine versprochene Belohnung wollte sich niemand mehr erinnern, und diese technischen Spielereien des Fremden wolle man hier nicht noch mal sehen. Nach Meinung der Bewohner wäre die Plage von ganz allein weggegangen, da sie lange und fest genug dafür gebetet hatten.

Der Fremde war entsetzt; die Leugnung aller Tatsachen, die kollektive Lüge, der fehlende Dank, das alles erschauderte ihn. Und in dem Moment verstand er, dass die Stadt verloren war. Wer in so einem Klima aufwuchs, hatte keine Aussicht, keine Chance auf ein gesundes, aufgeklärtes Leben. Er dachte an die armen Kinder, ihre Zukunft, er war besorgt. Und er beschloss, zumindest sie zu retten, vor den eigenen Eltern, denen nicht mehr zu helfen war.

Wochen später, als die Bewohner in der Vorbereitung für das alljährliche Fest steckten und sich niemand um die Kinder kümmerte, kam der Fremder wieder und versprach den Kleinen, sie von hier fortzuschaffen. Heimlich brachte er so viele von ihnen wie möglich auf die Ladefläche seines Wagens und fuhr sie aus der Stadt, brachte sie in eine sichere, weit entfernte Einrichtung, wo man sich liebevoll um sie kümmerte, und nach und nach ans Licht kam, was in der Stadt zu lange verborgen blieb.

Der Fremde war danach nicht mehr gesehen. Es heißt, er litt unter dem Wissen, dass er nicht alle retten konnte; denn ein paar Kinder blieben in der Stadt zurück; sie waren bereits blind und taub für jede Hilfe, und unvermeidlich würden sie das Verhalten ihrer Eltern übernehmen, würden es den eigenen Kindern weitergeben, und auf ewig würde die Stadt kaputt und verlogen und skeptisch gegenüber allem Fremden bleiben.

Samstag, 23. März 2024

Über die Beschwerde

Eine der größten Errungenschaften der Demokratie ist die Möglichkeit der Beschwerde; persönlichen Unmut öffentlich kundtun zu dürfen, darauf hinzuweisen, dass etwas ganz gewaltig stinkt, dass dieses Land, dieser Laden in die falsche Richtung rennt, ohne deshalb mit Knast und  Knochenbrüchen rechnen zu müssen, das ist keine gegebene Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: es ist noch eine relativ junge Idee der Menschheit, die persönliche Beschwerde zuzulassen, sie zu begrüßen. Ich hatte immer die Vermutung, wo sich die Leute besonders laut beschweren, da geht es ihnen im Grunde ziemlich gut; denn wem es wirklich schlecht geht, dem fehlt die Kraft (und die Stimme) zur Beschwerde. 

Heute ist Donnerstag, der Frühling hat begonnen und die neuen Ausstellungen sprießen in der Stadt. Im Fürstenschloss bewache ich seit einigen Wochen eine barocke Sonderschau, die einem Fürsten, Mäzen und Bauherrn gewidmet ist, einem Herkules der Künste, wie ihn das Plakat bescheiden nennt, ein feinsinniger Sammler und mithin das schönste Doppelkinn des ausgehenden 17. Jahrhunderts (so prachtvoll, er ließ es auf einer Goldmünze verewigen). In sieben Räumen hängen unzählige Gemäldeschätze in allen Größen, dazwischen Herrschaftsbronzen und Sagenskulpturen, gewaltige Büchervitrinen und fernöstliche Porzellanmotive, und über allem wacht der Geist des Halbgottes, der eine ganze Raumdecke schmückt.

Das unerhört Besondere daran ist, diese Kunstschau darf bei freiem Eintritt bestaunt werden; ein Novum, fast ein Sakrileg in der heimischen, aktuellen Museumslandschaft, die seit dem erklärten Ende der Pandemie wieder Rekordzahlen mit Rekordpreisen schreibt. Doch hier, in dieser sechswöchigen Sonderausstellung gibt es Rubens und van Dyck für lau, für alle und jeden; es gilt bloß das übliche Jacken- und Rucksackgebot, die Abgabepflicht, die niemanden überraschen kann, und es dennoch immer wieder tut. Was unvermeidlich dazu führt, dass irgendwann irgendjemand den ersten Stein nach uns wirft: in einem Monat gab es zwei schriftliche Beschwerden über uns Aufsichten, weil wir getan haben, was mit Nachdruck von uns verlangt wurde – die Hausordnung durchzusetzen. Keine Überraschung, kein schlechter Wert, und doch ist etwas verblüffend an der Sache.

Als Museumsaufsicht bist du sehr nah dran an der Gereiztheit der Gesellschaft, du lernst, mit Ignoranz und Respektlosigkeit umzugehen, du bist die erste Anlaufstelle für aufgestaute schlechte Laune, du reagierst gelassen auf den Dampf, der dir entgegenkommt, weil es dein Job ist. Und du erkennst: Manche Menschen haben ein Talent dafür, sich ungerecht behandelt zu fühlen, sie finden einen Weg, ein generelles Verbot auf sich persönlich zu beziehen, und sie haben genug Kraft, sich darüber lautstark zu beschweren. Doch es gibt einen Punkt, an dem sich selbst die Beschwerde erschöpft; wie ich später erfuhr, handelte es sich bei einer dieser schriftlichen „Beschwerden“ bloß um einen Kommentar auf den verhetzten Sozialwerken, der nicht nur meine Museumskolleginnen, sondern das gesamte Ausstellungsteam beleidigte, es persönlich angriff, überempört und unter der Gürtellinie, wie im Netz gewöhnlich, doch verblüffend, ja, unbegreifbar für mich war die Reaktion des Hauses darauf: anstatt die Suada zu ignorieren, die eigenen Leute eventuell zu verteidigen, den gewählten Ton anzuprangern, wurde die hemmungslose Palaisbeschimpfung mit einer kleinlauten Entschuldigung belohnt: Tut uns Leid, wenn Sie eine schlechte Erfahrung bei uns gemacht haben. Beleidigen Sie uns bitte bald wieder.

Der letzte Satz wurde so nicht geschrieben, klar. Aber es läuft genau darauf hinaus: wenn der derbe, raue, unumwunden übertriebene Ton, der sich speziell im Internet entlädt, aufgrund von offensichtlichen Imageängsten als vollkommen normal gehandhabt wird, ermutigt das nur mehr und mehr Überreizte zur verbalen Entgleisung – weil auf sie eingegangen, weil ihnen recht gegeben wird. Weil kein Museum, kein Restaurant, keine Ordination sich durchringt zu sagen: So nicht.

Dieses unterschwellige Gefühl, dass sich der Ton an jeder Ecke verschärft, es zeigt mir wieder nur den wachsenden Schatten der Errungenschaft, die so simple und gefährliche Erkenntnis: Wenn die Grenze zwischen Beschwerde und Beschimpfung nicht klar gezogen wird, verschwindet sie.

Donnerstag, 15. Februar 2024

Der Brunnen in der Wüste

Wenig ist mysteriöser und inspirierender als das Verworfene; die schriftstellerische Karriere eines Arno Geiger fußt mitunter auf seiner geheimen Leidenschaft, die Altpapiercontainer der Stadt in nächtlichen Missionen nach privaten, aussortierten Dokumenten zu durchstöbern (ein Geheimnis, das er in seinem letzten Buch leider preisgab). Überall in der Stadt lauert das Geheimnis, es ist völlig dystopisch, sich eine Stadt ohne zu denken – ich erinnere mich, einmal im Mülleimer an einer U-Bahnstation einen weggeworfenen Liebesbrief entdeckt zu haben, genauer: das erklärte Ende einer Liebe; ich hatte dieses unendlich intime und tragische Papier damals aus dem offenen Behälter gefischt, verblüfft durchgelesen und wieder zurückgelegt. Obwohl ich in Versuchung kam, wusste ich (empfand ich), dass dieser Schatz nicht für mich, nicht für irgendjemanden bestimmt war. Manches will nicht gefunden werden. Anderes schon.

Es ist ein stürmischer Montagabend, als ich auf dem Weg nach Hause in die Straßenbahn steige und am Boden ein Papier entdecke. Unter einem leeren Sitzpaar liegt eine ausgerissene Buchseite; ich zögere kurz, dann hebe ich sie auf, wende und betrachte sie. Stil und Dialoge weisen auf einen Roman hin, es geht um einen Militärpiloten und Ich-Erzähler, der in der Sahara notlandet und dort zufällig auf einen vereinsamten alten Unteroffizier trifft; dieser Unteroffizier wiederum wartet auf die Ankunft eines ominösen Hauptmannes, und er feiert das Auftauchen des Bruchpiloten wie ein Wunder, wie die Entdeckung eines Wüstenbrunnens.

Es wäre nicht besonders schwer, herauszufinden, aus welchem Buch die Seite stammt und wer sie verfasst hat; der erste, spontane Gedanke tippt auf Antoine de Saint-Exupéry – ich habe zwar (wie alle) nur seinen kleinen Prinzen gelesen, doch ich weiß, dass er selbst Kampfpilot und von der Wüste so besessen war, dass er ständig und überall über sie schreiben musste, vielleicht schrieb er überhaupt nur eine einzige lange Wüstenmetapher – doch ich entscheide mich dagegen: Ich will das Geheimnis der Buchseite nicht aufgeben, das Rätsel um seinen Schöpfer nicht in Gewissheit auflösen; vielmehr interessiert mich, was neben dem Inhalt steht.

Irgendjemand hat diesen Textabschnitt mit Bleistift markiert und um ihn herum eine Notiz verfasst, ganze vier Mal steht sie da, in dringlichen, hektischen Großbuchstaben: LANGSAM LESEN. Dieser Hinweis, die mehrfache Graphitnotiz scheint mir spannender als die Suche nach dem Autor, sie ist der eigentliche Schatz, die Entdeckung dieser Straßenbahnfahrt: Sie sagt mir, dass sich diese Seite womöglich nicht zufällig aus einem alten Taschenbuch gelöst hat und unter die Sitze gerutscht ist, nein, die Botschaft „langsam lesen“ deutet ganz im Gegenteil darauf hin, dass jemand diese Seite ganz bewusst ausgerissen und in den Öffis platziert hat, in der Hoffnung oder dem Glauben, dass jemand sie entdecken und aufheben, den Text schließlich lesen und seiner hingerotzten Aufforderung nachkommen würde.

Und ich stelle mir vor, dass diese Person, wer auch immer sie ist, sich darüber freuen würde, wenn jemand diesem Fund einen eigenen, kurzen Text widmete, einen Text, der keine Antworten und keine Offenbarungen bereithält, sondern nur die schiere, sich selbst genügende Freude an der Entdeckung. Und in meiner eigenen (größeren) Hoffnung wird diese Person irgendwann auf meinen ausgelegten Text stoßen und im Lesen das gleiche rätselhafte Glück empfinden wie der einsame Unteroffizier nach der Notlandung des Erzählers.

Unwahrscheinlich, naiv, natürlich, doch darum geht es nicht. Auf einer einzigen, langsam gelesenen Doppelseite habe ich gelernt, dass es in der Wüste nicht bloß auf das Finden der Oase ankommt – sondern vielmehr, an die Existenz des Brunnens zu glauben.

Montag, 5. Februar 2024

Brief an Flaubert

Es gibt eine Stelle (eine einzige Stelle) in Salambo, an der so etwas wie Zärtlichkeit durchscheint. Sie findet sich erst im vorletzten Kapitel, nach einer schier endlosen Aneinanderreihung von unpackbaren Grausamkeiten und Bestialitäten, massenhaft zersplitterten Knochen, zerfetzten Körpern und geopferten Kindern, als bereits der Moloch in Karthago herrscht und das Volk dem Untergang geweiht scheint; durch drei Jahre Krieg muss man bis zu der Stelle hindurch, drei Jahre Kampf und Tod und Elend, weil uns Gustave Flaubert kein Detail erspart in seinen ultrabrutalen Schlachtenschilderungen, als hätte er selbst das Schwert geführt, das Kamel geritten und den Elefanten erlegt – es fällt tatsächlich schwer zu akzeptieren, dass es immer noch keine Zeitreisen gibt, denn Flaubert hat es gesehen, er war dort, während ihn die Familie einen Idioten schimpfte, wanderte er durch die Ruinen Karthagos, um sie zwischen zwei Buchdeckeln wieder aufleben zu lassen, zweitausend Jahre vor seiner Existenz, als dieses längst vergangene Reich noch eine pulsierende und prunkvolle Hafenmetropole, die Stadt der Städte war.

Ebenso schwer zu glauben, dass Flaubert sein blutverschmiertes Schlachtenepos direkt auf die Madame Bovary folgen ließ, zwei Werke, die so gar nichts gemeinsam haben außer einen Frauennamen im Titel, und selbst dieser täuscht noch: denn Salambo ist nicht einfach nur die Königstochter Karthagos, sie ist das umkämpfte Reich selbst – so wie der amerikanische Dichter William Carlos Williams in seinem Endlosgedicht Paterson den Gedanken poetisiert, jemand könne gleichzeitig eine Person und eine Stadt sein, so ist Salambo gleichzeitig die Tochter des Hamilkar und die antike Stadt, in deren Herzen sie lebt – sie steht nicht für Karthago, sie ist Karthago. Nur wegen ihr will der irre Söldnerführer Matho die Stadt um jeden Preis: Karthago zu erobern bedeutet, Salambo zu erobern. Indem er einen Krieg auf die nackten Schultern seiner Titelheldin setzt, treibt Flaubert das sture männliche Besitzdenken auf die Spitze: wenn Matho diese außerweltlich schöne Frau nicht für sich haben kann, so will er sie mitsamt der Stadt vernichten, und mehr aus persönlicher Kränkung, als aus militärischer Logik wird er Karthago mit seiner Armee von Barbaren belagern: „Wenn er ihren Leichnam gesehen hätte, wäre er vielleicht abgezogen.“ Und genau dieser letzte Halbsatz, dieses „vielleicht“, dass der Autor ihm in die Gedanken schreibt, es genügt, um zu verstehen, dass der gesamte Krieg, seine ungeheuren Konsequenzen und Verluste letztendlich nur ein Vorwand sind, um einer infantilen Emotion nachzukommen, dem ewigen Herrschaftsanspruch aus der Sandkiste: Das gehört mir – oder keinem!

Unendlich viel Leid, Blut und Terror bildet sich um dieses „vielleicht“, von dem der Feldherr der Barbaren nicht zurückkann, weil er sonst offenbaren müsste, aus welch absurdem Grund er den Krieg überhaupt begonnen hatte, er müsste sich (vor allem) Schwäche eingestehen – und das ist unmöglich, das ist unmännlich, das kann ein kompromissloser Weltliterat wie Flaubert nicht zulassen. Und doch schenkt er uns eine Stelle, in der genau das anklingt, sehr leise und kurz nur, aber doch: eine Liebe ohne Besitzdenken. Ein unmännlicher Umgang unter Männern.

Als sich eine kleine Gruppe von vierhundert blutdurstigen Söldnern – Etrusker, Libyer, Spartiaten – anschickt, gegen die gepanzerte Übermacht der Karthager in den sicheren Tod zu rennen, macht ihnen Hamilkar ein überraschendes Angebot: da er tapfere Soldaten wie sie brauche, „sollten sie auf Leben und Tod miteinander kämpfen, dann würde er die Sieger in seine Leibwache aufnehmen.“ Andernfalls würden sie alle von seinen Elefanten zermalmt werden. Beim Anblick der klingenbesetzten Herde scheint die Entscheidung klar, und doch zögern die Söldner plötzlich; diese vierhundert Männer, die nie ein Problem damit hatten, für ein wenig Sold zu schlachten, zu morden und bis in den Tod mit ihren Feinden zu ringen, sie waren über die Jahre zu unwahrscheinlichen und loyalen Liebenden geworden, Kameraden, deren gemeinsame Bände ihnen „ebenso ernst waren wie eine Ehe“ – und bei dem Gedanken, aufeinander losgehen zu müssen, da begannen sie unvermittelt zu weinen und zu trösten, sich schüchtern vom Nächsten zu verabschieden, bevor sie in trotzige Raserei verfallen und den anderen zu erlösen suchen: „Bisweilen“, schreibt Flaubert, „hielten zwei Männer blutüberströmt inne, sanken einander in die Arme und starben unter Küssen.“

Es sind die einzigen Zärtlichkeiten, die in Salambo ausgetauscht werden, und sie werden nicht seiner geisterhaften Titelheldin zugestanden, sondern einer Gruppe von mordenden Männern, die sich gegenseitig zur Familie, zu einer Heimat geworden sind, die sie niemals hatten. Und nicht in den seitenlangen Angriffen und Gegenangriffen, der grenzenlosen Gewalt und Vernichtung der Völker, sondern in genau diesen zärtlichen Küssen zeigt sich die Absurdität des Krieges am eindringlichsten: weil es diese ehrliche Hingabe, diese „unsittliche Bindung“ und offene Liebe unter Männern ohne den Krieg gar nicht geben würde, niemals geben könnte.

Dass es erst einen Krieg braucht, um eine solche Verbundenheit zu ermöglichen, ist die vielleicht grausamste Pointe in einem Werk voller Grausamkeiten. Nur folgerichtig, dass Flaubert der Szene ein unerbittliches Ende setzt: Anstatt sie in seine Leibwache aufzunehmen, lässt Hamilkar die überlebenden Söldner nach dem qualvollen Todeskampf mit ihren Kameraden an eine Wasserquelle führen – und sie dort hinterrücks erdolchen.