Donnerstag, 6. Januar 2022

Die Welt als Museum

Nach kurzer Bauzeit eröffnete das Museum im Januar 2020 und ist seither frei zugänglich und täglich geöffnet, sogar an Feiertagen. Es zeigt das kontinuierliche Lebenswerk eines einzigen, ehrgeizigen Künstlers, der es sich zum Ziel gesetzt hat, die gesamte Weltbevölkerung zu porträtieren, weshalb die Sammlung ständig am Wachsen ist.

Während der Ausgestellte seine Bilder mit einem prägnanten Künstlernamen signiert, bleibt seine wahre Identität bis heute ein Rätsel. Es gibt Gerüchte, er stamme aus China; tatsächlich weiß man weder seine genaue Herkunft, noch sein Geschlecht oder Alter. Niemand hat ihn jemals persönlich zu Gesicht bekommen, er versteckt sich so gezielt und bewusst hinter seinem Werk, dass viele an seinem Genie zweifeln, manche glauben sogar, der Künstler existiere gar nicht, sein gesamtes Schaffen sei nur gefälscht oder computergeneriert und somit keine echte, keine wahre Kunst. 

Nicht wenige Gäste üben sich deshalb in Kritik; obwohl die Ausstellung für alle gratis ist, sind sie wütend, sauer auf die Museumsleitung, verlangen eine radikale Neuausrichtung des Hauses, die alternative Positionen zulässt und diversere, kollektive Arbeiten abseits des kulturellen Mainstreams zeigen soll, anstatt jahrelang einem einzigen Künstler den gesamten Raum zu geben. Zudem zeigen sich viele irritiert von den kleinformatigen, aus der Ferne kaum erkennbaren Porträtdarstellungen des anonymen Künstlers und setzen sich konsequent über die Abstandsregeln im Museum hinweg. Die schlecht bezahlten Aufsichten wiederum fühlen sich von der Museumsleitung im Stich gelassen, sie wirken zunehmend entnervt und überfordert von den ständigen Bildalarmen, weil wieder einmal jemand (bewusst oder versehentlich) ein Kunstwerk berührt hat.

Ständig müssen die Porträts deshalb von Experten überprüft werden, immer häufiger kommt es zu Schäden an den Bildern durch Unbedachtheiten und vorsätzlicher Ignoranz; die meisten dieser Schäden können in der Restaurierung kaschiert werden, doch manche Werke sind selbst von den besten Restauratoren nicht mehr zu retten. Während die Ausstellung in ihrem Umfang weiter anwächst, verschwinden somit viele ältere Portraits aus der Sammlung und hinterlassen eine trostlose Lücke an den Museumswänden.

Umstritten bleibt die Frage, ob gegen mutwillige Vandalen ein striktes Hausverbot ausgesprochen werden soll, was sich wiederum gegen den inklusiven Museumsanspruch richten würde. Statt des generellen Kunstverbots überlegt die Museumsleitung deshalb, bei wiederholten Bildberührungen empfindliche Geldstrafen zu verhängen, um in den Köpfen der Gäste für mehr Respekt vor der Kunst zu sorgen.

Andere, allzu vorsichtige Personengruppen bleiben dem Museum von sich aus fern, weil sie fürchten, eines Tages ihr eigenes Porträt an der Wand zu entdecken. Wo sich von Anfang an reger Protest gebildet hat, weil der Künstler seine Bilder ohne Einverständnis der Porträtierten malt, spüren die Schüchternen, Abwesenden eine stille Angst, nicht mit ihrer Darstellung im Museum umgehen zu können, weshalb sie sich selbst isolieren und mit dem Künstler nichts zu tun haben wollen. Sie verschließen sich komplett und freiwillig vor der Kunst, doch es geht ihnen nicht gut damit; der stete Kulturmangel drückt auf ihre Seelen.

Aus Sorge um sie wurden neue Angebote geschaffen. Die Museumsleitung bietet heute mehr und mehr Führungen an, um die verunsicherten Gäste von speziell geschulten und erfahrenen Kunstvermittlern davor zu schützen, im Museum auf sich selbst zu treffen, zudem werden kostenlose Audioguides zur Verfügung gestellt, um sich Hintergründe anzueignen und der eigenen Skepsis vorzubeugen. Zögerlich, aber doch werden diese Angebote wahrgenommen, auch wenn die sturen Führungsinhalte von allen kritisch beäugt werden, die sich lieber frei durch das Museum bewegen und sich in der Art und Weise, wie sie Kunst interpretieren, von niemandem bevormunden lassen wollen. Auf der anderen Seite werden die Ausführungen der Guides oft als unverständlich, verwirrend und mitunter zu kurz gegriffen kritisiert.

Dabei ist heute die große Frage, was Kunst eigentlich ist und was Kunst überhaupt darf, wieder neu entbrannt. Viele Gäste können mit dem Konzept des Künstlers nicht viel anfangen, manche begreifen die zahllosen Bilder – und vor allem ihre Lücken – als verstörend, abschreckend, geschmacklos. Wieder andere empfinden das Werk an sich als größenwahnsinnig und absurd, sie sind der Meinung, die Museumsgelder wären woanders besser aufgehoben, sie können oder wollen den Erfolg des Künstlers nicht nachvollziehen, obwohl sie ihn mit ihren Besuchen (ihrer Empörung) noch unterstützen. Nicht wenige fordern wiederum die komplette Schließung des Museums, damit die leidigen, längst aus dem Ruder geratenen Kunstdebatten endlich ein Ende haben.

Doch egal, wie man zu den Bildern und der Museumspolitik schlussendlich steht, in einer Sache sind sich alle einig, auch wenn es manche nicht wahrhaben wollen: Das Werk des Künstlers lässt niemanden kalt. Es hängt, und es wird weiter ausgestellt, so lange, bis es nicht mehr erregt.