Samstag, 12. September 2020

Die schwarze Venus

Ein Bild, dem ich immer begegne, wenn ich im Fürstenschloss meine Runden drehe, ist die Venus im Spiegel von Peter Paul Rubens. Natürlich ist sie von Rubens, muss es sein, nur von ihm kann so eine fleischige, dralle, überquellend üppige Fantasie einer idealen Göttin stammen. Sie zeigt mir den nackten Rücken, während Amor ihr den Spiegel hält, ihre Lippen sind voll, ihr Blick sieht zu mir, kokettiert mit dem Betrachter. Sie ist das Vorbild aller Pin-Ups, die Idealvorlage heutiger Netzmodelle, die alle nach ihrer Pose suchen: Blick über die Schulter, Schmolllippen, die unnatürlichste Pose der Welt. Sie alle inszenieren sich, posieren für den Effekt, von dem sie wissen, dass sie ihn erzielen: einmal das Ideal festhalten, einmal nur Venus sein. Doch in Rubens’ Meisterwerk steckt mehr als die vordergründige, eitle Göttin, da ist noch etwas, das den vielen Insta-Quadraten abgeht, ein Detail, kaum sichtbar auf den ersten Blick: rechts oben im Eck, da ist eine dritte Person – Amor hält Venus den Spiegel, doch ihr goldenes Haar, das hebt ihr die schwarze Magd.

Rubens hat sie dort hinten ins Bild gepinselt, im Grunde nur, um die strahlende, makellos helle Schönheit der Venus noch zu betonen, die Kontraste zu erhöhen, doch für mich ist sie die eigentliche Augenweide; sie betrachte ich zuerst, wenn ich auf das Bild blicke, und obwohl (oder weil) Rubens sie so grob in die Dunkelheit setzte, ein paar aufhellende Akzente um den Mund geschmiert, erscheint sie mir wahrhaftiger und lebendiger als die starre Perfektion der goldgelockten Göttin, jeder Göttin.

Dieses flüchtige Profil, ihre ausgeprägte Wange, die Nase, ihr bedächtiger, uneitler Blick, alles an der dunklen Unbekannten, der namenlosen Magd wirkt auf mich betörend, ja, natürlich schön – sie repräsentiert eine Natürlichkeit, die den überhöhten Darstellungen seiner Zeit voraus war (meiner Zeit voraus ist), formt eine zeitlose Schönheit, die sich nicht in den Mittelpunkt drängen muss, weil sich wahre Schönheit niemals aufdrängt. Und deshalb ist sie für mich das eigentliche Ideal.

Der Künstler bestimmt die Darstellung, aber ich bestimme, was ich darin sehe. Und mit jeder Runde durch die Sammlung sehe ich diese heimliche, schwarze Venus – über dreihundert Jahre vor Pan Yuliangs Aktkritik in Schwarzweiß – diese unbewusste Schönheit, die sich ein Leben lang im Hintergrund hält, die überhaupt nur im richtigen Licht gesehen werden kann – und mir jedes Mal den Tag erhellt, weil sie etwas besitzt, dass allen fehlt, die so verbissen nach der perfekten Pose streben. Sie weiß nicht, ist sich dessen nicht bewusst, dass ich sie ansehe, denkt gar nicht daran, was sie in mir auslöst, hat keinen Drang, sich zu inszenieren. 

Das Ideal liegt nicht im Spiegel, es liegt im Hintergrund; dort ist das Schöne zu suchen. Dort existiert es, immer und jederzeit, noch wenn der letzte Spiegel zerbrochen ist. Denn Rubens' Magd, seine heimliche schwarze Venus muss sich niemandem präsentieren, sich niemals schön machen; sie ist es.