Samstag, 30. Dezember 2017

Der Meister der Nische

Nach langer, viel zu langer Zeit gehe ich wieder einmal ohne Dienstanzug ins Museum, sehe mir die Rubens-Schau in der kunsthistorischen Konkurrenz an. Es ist ein süßes Gefühl, die Aufseher des Hauses einmal im Licht der Freizeit zu betrachten, einmal zum Beobachter der Beobachtenden zu werden, und still mit ihnen mitzufühlen, wenn die Bildalarme losheulen und die Dienstanzüge durch die Räume hetzen. Fast verliere ich mich in ihren Gesten und Gesichtern und muss mich erst daran erinnern, für wen ich eigentlich hier bin.

Rubens, ein Name so klingend wie ein Popstar (der er auch war), ein „Tarantino der Malerei“, wie ihn das Staatsfernsehen wenig subtil bewarb, ein stilistisches Vorbild für alle Graphic-Novel-Pioniere und Superheldenzeichner, die ihre Ästhetik aus wild wuchernden Muskelbergen und übertrieben üppigen Schenkeln beziehen, aus dem Fleischlichen, Schwitzenden, Unverhüllten, Sinnlichen. Überall posieren die Überkörper in makelloser Anspannung, und doch fehlen hier, in dieser umfangreichen, ausgelasteten Ausstellung, ein paar wichtige Werke. Ich stelle es ohne Überraschung fest, weil ich weiß, wo sie wohnen: In meinem zweiten Wohnzimmer, dem Fürstenpalais. Dort, im ersten Stock, treffe ich sie alle paar Wochen, grüße Rubens’ intimste, spannendste Bilder bei privaten Führungen, freue mich jedes Mal auf ein Wiedersehen mit dem Porträt der beiden Söhne, dem Bildnis der Tochter, der Venus im Spiegel.
                                                                                        
Sie alle fehlen hier. Stattdessen wollen meterhohe Kirchenthemen und antike Mythenfiguren überwältigen (sie tun es), und dennoch hält mich erst ein spätes Bild in den letzten Räumen, ein Bild, das aus Rubens’ Ölmassen massiv heraus sticht. Es ist Der gefesselte Prometheus, eine lebensgroße Darstellung des göttlich Gestraften, dem ein Adlervogel die Leber zerfrisst, gewohnt dramatisch, kraftvoll und explizit. Doch etwas ist anders an diesem Werk, etwas hebt es ab, etwas stimmt nicht mit den Strichen.

Es steht darunter, winzig klein, wie eine Fußnote, eine marginale Ergänzung, fast schon ein Gefallen, es zu erwähnen: der Adler im Bild, der geflügelte Henker, der den Prometheus Tag für Tag verzehrt, stammt nicht von Rubens. Er stammt von einem anderen, flämischen Malergenie, nämlich von Frans Snyders. Er muss es tun, denn er ist zu gut, die Federn zu genial, um von irgendjemand anderem zu sein, außer ihm; wenn Rubens der Tarantino seiner Zeit war, dann war Snyders der Andy Serkis seiner Zeit – derjenige, der immer dann angefordert wird, wenn irgendwo eine Tierdarstellung vonnöten ist. Denn Snyders konnte Tiere zu Leben erwecken wie kein zweiter, er verstand es, Vogelwesen, liegende Löwen und erlesene Meeresgaben enzyklopädisch genau wiederzugeben, sie zu zeigen, als wäre er einer von ihnen. Als wäre er ein Adler in Mannsgestalt, allein, um seine Artsverwandten malen zu können.

Er war der vielleicht größte Tiermaler seiner Zeit, doch er war die Nummer eins in einer Nische; deswegen strömen die Generationen zu Rubens und nicht zu ihm, deswegen ist eine Erfolgsschau nach dem Popstar benannt und nicht nach dem Charakterdarsteller. Und ich stelle mir vor, Snyders wusste das. Er wusste, dass er mit dem, was er tat, nie so berühmt werden könnte wie ein Rubens, weil seine Perfektion nie aus der Nische treten würde. Und egal, wie brillant und dynamisch sein Adler im Prometheus auch ist, es bleibt ein Adler, der ein Rubensbild vollendet. Es ist ein gefühltes „nur“, das leise in Snyders’ Nische durchklingt: Er ist „nur“ für seine Tiere bekannt, er hat Rubens’ Meisterwerke „nur“ ergänzt, weshalb wir uns heute nur an Rubens erinnern.

Doch woher stammt es, dieses „nur“? Und wenn nur ich es ihm zuschriebe? Es ist eine dumme, eine unnötig angelernte Denkerei, gut und gut so zu vergleichen, als ob man sich zwischen ihnen entscheiden müsste – und es macht mich wütend, dieses Denken, ich mag es nicht, will es abschaben wie ein Stück Hautkruste, mag es zurücklassen und mich sofort dafür entschuldigen ... Vielleicht in Form eines kleinen, persönlichen Textes, dessen Titel nicht an den großen Popstar, sondern an den kleinen, meisterhaften Kollegen gerichtet ist, der so viel mehr war als nur eine freundliche Fußnote – denn ohne Nischen keine Ganzheit, ohne Details keine Größe, und ohne Adler kein Prometheus. Ich stelle mir vor, Snyders wusste das.

Sonntag, 24. Dezember 2017

Über das Lachen

Montaignes Schule ist einfach: genieße und denke und höre endlich auf, zu jammern. Doch weil alles Einfache unmenschlich schwer zu befolgen ist, sind die simpelsten Lehren auch oft die einsamsten, und nicht selten werden sie komplett vergessen und verdreht, wie die Gebote; so auch eine der kürzesten Schulstunden des Montaigne, seine simple, ernste Aufforderung, lachend die Wahrheit zu sagen. Denn „nie hat einer, der finster dreinblickt und abstoßend wirkt, etwas ausgerichtet.“

Die Probe der Zeit sieht das natürlich anders: Die finstere Gegenwart belächelt dieses Lachen, schmäht das lächelnde Gemüt, das nicht produktiv ist, das keine Kompetenz ausstrahlt und immer irgendwie als stumpfsinnig oder verdächtig empfunden wird, während der finstere, steinerne Blick für wahre Autorität in seinen Worten sorgt. Regelmäßig beobachte ich, wie mein (un)bewusstes Lächeln dagegen nur Verwirrung stiftet, wie eine lachende Antwort auf eine wahllose Frage im Gegenüber etwas Bedrückendes auslöst, eine Grundskepsis, als fühlte es sich belogen und betrogen – doch warum sollte ich, sollte irgendjemand im Lachen lügen? Die Lüge ist vorsichtig, verhalten, immer auf der Hut, enttarnt zu werden (sie muss es sein). Sie lebt in permanenter Gefahr, in Anspannung aller Muskeln, in Furcht um ihr baldiges, absehbares Ende – wie könnte sie dabei entspannt lächeln? Sie tut es eben nicht. Sie ist ernst, allzu ernst, und steinern lebt sie ein Leben, das alles haben kann; nur ein echtes, ein wahrhaftiges und befreites Lachen, das muss der Lüge verwehrt bleiben, denn dazu kann sie nicht fähig sein, ist es niemals gewesen.

Es ist aber jener beeindruckende Trick des Schauspielers (der in seiner Rolle verschwindet), gelassen zu lügen und grimmig die Wahrheit zu berichten, der die allgemeine Wahrnehmung scheinbar mühelos verschoben hat, und Montaignes Schule und sein lachendes Credo ins Gegenteil verzerrte; der es geschafft hat, sein Publikum (das breite) soweit zu bringen, eine lachende Wahrheit als unglaubwürdig wahrzunehmen. Es ist dieses finstere Selbstverständnis, das mich heute bedrückt: Spreche ich die Wahrheit mit einem breiten Lächeln, werde ich mit Skepsis beäugt. Lüge ich mit steinerner Mine, glaubt man mir jedes Wort.

Dienstag, 12. Dezember 2017

Masse und Meter

Regeln, die für das Individuum lächerlich erscheinen, finden zumeist in der Masse ihre Berechtigung. Das paradoxe daran ist, je größer die Masse, desto gröber, haltloser wird mitunter die Regelauslegung. Da, wo die Einhaltung der Regel ihren eigentlichen Sinn erfährt, da ist sie schon dem regellosen Diktum der Masse ausgeliefert, schnell zertrampelt von der animalisch-einheitlichen Herdenbewegung, in der das Individuum schnell verschwimmt und schließlich untergeht.

Heute ist Samstag, das Fest der Liebe naht, und das Museum platzt aus seinen Nähten. Es ist zu viel, denke ich, hier, im ersten Stock der Touristensammlung, einfach zu viel, von allem, von überall, zu viele Beine, zu viele Schultern, zu viele Ellbogen; nur Respekt, davon ist wie immer zu wenig in der Herde. Es ist ein seltsames Spiel der Verhältnisse: Ich beobachte, wie sich erwachsene Menschen völlig gedankenlos und ohne jeden Respektabstand gegen jahrhundertealte, unwiederholbare Kunstschätze lehnen, während sie an anderer Stelle ehrfurchtsvoll stehen bleiben, um einem Pärchen nicht in den Schnapsschuss zu laufen.

Ich stehe heute auf der Marathonposition im ersten Stock, wobei stehen hier keine Option ist, der raue Ton des Oberaufsehers verlangt nach Bewegung, bei diesen Massen gibt es keinen, darf es keinen Stillstand geben, ich muss in fünf Räumen zugleich sein, und dazwischen im Marmorsaal, der Besucher- und Himmelsrichtungen trennt. Ich hetze von Nordsüd nach Nordwest und wieder retour, vier Stunden bis zur ersten Pause, und mit jedem Schritt, mit jedem Meter wächst die Masse um mich herum, wie eine Armee stürmt sie das Schloss in überlegener Anzahl, schickt sogar ihre Kinder in das Getümmel, und nicht selten vorauseilend, rennend, ohne jede Furcht.

Die Jackenregel, obsolet, das Rucksackverbot, aufgehoben; die Garderobe funkt wiederholt ihre Überforderung durch, verlangt nach Unterstützung, sofortiger. Es ist Mittag, der erste Bildalarm tönt mir in den Ohren, Van Goghs Landschaft bei Auvers wurde angegriffen (es hat einen Grund, warum sie hinter Glas konserviert), ein schneller, prüfender Blick in Nordwest 2, ein Funkspruch an die Zentrale, mit dem Bild sei alles in Ordnung. Und wieder retour. Ich zähle meine Schritte nicht mehr, komme nicht dazu, Meter für Meter muss ich Wege durch die Masse finden und das Gröbste verhindern, den Mund in halboffener Krampfstarre ob der ständigen Gefahr, die in allen Räumen lauert, den vielen blinden Umdrehungen gegen den reitenden Napoleon, den ausgestreckten Händen zu Messerschmidts Büsten; Statuen und Goldrahmen befassend, als wären sie robuste Spielzeuge, oder zutrauliche Tierchen, die nur darauf warten, gestreichelt zu werden.

Es ist zu viel, denke ich wieder, zum ersten Mal, seit ich in diesem Objekt arbeite, zu viel Andrang, zu viel Masse, zu viel Handykameras für zu wenig Platz. Natürlich gab und gibt es immer wieder Herdenschübe, hier, wo das Gold zuhause ist, doch nie in dieser Dichte, in dieser umsatzstarken Enge, in der kein Platz für Platzangst ist. Dieser Samstag, diese Masse, das ist neu. Ein Rekordjahr, bestätigt mir die Direktion (in der Zeitung, kurz darauf), ein neuer Besucherrekord und veritabler Jubelumsatz, der sanft angehobene Eintrittspreis und die längeren Öffnungszeiten dabei sicher nicht nachteilig. Und auch schon neue, verkaufsfördernde Ideenkonzepte für das nächste Jahr, ein veritables Rezept, um die Masse noch weiter und noch gehaltvoller aufgehen zu lassen.

Manchmal, zwischen den Metern, da frage ich mich, wie viel Platz es eigentlich braucht, um ein Kunstwerk für sich zu erfahren. Ob es dafür nicht einer Regel bedarf, selbst wenn sie für den Einzelnen lächerlich erscheint. Natürlich, ich weiß, es sind die falschen Fragen. „Die einzig wichtige Frage ist“, sagt ein Kollege in der Mittagspause trocken, „wie bekommen wir noch mehr Menschen ins Museum?“

Freitag, 8. Dezember 2017

Der Dreisekundenmensch

Er wird auch scherzhaft Der Goldfisch genannt, frei nach der Mär vom sekundenkurzen Fischgedächtnis, das sich im engen Wasserglas mit jeder Schwimmrunde erneuert; und damit immer etwas zu entdecken hat, immer wie neu in der Glaskugel ankommend, immer das Wasser betrachtend, als sähe er es zum ersten Mal.

Bei ihm aber ist es keine entschuldigende Erfindung, ist es nicht behauptet oder gespielt. Er kennt gar kein Spiel, kennt kein „als“ oder „ob“, weil er nichts kennt, was die Dreisekundengrenze überschreitet. Er weiß nichts von Druck oder Enttäuschung, hat weder Hohn, noch Hass in sich, weil er sich nichts davon merken kann. Jedes abzielende, aggressive Gefühl muss durch Erfahrung und Schule angelernt werden, doch dafür hat er keine Zeit, denn niemand, nicht einmal der Genius, lernt in drei Sekunden zu hassen. Er aber, der Goldfisch, besitzt nichts Hässliches, besitzt gar keine Gefühle, außer die natürlichen, instinktiven, denn sie allein sind es, die kein Gedächtnis verlangen; sie setzen einfach ein. Wird er müde, schläft er ein, knurrt der Magen, sucht er nach Nahrung.

Er lebt im ständigen Werden, sein Alltag ist permanente Neuerung, sein Staunen ein Dauerzustand. Für drei Sekunden ist er Mensch, nicht länger, denn danach hat er sich selbst vergessen, und ohne Erinnerung existiert der Mensch nicht, ohne Erinnerung ist er nur ein Menschentier, ein Männchen oder Weibchen, ein Exemplar seiner Spezies, nicht mehr. Im Vergessen, da trifft dies auf ihn zu, da reduziert er sich auf den namenlosen Zweibeiner, doch dazwischen, in jenen drei Sekunden, bevor sein Gedächtnis zurück auf Anfang stellt, da sieht er so klar, so konturiert, so allumfassend naiv, wie ein Neugeborenes, das mit schärfsten Sinnen und vollem Bewusstsein zur Welt kommt.

In diesen drei Sekunden lebt er. In ihrem Vergessen stirbt er. Alle drei Sekunden erschafft er sich neu, erlebt er ein neues Leben; alle drei Sekunden ist er der allererste Mensch, ist er Adam, ist er Columbus, ist er Galilei – und alle zugleich und immer wieder. Was für mich ein Gähnen ist, bedeutet für ihn eine Lebenszeit, ein ganzheitliches Dasein: Drei Sekunden sind seine Ewigkeit. Und er lebt diese Ewigkeit, lebt sie wieder und wieder und wieder von neuem, er lebt die radikale, zwanghafte Unwiederholbarkeit der Dinge, weil sein Gedächtnis keine Routine zulässt. Wie es sich wohl anfühlen muss, aus nichts außer ersten Malen zu bestehen? Er wird es nie erfahren.

Montag, 4. Dezember 2017

Samstag, 2. Dezember 2017

Perspektiven

Es ist Abend, finster, ich gehe hinaus Richtung Supermarkt, um mir etwas zu kaufen, das ich nicht brauche. Ich hätte in der wohlig warmen Wohnung bleiben können, stattdessen trete ich auf den seimigen Asphalt, verschmutzt vom ersten Schnee, und sturer Wind weht mich an, verfolgt mich, als hätte er einen Grund. Die Marktstände am Eck schließen langsam, bauen ihre Regheit ab, ich stapfe vorbei an den zahllosen Verkäufern und Marktschreiern, die immer wirken, als steckten sie mitten in einer Plansequenz, die immer gerade irgendetwas tragen, schieben oder abstellen, und hier und da steht ein dunkelhäutiger Junge zwischen den Ständen, steht da und blickt mich stumm an, sonst nichts; ich gehe weiter und friere, wie immer, wenn es kalt ist.

Im Supermarkt ist wenig bis nichts los, bald stehe ich mit meinen wenigen Zufallsprodukten an der Kasse, vor mir nur ein gebückter Mann in schwarzer Jacke, er zahlt für eine einzelne, grelle Discounterdose, sonst nichts. Der Verkäufer nimmt das Geld entgegen, blickt dabei prüfend auf die ausgestellte, schwarze Jacke, fragt den Mann, was er da hat. Die schwarze Jacke versucht müde abzublocken, doch der Verkäufer hat die Hand bereits am Stoff, zerrt an der Seite, erkennt sofort den Inhalt und seufzt vor Enttäuschung. Dem Ertappten entfliehen beschämte, leise Sprachfetzen, ein gebrochenes „Hunger“, „Essen“, der Verkäufer hält ihn weiter fest, schiebt ihn dann genervt zur Seite und nimmt meine Ware auf; ich halte die Münzen schon bereit, zahle auf den Cent genau.

Im Abgehen drehe ich mich noch einmal zurück, noch einmal zu der schwarzen Jacke, dem traurigen, furchenreichen Gesicht, und ich komme nicht um einen mitleidsvollen Gedanken herum, male mir im Kopf die lange Kette an Konsequenzen aus. Mein Blick kreuzt den des Kassiers, er sieht mich aufmerksam an. Ich zögere, zittere, dann frage ich langsam, was er denn eingesteckt hat, ob es teuer sei. Der Kassier versteht sofort, er schüttelt sanft den Kopf, es gehe eben nicht darum, erklärt er mir mit feinem, südländischen Akzent, wenn der Kerl nur etwas zu essen wollte, würde er ihm selbst das Geld stellen, aus eigener Tasche; doch wenn jemand Woche für Woche für fünfzig Euro stielt, dann fühlt man sich irgendwann einfach verarscht. Sagt der junge Kassier in aller Ruhe, während er bereits die nächste Kundschaft bedient.

Ich stehe immer noch da, nicke ihm still zu, begreife etwas, und drehe mich langsam um. Die Schiebetür öffnet und ich trete wieder hinaus in die Kälte, gehe den feuchten, schmutzigen Weg zurück, den ich gekommen bin.

Donnerstag, 30. November 2017

Grenzenlose Vorbilder

Wozu träumen, wozu lesen? Ich habe ein schlechtes, sehr selektives Gedächtnis, was bleibt mir hängen von zwanzig, von fünfhundert Seiten? Wenn die Kunst dem Traum am nächsten kommt, dann muss auch ihr Gehalt, der Effekt ihrer Aufnahme, einem dunklen Traumrest ähneln; ein paar Bilder, einige Momente, ein Gefühl, ein Satz – nicht viel mehr bleibt mir von der Arbeit der Nacht, und nicht viel mehr von der Lektüre des Tages. Doch einmal geträumt, und somit gesehen, bleiben sie in mir, bleiben sie immer.

An einem Mittwoch höre ich die Worte der Kunstleiterin, die eine Kindergruppe durchs Museum lotst, „das ist das Schöne an der Kunst“, sagt sie, „man kann sich das herausnehmen, was man für sich braucht.“ Ich will ihr zunicken, für den schönen Ton, und sie ergänzen, denke, es geht noch einen Schritt weiter: Man kann überhaupt erst dann wissen, was man für sich braucht, wenn man die Kunst dafür gesehen hat. Ohne gesehen zu haben, was möglich ist, was möglich sein kann in einem freien Kunstwerk, beschränkt sich das Denken auf die allgemeine Konvention; und schafft sich damit die eigenen Grenzen, die nur der Traum anzugreifen wagt. Oder (im schönsten Fall) die Kunst und ihre Lektüre.

Nicht viel vom Lesen bleibt in meinem Kopf, doch was ich mir nahm, was ich für mich brauchte, hat sich traumhaft einquartiert und die eigene Grenze erweitert, weil sie keine kannte. Ich wusste, was ich brauchte, als ich las, was ich noch nie sah – und lernte, was möglich ist: Von Borges, dass ein Gegenstand das Universum enthalten, von Cortazar, dass der Erzähler ein Axolotl sein kann. Von Thomas Mann, dem Satzarchitekten, dass ein Mund geräumig, vom Exilrussen Gasdanow, dass ein Leben phantomhaft sein kann; von Kafka die perfekten ersten, von Miss Woolf die perfekten letzten Worte einer Geschichte; vom verrückten Charms, dass eine Geschichte ein einziger Satz, vom einsamen Pessoa, dass ein Sonnenuntergang berührender als der Tod sein kann; von Juan Rulfo, dass die Toten oft gesprächiger als die Lebenden sind, von Lawrence Sterne, dass schon im Mutterleib Erzähldrang herrscht; von Beckett, dass die Sonne auf nichts Neues scheint.

Sie alle und noch viele weitere habe ich entdeckt (oder sie mich), und das, was von ihnen hängen bleibt, was ich also brauchte, ohne es davor zu wissen, das erst hat die Grenze der Vorstellung verschoben, wie jeder schwach nachschimmernde Traum die Grenze dessen verschiebt, was ich mir einbilden kann oder möchte: Grenzenlosigkeit wächst mit jeder Erfahrung, die kein konventionelles Ziel verfolgt. Sie ergibt sich aus der Fülle an Traum- und Vorbildern, die das Denken öffnen, ohne es zu erwarten. Bild für Bild, Satz für Satz.

Als Borges in einem Essay schrieb, dass sich Kafka seine Vorgänger selbst geschaffen hat, da heißt das vielleicht auch, dass Kafka die skizzierten Grenzen seiner Zeit nur deshalb so radikal überschreiten konnte, weil er sah, wie Generationen vor ihm gegen genau diese Grenzen anliefen. Grenzenlose Vorstellung muss gelernt sein, muss vorgesehen sein, um für den Leser Unvorhersehbares zu schaffen. Und deshalb träumen, deshalb lesen: um die eigene Grenze, wenn auch nie ganz aufzulösen, so doch zu verschieben. Und immer weiter zu träumen, größer und weiter, von phantomhaften Schwanzlurchen und geräumigen Fruchtblasen und allem, von dem ich noch nicht weiß, Bild für Bild, Satz für Satz; absurd und unruhig.

Dienstag, 21. November 2017

Die Disziplin der Engel

Winter herrscht wieder. Nicht lange ist es her, seit der letzte Schweiß des Sommers zerronnen ist, schon pfeift die Stadt von Frost und Kälte, windige Molltöne, die durch jede Ritze klingen. Es ist, als hätte der Herbst nicht stattgefunden, wie auf einem Spielbrett hat ihn der Wetterkegel übersprungen, zwei Felder vor auf graue Winterstarre.

Im Museum verschränke ich die Arme, es ist keine Abwehrhaltung, es ist Lebenserhaltung. Noch hier friere ich, und die Hände suchen in der Beuge nach Wärme, die Durchblutung verlacht mich bitter, wie jedes Jahr, während die schweren Oberteile schon die Pforte erreichen. Heute stehe ich im Touristenschloss an der Ostseite, zweiter Stock, und erspähe Jacke für Jacke, Mantel für Mantel, ein seltsam einstimmiger Widerstand gegen die Garderobe, die sogar gratis ist, und den Besuchern dennoch wie eine Strafe erscheint, die man nicht hinnehmen kann. Lieber tragen sie ihre aufgedunsenen Überkleider vor sich her, die fetten Daunen nach allen Seiten quellend, und ich darf sie aufhalten, jeden einzelnen von ihnen, weil es die Hausordnung so will, und die Jacke entweder angezogen oder abgegeben gehört. Ihr Verständnis hält sich in Grenzen.

Gegen Mittag tritt ein massiver Männerkörper in schwarzer Lederweste durch die Tür zur Galerie, die grelle Jacke in der Hand. Ich gehe auf ihn zu, blicke an dem massigen Hünen hoch und bitte ihn formell „to put he coat on“. Er nickt verstehend, doch statt die Jacke überzustreifen, zieht er plötzlich die Weste aus. Ich starre ihn verwirrt an, möchte etwas einwenden, die Hausordnung erklären, da zieht er sich die Jacke an, und ich begreife: die Weste muss darüber getragen werden. Im nächsten Moment treten drei weitere riesenhafte Kraftblöcke in den gleichen schwarzen Lederwesten in die Galerie, wieder die massigen Jacken in der Hand, ich sage wieder meine Worte auf, und wieder das klare Nicken, und sie tun es dem ersten gleich und entledigen sich der Weste, schlüpfen in die Jacke hinein und erst danach streifen sie die Westen wieder darüber. Und erst, als sie mir alle den Rücken kehren, da sehe ich den Grund für ihr Verhalten, ich sehe das berühmte Kreislogo und den feuerroten, unverkennbaren Schriftzug: Hell's Angels.

Ich blicke ihnen lange nach, beobachte, wie sich die Männerbande in dem Raum verteilt, wie sich die Anhänger des asphaltierten Freiheitsbundes am europäischen Klassizismus satt sehen, ihn konzentriert und mit ungespieltem Interesse betrachten. Doch selbst hier, selbst im Museum, zeigt sich noch ihr Stolz, einer Verbindung anzugehören, der Stolz, der in die schwarzen Lederwesten eingenäht ist, die alle vier wie eine Auszeichnung tragen, die gezeigt werden muss; es ist ihre Art zu betonen: Ich gehöre dazu, ich bin einer von uns. Ich bin ein Hell's Angel.

Es ist ein Gefühl, das mir so vollkommen fremd erscheint, das ich so schwer verstehen kann, weil ich es nie erfahren habe, diesen Stolz des Zusammenschlusses, die Zugehörigkeit zu einer Teamphilosophie, derer man sich verpflichtet und die es zu tragen gilt, über allem.

Und irgendwo, auch wenn ich es nicht recht begreife, da bewundere ich sie. Und ich kann nicht leugnen, dass es sich ein wenig gut anfühlt, dass ich es bin, der hier, heute, im Museum, diesen kantigen Hünen und Freigeistern vorschreiben darf, was sie unter der bindenden Weste tragen müssen; und sie akzeptieren es, jeder von ihnen, voller Disziplin und Verständnis.

Sonntag, 8. Oktober 2017

Empörung in kurzen Hosen

Der größte Feind des Museums ist der Rucksack. Er ist, gepaart mit der Unachtsamkeit des Trägers, ein perfider, ein hinterhältiger Feind, weil er sich seiner Rolle gar nicht erst bewusst ist, und bis zuletzt so tut, als käme er unschuldig und in Frieden in die Ausstellungsräume, ohne jeden, gewaltvollen Hintergedanken, den er blind in die Tat umsetzt. Ihn aus der Masse zu erkennen und zu verbannen, bevor er rücklings zuschlägt, ist ein kompliziertes Unterfangen, das wache Augen und klare Worte verlangt. Erschwerend hinzu kommt die Unschärfe der Hausordnung, die ein Rucksackverbot zwar ausschreibt, aber immer eine winzige Hintertüre für den Feind offen lässt – kleine bis mittlere Rucksäcke in die Hand oder vor den Körper, große Rucksäcke in die Garderobe.

Aber wo endet „klein“ und wo beginnt „groß“? Und wenn sich ein Gast dagegen wehrte? Wenn er laut wird? Wenn er erklärt, seine Medizin sei im Rucksack, die er während der zwanzig Minuten im Museum zum dringenden Überleben braucht? Ein klares Verbot würde diese Fragen abwürgen, den Feind in die Flucht schlagen, ohne jeden Verlust. Doch Verbote sind eben niemals das, sonst gäbe es keine Gerichte in der Welt, und ich lebe in einem Kulturkreis, in dem jedes Verbot noch Platz für Kompromisse schafft, wodurch letztlich die Frage, ob der Feind ins Museum darf oder nicht, nie am Papier hängen bleibt – sondern an mir.

An einem gewöhnlich gut besuchten Nachmittag im ersten Stock der Tourismussammlung, da erkenne ich zwei grelle Feindspuren an den Schultern einer Dame, kämpfe mich durch die Masse zu ihr hindurch und spreche sie mit der typischen, fast automatisierten, englischen Floskel an, „please put your backpack in your hands“. Sie tut es widerwillig und stumm, wie die meisten, doch ein schwerer Mann in kurzen Hosen fährt mich plötzlich von der Seite an, laut empört und mit süddeutschem Akzent, warum ich sie auf Englisch anrede. „Glauben Sie, die kann kein Deutsch, nur weil sie schwarz ist?“

Wie so oft bin ich zu langsam, um etwas Sinnvolles zu entgegnen, und das seltsame Paar schon wieder im nächsten Raum, weil der schwere Mann ohnehin nicht mit mir, sondern gegen mich reden wollte, wie die meisten. Und dennoch hallen seine Worte noch über Stunden in mir nach und haken sich in einer dunklen Gedächtnisecke fest. Gut neunzig Prozent aller Museumsgäste hier sind nichtdeutschsprachige Urlauber, doch der Kerl in den kurzen Hosen nennt meine bemühte Effizienz einen Rassisten. Das wäre noch nicht weiter interessant, die Leute diffamieren mich gern, wer kann es ihnen verübeln; interessant ist, wie die kurzen Hosen ihre schwarze Freundin bevormundeten, wie sie ganz selbstverständlich für sie sprachen und sie auf ein armes, unpassendes Opferklischee reduzierten, auf das ich von alleine nicht gekommen wäre. Wieso glaubte dieser Kerl, sie für etwas verteidigen zu müssen, was gar nicht zur Debatte stand? Wieso empörte er sich lautstark, während sie nicht einmal still davon getroffen wirkte? Wozu der stramme, unbeteiligte Widerstand?

„Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt, ist geltungssüchtig“, hat Stefan Zweig einmal notiert, und hier und heute muss ich an diesen Satz des Weltbürgers denken, während die Stunden langsam im Parkett versickern. Eine flüchtige Empörung, die sich umgehend in den nächsten Raum bewegt, die keine Konsequenz befürchtet, weil sie sich nur deshalb äußert, die Widerstand mit Wichtigmachen verwechselt, sie scheint mir einer der verzichtbarsten Nebeneffekte des wundervollen Wohlstands zu sein. Sie hilft weniger, als sie verhindert, weil sie gar nicht am Gespräch interessiert ist, weil sie die richtigen Probleme an den falschen Stellen hortet und sich letztlich nie um das Wohl des anderen, sondern nur um das eigene kümmert, ähnlich dem kurzsichtigen Netzkommentar, der nie über seine Rage hinaus sieht.

Und während die nächsten potentiellen Feinde bereits die Treppe hochkommen, wird sich das Ego in den kurzen Hosen zurechtrücken und das Museum aufrecht und zufrieden verlassen, wie die meisten.

Mittwoch, 20. September 2017

Montag, 11. September 2017

Die Spanierin

Sie fragt mich abrupt, ob ich Spanisch spreche, was ich verneinen muss (was ich bedaure), sie schüttelt den Kopf und dreht schnell wieder ab, doch nicht wegen mir, sondern wegen denen. Wegen den vielen unruhigen asiatischen Touristen, die man nur im Plural nennen kann, weil es sie scheinbar nicht einzeln gibt, weil immer schon mehrere von ihnen da sind oder gerade kommen oder auch wieder gehen, meistens aber alles gleichzeitig.

Ihr Profil ist mit Wut konturiert, im Augenwinkel noch flackert ihr Ekel über diese Art von Tourismus, der das Erlebnis „Museum“ in ihren Augen nicht verstanden hat. Nach Monaten stehe ich wieder einmal hier in meinem Stammobjekt an der goldenen Position, wieder an einem Sonntag (als hätte es Bedeutung), wieder höre ich die Touristenherde schon von weitem, wieder wirkt das goldene Liebespaar schüchtern und verlegen hinter seinem Glaspanzer, und doch ist etwas grundlegend anders an diesem Tag. Es ist der Grund für die spanische Wut, und es ist tatsächlich kein angenehmer Anblick.

Als die neue Direktion diesen Sommer das Fotoverbot tilgte, weil es nicht mehr zeitgemäß erschien, da hatte sich niemand laut beschwert, dachte sich die Kollegenschaft ihren Job noch etwas ruhiger, womöglich, doch Ruhe ist meist Theorie, und als ich diesen Sonntag in das loderne Feuer der Spanierin blicke, begreife ich, dass es keinen Adorno braucht, um von dem Anblick dutzender, wie automatisch hochschnellender Handykameras verstört zu werden, ausgelöst von Leuten, die sich selbst und ihre Nächsten mit dem Jahrhundertbildnis inszenieren, wobei sie das unbezahlbare Gemälde zu einer austauschbaren Reliquie degradieren, einer kunstsinnigen, goldenen Ortstafel, die am Ende nicht mehr anzeigt als: Ich war da.

Wirklich paradox daran erscheint die Beobachtung, dass die ehrgeizigen Fototouristen sehr viel länger hinter dem Display nach der perfekten Pose suchen, als sie das eigentliche Kunstwerk frei und ungefiltert betrachten (wofür sie bezahlt haben). Es ist fast so, als wüssten sie nicht, dass ein Gemälde und ein Foto davon nicht dasselbe sind, und der Geist des Kunstwerks ebenso wenig abgelichtet werden kann wie eine Melodie oder ein Geruch. Ich möchte dennoch Verständnis aufbringen für diese moderne Museumsauslegung, für diese Mentalität des Speicherns und Herzeigens, doch es fällt schwer und es tut weh, weil das verbotene Blitzlichtgewitter blendet und der fehlende Respektabstand das Kunstwerk bedrängt und erniedrigt und mich in Mitleidenschaft zieht. Der einzige echte Trost ist mir an diesem Sonntag ein einziger Mensch, dem es inmitten der Blitzer und Poser noch viel schlechter ergeht als mir – und irgendwann reicht es der Spanierin, die hier etwas erleben möchte, das niemand verstehen kann, die ein Kunstwerk in seiner Unmittelbarkeit und in Ruhe auf sich wirken lassen möchte, sie brüllt die Herde mit erstaunlichem Organ an, den verfluchten Blitz endlich abzuschalten, mit dem Posieren aufzuhören und „just looking!“ Eine Reaktion bleibt weitgehend aus.

Später fällt mir ein, ich weiß doch einen Satz auf Spanisch, einen einzigen. Ich sehe die abgekühlte Spanierin noch einmal, sie geht an mir vorbei, wir tauschen einen Blick; und wenn ich etwas schneller, etwas mutiger gewesen wäre, hätte ich ihr in leiser Verbundenheit geflüstert: El mundo está loco.

Dienstag, 5. September 2017

Absolut unqualifiziert

Ich habe nie gelernt zu schreiben, ich habe einfach damit begonnen. Vielleicht fällt es mir deshalb so schwer, zu dieser ungelernten Tätigkeit zu stehen, mir fehlt es an einem ausgewiesenen, hart erarbeiteten, verdienten Zertifikat, das ich mir über den Schreibtisch hängen und im Zweifel betrachten und mir denken könnte: Dieses Zertifikat hat jemand unterschrieben, und dieser jemand denkt sich, ich habe hiermit einen echten Schriftsteller abgesegnet. So aber fühle ich mich wieder und wieder wie ein Fälscher, ein schlechter Spion, der ungelenk und verdächtig vorgibt zu sein, wovon er in Wahrheit keine Ahnung hat.

Und vielleicht (das ist meine Hoffnung), vielleicht kann man überhaupt nur so schreiben: In dem Gefühl, sich tagtäglich an eine Arbeit zu setzen, für die man sich absolut unqualifiziert glaubt.

Freitag, 25. August 2017

Unter Strom

Letzte Nacht träumte ich mich zurück in den Dienstanzug: Ich stehe im Prunksaal an der Ostseite, draußen, vor dem Türbereich, um passierende PKW- und Radfahrer aufzuhalten und ihnen die obligate Maut abzuverlangen. Mein nächster Kollege, ein bärtiger Hüne mit polierter Spiegelglatze, steht zufrieden und entspannt wie ein Buddhabauch bei der Treppe; ein kurzer Blick von mir auf seinen silberschwarzen Bart, und schon ist es passiert, schon ist alles zu viel, geht der Blick überfordert zurück, komme ich den Autokolonnen kaum noch hinterher mit den Kontrollen.

Schließlich stoppe ich drei Radtouristen auf ihrer Weiterfahrt in den Süden und erkläre ihnen das bekannte Mautsystem. Sie sehen einander an, nachdenklich, skeptisch, abwägend, ob sie nicht vielleicht verhandeln könnten, oder, ganz offen, auf die Maut verzichten. Mit angemessener Höflichkeit und Strenge entgegne ich, die Maut sei ohnehin eine geringe und Ausnahmen beschädigen die Regel. Die Radfahrer zögern. Im Hintergrund zieht ein Dutzend PKWs vorbei. Schließlich geben sie nach, die junge Dame unter ihnen reicht mir ihre Kreditkarte, ich nehme sie an mich und erfasse den Code mit meinem elektrischen Handscanner – in dem Moment trifft mich der Schlag; gefrierkalte, blaue Blitze zucken aus dem Scanner, springen auf mich über, elektrisieren Nerven, Haare, ziehen wellenförmig über den dunklen Dienstanzug. Geladen und zitternd reiche ich der Dame die Karte zurück, berühre sie versehentlich mit einer Fingerkuppe, sie kippt zu Boden. Ich drehe mich zu den schockierten Radkollegen, will sie beruhigen, berühre sie versehentlich an den Schultern, sie kippen zu Boden.

Regungslos liegen alle drei neben der Straße, der unkontrollierbare, der unaufhaltsame Verkehr zieht tosend vorüber, ich drehe mich blitzartig um und starre verzweifelt zum Kollegen an der Treppe; völlig entspannt streichelt er seinen silberschwarzen Bart und grinst gelassen vor sich hin, während ich weiter unter Strom stehe.

Montag, 14. August 2017

Irrationale Angriffe

Der Sommer verstört mich. Dienste variieren wie das Wetter, Pläne und Objekte schlagen um, verdunkeln, verziehen sich wieder. An einem Freitag darf ich wieder einmal im Glashaus für moderne Kunst aushelfen und mir Erwin Wurms Performative Skulpturen ansehen. Großteils allein, denn die Sommertouristen und Kunstaffinen strömen lieber durch klassizistische Gemäldegalerien im Barockbau ums Eck, anstatt für den Blick auf kühlschrankgroße Gipsblöcke zu bezahlen; dicht angeordnete, überdimensionale Alltagsgegenstände und Möbel, die vom Künstler im performativen Prozess höchstselbst zerkratzt, getreten, erdrückt und überfahren wurden, mit viel Hingabe und Sitzfleisch, und – vor allem – mit Konzept.

Aus Tag wird langsam Abend, der Besuch bleibt weiter aus. Der Kollege am Ticket ist unterfordert und überdreht, stellt sich zu mir in die Halle und erzählt geradeaus von dem Schock der Eröffnung – ein Schmankerl des Herrn Wurm war es gewesen, einige wurstförmige Gipsblöcke exklusiv für die Ausstellung zu schaffen, und, noch in rohem Zustand, vor dem Premierenpublikum zu demolieren. Und dann stand da diese Dame, eine kunstbeflissene, äußerst interessierte Person, die den Kollegen in ein Gespräch verwickelt, ein äußerst interessierter Dialog neben der rohen Gipswurst. Eine halbe Stunde reden sie miteinander, sagt der Kollege, wunderbar erfreulich, und dann, plötzlich, aus dem Nichts, dreht sich die Dame zum frischen, sechsstellig geschätzten Kunstobjekt hin und taucht einen Zeigefinger ansatzlos in die weiche Masse.

Und so passiert es immer.

Das Kind, das der Mutter entwischt und das Ölbild anfasst. Der erwachsene Herr, der im Vorbeigehen die Hand ausfährt und die Skulptur streichelt. Die andere Mutter, die ihre Töchter am Fuß des Bronzeblocks aufstellt, um sie damit abzulichten. Der andere Erwachsene, der für ein Foto zwei Schritte rückwärts macht und dabei gegen die lose Statue stößt, die beinah zu Bruch geht.

Sie alle berühren das Unantastbare, ihre Berührungen sind grundlose Angriffe auf ein Werk, das nicht ohne Grund überdauert. Sie greifen die Kunst bedenkenlos an, machen sie fassbar wie einen abgenutzten Haltegriff in der Bahn, weil sie nicht wissen, was sie tun. Und falls doch, haben sie keine Vorstellung, was sie damit auslösen.

Die Dame mit dem Fingerabdruck in der teuren Gipswurst wurde auf der Stelle kreidebleich, sagt der Kollege, als er ihre Daten aufnahm, den Vorfall meldete und wartete, bis der Kunstexperte hinzukam, um den Schaden abzuschätzen. Später sollte er meinen Kollegen fragen, ob dieser die Tat nicht verhindern hätte können. Was für eine Frage. Wir Aufsichten können nie etwas verhindern, wir bekommen keine anonymen Hinweise, wir werden nicht vorbereitet auf die blitzschnellen, akuten Handlungen der irrationalen Angreifer, die sich bis zur Tat als unauffällige Vernunftwesen tarnen. Wir müssen zusehen, wie sie ihre Angriffe auf die Kunst ausführen, können nur beobachten und staunen und nicht glauben und melden und uns fühlen wie Zuspätgekommene des Lebens, „like a second-comer“, wie es D. H. Lawrence in seinem traurigen Gedicht über die Schlange im Garten umschreibt; nur stehen wir nicht auf der Wiese, sondern im Museum, und wir verfolgen kein natürliches Tierverhalten, sondern die rätselhaften Auswüchse menschlicher Willkür. Oder liegt es eben doch in der Natur des Menschentieres, etwas wahllos anzugreifen? 

Irgendwo, da muss er immer noch lauern, dieser instinktive Rest, den die kurzsichtige Kultur nicht finden kann, die letzte Verbindung zum Unüberlegten, zum Angriff, zum Schaden. Und auch bei der nächsten, willkürlichen Berührung werde ich wieder die Nachsicht haben, werde wieder an zweiter Stelle stehen, werde wieder zu spät kommen, weil es eben nicht anders sein kann. Ich bin es immer schon gewesen, ich werde es immer sein: zu spät.

Mittwoch, 19. Juli 2017

Zeit der Facetten

Immer wieder bedrückt mich das kalte Gefühl, in einer Das-geht-heute-nicht-mehr-Zeit zu leben. Einer Zeit, in der es keine Elfenbeintürme mehr gibt, nicht mehr geben darf, wo das Bild des Literaten nicht mehr funktioniert, der stundenlang im Kaffeehaus an einem einzigen Verlängerten sitzt, raucht, liest, und ein paar Worte, viele Worte, keine Worte zu Papier bringt und dafür bewundert wird. Heute geht das nicht mehr. Der heutige Erfolgsautor macht von sich Selbstbilder als bereitwillige Disziplinmaschine, die kein Problem damit hat, Selbstbilder zu machen, um sich als heutiger Erfolgsautor zu präsentieren, natürlich neben einem irritierend regelmäßigen, gesunden Schreibpensum, für das es Gefallen und Häme gibt, viel Häme, aber auch viel Gefallen, aber weder das eine, noch das andere aus Bewunderung. So etwas wie Bewunderung, das geht heute nicht mehr, weil es zu einfach geworden ist, Gefallen zu zeigen. Echte Bewunderung aber zeigt sich nicht, sie weiß sich selbst im Stillen, sie ist intim, unteilbar und schrecklich schüchtern. Drei Eigenschaften, die heute überhaupt nicht mehr gehen.

Vielleicht stimmt das alles auch nicht, oder nur tendenziell; es ändert nichts an meinem Gefühl. Es gefällt mir nicht, nostalgisch verklärt zu klingen und einer Zeit nachzutrauern, die ich nie gekannt habe. Noch weniger gefallen mir die Tendenzen der Gegenwart. Es gefällt mir nicht, dass ein Leben ohne Netz heute undenkbar ist, und, noch weniger, dass es alle so bereitwillig akzeptieren, dass sich alle vernetzen, weil es eben geht, und niemand mehr leben möchte, wie es heute nicht mehr geht. Sich aus den vernetzten Sozialwerken fernzuhalten und nur bei sich zu sein, sich Tage ohne Termine, Teilungen und Gespräche zu nehmen, das geht heute nicht mehr.

Ich gehe heute nicht mehr.

Ich gehe nach einer heißen Schicht in Richtung untergehender Sonne, der Gehweg trägt feuchte Flecken, Trottoir nannte man ihn früher, aber das geht heute nicht mehr, das klingt antiquiert und nach Kaffeehausliterat, solche Begriffe kann man heute nur noch ironisch sagen, weil sich heute alles ironisch sagen lässt, und vor oder neben mir höre ich plötzlich einen grauen Pferdeschwanz mit Jeansjacke sagen, nachdenklich heiser: „Man kann das Leben leben auf so viele verschiedene Facetten.“

Ich danke dem Betrunkenen für diesen Satz, indem ich ihn nicht vergesse, lächle und gehe weiter, bis ich in der Wohnung stehe. Ich lese ein, zwei Geschichten von Cortazar und schlafe irgendwann ein, träume in der Nacht auf so viele verschiedene Facetten, weiß am nächsten Morgen nicht, warum ich zufrieden bin. Sofort erwacht die Skepsis und schaltet ungeduldig den Computer ein. Denn so etwas wie Zufriedenheit, sagt sie, das geht heute nicht mehr. Wirklich nicht. 

Donnerstag, 13. Juli 2017

Gedanken aus der Sperrholzsavanne

Es ist heiß. Ich stehe in einem neuen Objekt, und die Luft steht mit mir, weil es hier keine Ventilatoren gibt, keine Luftbefeuchter, keine Klimaanlagen. Nichts außer trockener, heißer Luft und 180 Exponaten zur Familie der Felidae – Katzenkunst in allen Formen beherrscht die neue Sonderausstellung, hier im letzten Raum des Museums, direkt unter dem Dach gelegen, und von der Außensonne aufgewärmt zur kunstvollen Hitzekammer, einer Kultursauna, die auch so aussieht: Eine enge, zugestopfte Sperrholzlandschaft mit Baustellencharme, die nach Handwerkerschweiß und Kork riecht, dazwischen ausgestopfte Wildkatzen, gepinselte Fabelwesen und zahllose Raubtierskulpturen, auf denen ich mir Hitzeflimmern einbilde. Der Kurator wolle mit den Sperrholzplatten die natürliche Savannenumgebung der Pelztiere nachbilden, so sagt man. Doch naturgetreu erscheinen mir nur die Temperaturen.

Das gute ist, die wenigsten Hausbesucher finden wirklich hinauf in diese schlecht ausgeschriebene Sperrholzsavanne, und wenn keine Gäste im Raum sind, darf ich immerhin sitzen. Ich sitze und stelle mir einen Menschen vor, der in einer Sauna steht und sich nicht setzen darf. Mittlerweile zählt es achtundzwanzig Grad.

An einem dieser ruhigen, luftbefreiten Tage sitze ich mit meiner Kollegin in der Savanne und wir sprechen über Kunst. Oder genauer, sie spricht mit mir darüber. Mit moderner Kunst könne sie einfach nichts anfangen, sagt sie. Das sei vielleicht engstirnig, doch sie müsse immer etwas Klares in einem Bild sehen, wie bei den alten Meistern eben. Die haben noch Geschichten gemalt, da war immer alles verständlich. Und sie müsse ein Kunstwerk verstehen, wenn sie es betrachtet, sonst könne sie damit nicht umgehen, so ist das eben.

Nicht zum ersten Mal stoße ich auf diese Einstellung, und dennoch wirkt sie auf mich immerzu befremdlich, diese beinahe zwanghafte, selbst auferlegte Verpflichtung, Kunst verstehen zu müssen. Das Bedürfnis, hinter jedem Pinselstrich den Sinn zu suchen.

Ich verstehe den Sinn dieser Sinnsuche nicht. Dieser Wunsch nach einem Sinn erscheint mir immerzu ergebnisorientiert, als ginge es bei einem Kunstwerk nur um ein möglichst klares, eindeutiges Resultat, wie bei einem Fußballspiel. Moderner Fußball, das geht, aber moderne Kunst? Da sehe ich den spielerischen Aufwand oft gar nicht mehr und das Resultat bleibt meist abstrakt und rätselhaft, völlig unverständlich. Sinnlos, sich damit zu beschäftigen.

Es ist interessant zu beobachten, dass ausgerechnet jene Menschen fordern, ein Kunstwerk zu verstehen, die sich mit Kunst wenig bis gar nicht beschäftigen. Sie wollen Kunst verstehen, ohne ein Kunstverständnis aufzubringen. Sie setzen eine Antwort voraus, ohne die Frage zu kennen. Sie suchen Sinn, wo keiner existiert. Denn an sich ist jede Kunst sinnlos, da sie vom Traum abstammt; vom nächtlichen Traum, der frei und nutzlos ist, im besten Sinne, und nichts zu verstehen gibt und nichts hinterlässt, außer einem rätselhaften, persönlichen Gefühl – ein Gefühl, das für mich dennoch bedeutsamer sein kann als jedes Fußballfinale, obwohl es um nichts geht, weil es um nichts geht, außer um das Gefühl selbst. Und vielleicht geht es letztlich auch nur darum.

Das alles hätte ich der netten Kollegin antworten können, doch stattdessen lausche ich nur still und fühle mich erdrückt von der flirrenden Hitze in der Sperrholzsavanne, die mich lähmt und ermüdet. Es fällt so schwer, denke ich, so unendlich schwer, etwas zu betrachten, ohne verstehen zu wollen, zu handeln, ohne etwas zu erwarten, zu leben, ohne nach mehr zu sinnen – kurzum: zu träumen.

Sonntag, 2. Juli 2017

Mittwoch, 28. Juni 2017

Zwei Frauen

Unten, im Kämmerchen, da sitzen sie, neben der Garderobe im Untergeschoss des Fürstenpalais. Sie sitzen im Kämmerchen und warten, bis sie gerufen werden, bis der unheilvolle Funkspruch kommt, der sie blechern „Reinigung“ nennt, es klingt, als würde man den Kellner mit „Gasthaus“ rufen. Sie warten tags, sie warten nachts, sie arbeiten lange und oft noch etwas länger. Wann immer ich an ihnen vorbeigehe, bieten sie mir Kaffee an, ich setze mich in der Pause zu ihnen und staune wieder und wieder über diese Güte, das herzliche Temperament, das immerzu auf Teilen aus ist. Fast werden sie beleidigt, wenn ich mal nach einer Zigarette frage, anstatt mir einfach eine zu nehmen.

Ihr kleines Kämmerchen ist ein Refugium, ein quadratisches Betonzelt, das vor der sozialen Kälte über ihnen schützt, eine isolierte Oase der Ruhe, die nach Kaffeeweißer und Scheuermilch riecht. Wann immer ich an ihnen vorbeigehe, steht ihre Tür weit offen, denn wer nichts hat, hat auch nichts zu verstecken. Ihr Besitz liegt nicht in Taschen oder auf Banken, er liegt in ihren Gesichtern, in ihrem Akzent, in ihren Grimassen. Sie grinsen innerlich über Longdrinks und Lachskanapees der hohen Gäste im Prunksaal über ihnen. Sie grinsen, weil Humor ihre Waffe ist, die sich selbst auflädt, und sind sie einmal ernsthaft verstimmt, verstecken sie ihre schlechte Laune hinter einer inszenierten, noch viel schlechteren, die ihre eigentliche Laune gleich viel erträglicher erscheinen lässt.

Sie waschen, wischen, schrubben, bücken sich, sie atmen künstlichen Citrus und trockene Luft, sie erledigen eine Arbeit, die beißend ungesund ist, die ein langes Leben wissentlich gefährdet; doch sie erhalten keine Gefahrenzulage. Sie gehören zu jener zulagenlosen, unerhört schwachen Sozialklasse, über die gern und oft gesagt wird, sie hätte keine Stimme, damit ihr andere eine verleihen können. Dabei haben sie sehr schöne Stimmen; und sogar verschiedene. Und beim nächsten Mal, sagen sie, fast beleidigt, da solle ich nicht mehr warten, bis sie mir einen Kaffee anbieten, sondern einfach welchen nehmen.

Samstag, 24. Juni 2017

Die Herkulesschule

Sie hängt an der Decke im ersten Stock, dort, über dem großen Saal im Palais des Fürsten. Gegründet wurde sie vor dreihundert Jahren von Andrea Pozzo, dem italienischen Maler und Perspektivgenie, in einer Zeit, in der Künstler verkauft und weitergereicht wurden wie heute die Fußballspieler. In dem, was er tat, war Pozzo der Beste, also zitierte ihn der Fürst hierher, in jene Stadt, in der ich heute lebe, und bedrängte ihn freundlichst, sich der Deckengestaltung im Palais anzunehmen. Der Fürst wollte nicht weniger als ein monumentales Werk, ein Fresko, das mehr als tausend Worte erzählte, eine Kunstlandschaft auf sechshundert Quadratmetern, an der sich nie jemand satt sehen könnte. Er wollte Meisterschaft. Und Pozzo lieferte.

Woche für Woche blicke ich hinauf zu ihr und kann nicht begreifen, wie jemand imstande war, seine Gehirnwindungen zur Vorstellung einer illusorischen Malerei zu verwenden, die Verkürzungen jenseits jedes Verstandes ausführt und im Bild eine falsche Kuppel entstehen lässt, wo doch in Wahrheit ein nahezu flacher Deckenmörtel über mir ruht, eine sanfte Wölbung von nur wenigen Metern. Quadratura nennt sich diese absurd brillante Technik, das habe ich in einer der zahlreichen Kunstführungen erfahren, Führungen, die ich wie ein Babysitter befolgte und hier und da eine Tür aufhalten durfte, und dazwischen immer wieder der Blick zur künstlichen Kuppel, die ich nicht begreife.

Dort oben, zwischen künstlichen Säulen und Emporen, da pinselte Pozzo Leben und Tod des Herkules nach, von der Wiege bis zum barfüßigen Aufstieg in den Olymp, mitsamt den klassischen zwölf Aufgaben, die im Uhrzeigersinn den mythischen Halbgott illustrieren, der Kraft und Klugheit so vorbildlich verband. Und tatsächlich erzählen mir die Episoden in diesem göttlichen Fresko mehr, als ich in jedem gut verkauften Ratgeberschmöker, Wochenendseminar oder Selbstanleitungsvideo im Netz erlernen könnte: Ich blicke zehn Meter in die Höhe und sehe dort, inmitten von Engeln, Bestien und Göttern, ein Neugeborenes im Korb, das zwei erwürgte Schlangen in Händchen hält. Das ist sie, denke ich, das ist große Erzählkunst – wenn ein nacktes Baby direkt nach der Geburt zwei Schlangen erwürgt, die es töten sollten, weiß ich mit einem einzigen Bild, dass es sich hierbei um kein gewöhnliches Kind handeln wird. Ein Baby, das zwei Schlangen würgt – kann es eine höhere Form der Charakterzeichnung geben?

In der von Pozzo gegründeten, dreihundert Jahre alten Privatanstalt des Herkules ist mir dieses Bild die vielleicht einfachste und damit genialste Charakterlehre; und mit jeder arbeitsarmen Stunde im Saal und jedem Blick hinauf wird mir umso klarer, wie viel ich noch zu lernen habe – und wie relevant die richtige Schule ist.

Montag, 12. Juni 2017

Die Milde im Nachhinein

Ein Jahr. Solange hält meine museale Teilzeitliaison nun bereits. Nicht, dass die Zeit schnell vergangen wäre – im Gegenteil: Ich kenne und empfinde sie nicht, die angebliche Beschleunigung des Alltags, die rasende Eigenschaft der Digitalisierung. Hier, in meinen zweiten Wohnzimmern, in den gekühlten Museumsräumen und haushohen Prunksälen meiner Arbeitsziele, da gilt das postmoderne Eiltempo nicht, da entschleunigt jeder Dienst mein hektisches Zeitempfinden und relativiert das Verfliegen der Stunden.

Da gibt es Tage, an denen ist ständig etwas los, und dann wieder andere, an denen ist alles ereignislos, doch immer, ja immer bleibt Platz für Leerstellen, immer ist die Schicht irgendwo zu lange und immer fließt die Zeit tief in die Beine, die mit jeder Kontrollrunde und mit jedem Funkspruch schwerer werden und sich auf die Füße stemmen, die naiv versuchen, durch die Sohlen zu flüchten und sich dabei unbeholfen verbrennen. Und all das Mühsal für ein paar Euro mehr, für ein versichertes Stück Ruhe und für das Bewahren der Erinnerung; dem Erhalt der jahrhundertealten Mauerwerke und Malereischätze, deren zeitloser Wert gegen die chaotische Flüchtigkeit meiner Zeit ankämpft. Da stehe ich, mal fünf, mal acht, mal zwölf Stunden auf einer fixen Position, die ich nicht zu verlassen habe, die ich besetze, kontrolliere und schütze, solange, bis die Ablöse kommt oder die Tore geschlossen werden. Ich arbeite nicht für ein Individuum, ich arbeite für ein Objekt. Ich schütze keine Personen, ich schütze Exponate. Ich stehe nicht zu einer Firma, ich stehe zu einem Kunstwerk.

Das Erstaunliche daran ist, egal wie lange ich stehe, egal wie unendlich und mühsam meine Ausstellungsdienste mir in dem unmittelbaren Moment erscheinen, am Ende sind sie doch niemals wirklich schlimm. Denn kaum ist die Arbeit vorüber, stellt sich ein befremdlicher, kurzer Glückszustand ein, eine Erleichterung, die ohne all die Qualen und Längen der Schicht undenkbar wäre. Es ist eine Art sentimentaler Milde, die sich immer im Nachhinein einstellt und jede Anstrengung relativiert und verlässlich abschwächt; egal, wie schlimm, wie körperlich verzehrend und ermüdend die Arbeit auch ist, in dem Moment, in dem sie endet, ist sie bereits weniger schlimm gewesen.

Diese Arbeit, das, was ich vordergründig leiste, ist vielleicht überhaupt weniger ein „arbeiten“, als ein „ausharren“ – eine Probe, ein Experiment, dessen Belohnung darin besteht, die Freude über sein Ende erlebt zu haben. Und so ist es mit allen Anstrengungen, die endlich sind, auch wenn sie sich im Moment nie so anfühlen – am Ende sind acht Stunden im Museum vergangen und die Füße heben sich wieder aus den Sohlen, das Brennen erlischt im windigen Gefühl, es geschafft zu haben, und dem glücklichen Grinsen über die Absurdität dieses ewigen, anstrengenden Kreislaufs, der sich so seltsam erwachsen anfühlt.

Ein Jahr. Es hätte ein schlimmes, ein furchtbar schweres Jahr sein können. Vielleicht war es das auch. Wer kann das schon sagen, jetzt, wo es vorüber ist?

Montag, 5. Juni 2017

Alles erreicht

Diese Nacht erscheint mir ein Buch; mein Buch. Ein kanariengelber Schutzumschlag, darauf mein Name, am unteren Eck das Logo eines renommierten Verlages. Doch ich weiß nichts davon – es wurde veröffentlicht, ohne mich zu informieren, rein zufällig stoße ich im Internet darauf, starre auf die Produktvorschau und wundere mich. Ich gehe in die Buchhandlung, mein Name ist schon da; und wieder diese Ungläubigkeit, diese Verwirrung. Sollte ich mich nicht einfach freuen? Sollte ich mich nicht erleichtert fühlen, frei, entspannt? Sollte ich nicht am Ziel sein?

„In Träumen habe ich alles erreicht“, schreibt Fernando Pessoa, dieses sonderbare Dichterphantom aus Lissabon, das die Einsamkeit seiner vielen Alter Egos mit ideologiebefreiter Tagträumerei belohnte. Und warum sollte der Triumph im Träumen weniger wert sein, als der Triumph im Leben? Es ist pure Konvention, dass dem Realen mehr Gewicht verliehen wird als dem Traum. Verschiebe ich allein die Gewichtung, habe ich tatsächlich schon alles und mehr erreicht.


Doch, seltsam, ich weiß nicht, worum es in meinem erträumten Buch geht. Nicht einmal einen Titel kann ich klar erkennen, ich sehe nur die einzelnen Letter meines Namens auf dem grellen Einband, nichts weiter. Nun, endlich, ist das erste Buch erschienen, veröffentlicht und vermarktet, und ich habe keinen Schimmer, was darin steht; ich habe alles erreicht, ohne etwas beizutragen, ohne zu wissen, wie der Sieg erfolgte und was er bedeutet. Es ist, als hätte sich im Zieleinlauf plötzlich der Staub aufgewirbelt, der alle Spuren des Weges verwischte, als träte im Ziel eine automatische Amnesie ein, eine akute Vergessenheit über alle Anläufe, Notizen, Rückfälle und Gedanken. Im Traum habe ich alles publiziert, doch jetzt, wo sich der Traum im Traum erfüllt hat, da scheint der kanariengelbe Schutzumschlag traurig fremd, da wirkt es gar, als interessierte sich das abgeschlossene Werk überhaupt nicht mehr für seinen phantomhaften Schöpfer. Und – im Grunde – da tut es das auch nicht.

Donnerstag, 1. Juni 2017

Mittwoch, 31. Mai 2017

Lawrence von Antwerpen

Nein, auch ich habe zuvor noch nie etwas von Lawrence Alma-Tadema gehört, jenem holländischen Maler mit dem seltsam staatenlosen Namen, dessen Werke neuerdings die Ausstellungswände meines Arbeitsziels schmücken. Werke, die sich – ähnlich wie die großen Albernheiten eines Franz von Stuck – mit der dekadenten Antike beschäftigen, doch auf ernsthaftere, fast mathematisch strenge Art und Weise. In geometrischer Perfektion und penibler Recherche rekonstruiert Alma-Tadema alltägliche Szenentableaus der alten Römer und, später, der Ägypter, holt die Historie aus ihrer Vergessenheit und schafft ihr die Bilder, die der amerikanische Kostümschinken Jahrzehnte später ins bewegte Breitbild verlagern wird.

Ungebrochen sei der Einfluss Alma-Tademas auf Film- und Kulturgeschichte, will mir die Ausstellung klarmachen, und betont diesen Umstand in allen Räumen und bei jeder Gelegenheit. Warum aber ist dieser malende Lawrence von Antwerpen selbst so sehr in Vergessenheit geraten, weshalb sind seine dokumentarisch anmutenden Gemälde heute nur Phantombilder des Kunstkanons? Ja, mir ging es ganz gleich, erwidere ich, als mir ein deutsches Besucherpärchen erklärt, sie hätten noch nie von dem Herren Maler gehört, bevor ihnen die Ausstellung kürzlich empfohlen wurde; ein Glücksfall, eine Entdeckung. Aber worin besteht sie?

Der Teufel liegt im Detail. Es ist die detaillierte Formvollendung seiner Bildmotive, die Alma-Tadema vor hundertfünfzig Jahren zum Star in England erhob und zum Sir adelte, es ist die detaillierte Formvollendung, die ihn heute uninteressant und antiquiert erscheinen lässt. Denn bei aller peniblen Genauigkeit, mit der römische Bäder und antike Jahrmärkte kunstvoll vermessen werden, da fehlt den meisten seiner Bildern jenes Element, das Hollywood so melodramatisch hinzufügte – die Emotion. Wunderschön, detailliert, sagenhaft, das alles, ja – aber berührend? Ein Römer am Blumenstand, Kleopatra vor den Pyramiden, so könnte es gewesen sein, wie ein Statiker errechnet Sir Lawrence die antike Architektur; doch statisch bleibt sie auch, in all ihren Details, bis hin zur zufallslosen Hieroglyphe am Mauerwerk und der kenntnisreichen Flora im Hintergrund. Die Vergangenheit ist da, doch sie wird nicht lebendig.

Ich weiß nicht warum, doch Perfektion erscheint mir immer leblos; als würde sie keine Gefühle dulden, keine unberechenbare Menschenhaltung erlauben. Deshalb wirken die Menschen in Alma-Tademas perfektionistischen Bildern vielmehr wie Schachfiguren, die jemand starr und lieblos positioniert hat, nur um zu gewinnen, dort, am Schachbrett, wo es keinen Spielraum für Emotionen gibt. Vielleicht ging es Alma-Tadema auch nie um Gefühlsregungen, vielleicht ging es ihm nur um den Sieg der eiskalten Komposition. Vielleicht genügte ihm die reine Oberfläche. 

Was dagegen spricht, ist ein düsteres Bild im vorletzten Raum der Ausstellung, ein winziges Detail, das kaum auffällt, das überhaupt nur im richtigen Lichtfall erkennbar wird. In „Der Tod des Erstgeborenen“ trauert der Pharao im warmen Katakombenlicht um den leblosen Sohn in seinen Armen, während am rechten Bildrand ein verhüllter Moses im kalten Schatten lauert. Der Fokus liegt hier auf dem Gesicht des Pharao, das starr nach vorne blickt; doch im Gegensatz zum restlichen, umgebenden Figurengut ist dieser Pharao verletzlich und ambivalent. Menschelnd. Denn die starren Augen in seinem Gesicht, sie sind glasig. In dem trauernden Blick, da machen sich tatsächlich Tränen breit, so dezent und versteckt, dass ich sehe, wie der Pharao gegen das glasige Detail ankämpft.

In diesem Detail liegt all die Trauer, mit der Alma-Tadema ein halbes Leben selbst zu kämpfen hatte: Sein eigener Sohn starb bereits nach wenigen Monaten; es war sein erstes Kind. Und es ist diese reale Trauer des Künstlers, die sich im Auge des Pharao widerspiegelt. Während die anderen Gemälde nur anonyme Antikebewohner zeigen, sehe ich im Pharao seinen persönlichen Schöpfer. Deshalb ist der Pharao lebendig, deshalb steckt in seiner Darstellung ein Schicksal: Sir Lawrence kannte nicht das Leben am Römischen Theater, er kannte nicht den Luxus der Kleopatra – doch er kannte den Schmerz über den Tod des Erstgeborenen.

Das ist der kleine, glasige Unterschied, das eine Detail, das die Ausstellung so traurig wie menschlich macht. Eine Entdeckung.

Montag, 8. Mai 2017

Über Stille

Nach langen Monaten in immer gleichen, immer neuen Ausstellungsräumen, bin ich wieder einmal im Palais des Fürsten, an einem frühlingshaften, unentschlossenen Nachmittag, inmitten von bestens gekleideten Doktoren und Doktorinnen besten Alters. Heute dienen die Palaismauern als Kittel eines Kongresses, zu dem wichtige akademische Menschen aus In- und Ausland geladen wurden, aufgefordert, zu diskutieren und zu speisen; und nebenbei die Räumlichkeiten zu bestaunen.

Da stehe ich, in der schönsten Bibliothek des Landes, der geistigen Schatzkammer des Palais’, die nur für kurze Zeit und nur zu Sonderanlässen ihre Türen öffnet. Wie heute. Ich stehe im ersten Abschnitt der Schatzkammer, deren bernsteinfarbene, marmorhafte Wände fast vollständig mit Bücherschränken verhüllt sind, vom Deckenleuchter in warme Goldschimmer getaucht. Zwischen losen, hölzernen Büsten auf hohen Marmorsockeln stehe ich am Parkett und atme den Geruch von zahllosen gebundenen Werken aus fünf Jahrhunderten, die von der Fürstenfamilie ersammelt und erkauft wurden, und hier, in den verträumten Bibliotheksgemäuern einen nostalgisch klaren Geruch von Geheimnis versprühen, ein unfassbar schönes Rätsel, das sich bereits in der Anordnung offenbart: wurden die Werke hier schließlich nicht nach Inhalt oder Namen, sondern rein nach Farbe sortiert. So strahlt der Bücherschrank zu meiner Rechten in einheitlichem Rubinrot, der Schrank gegenüber in Smaragdgrün. Und dazwischen stehe ich, auf dem makellosen Parkettmuster, da, wo die Ästhetik über jeder Kategorie steht.

Für eine Stunde sind die Türen offen, dürfen sich die teuren Gäste die unschätzbare Sammlung ansehen, freilich nur mit den Augen, dürfen die als Bücherwand getarnte Tür zum Hinterausgang bestaunen und die schrumpelige, kleine Kunstvermittlerin mit Fragen überhäufen, während ich weiter zwischen ihnen und den Jahrhunderten stehe und darauf achte, keine Fotografien oder Berührungen zuzulassen. Einmal stößt eine Dame mit ihrer Schulter gegen eine der Büsten und bringt diese beinah zu Sturz. Ich halte die Luft an. Die Dame lacht und geht weiter.

Schnell ist die Stunde vorüber, der Kongress bittet zur nächsten Podiumsdiskussion im ersten Stock, ich bitte die Leute zur Tür. Und dann erscheint der Riese. Ein extrem hoch gewachsener, sehr schmaler Herr in Frack schwebt plötzlich durch die goldene Bibliothek, wie eine Traumgestalt aus Twin Peaks, er nimmt mir die Arbeit ab und wedelt die Gäste mit einem winzigen Silberglöckchen zum nächsten Programmpunkt. Endlich leert sich der Büchertresor, sämtliche Gäste sind zufrieden weiter gezogen, ich blicke dem letzten noch einmal nach, wütend bis ängstlich, als ich sehe, wie knapp er die Büste mit seiner Schulter verfehlt. Respekt, denke ich, so viele Probleme entstehen aus Mangel an Respekt; da spüre ich drei Menschen um mich. Neben mir stehen die Kunstvermittlerin, der Kollege von der Sicherheitszentrale, der gerade zusperren möchte – und der Riese im Frack. Zu viert stehen wir da, in der Schatzkammer des Fürsten, lächeln stumm einander zu. Eine Sekunde stummes Warten. Dann blickt die kleine Kunstvermittlerin an dem Riesen hoch, und es entsteht folgender Dialog zwischen ihnen:

„Wie groß sind Sie?“
„Zwei Meter vier.“
„Und Ihre Frau?“
„Die ist tot.“

Hier stehe ich im goldenen Gedächtnisspeicher, höre diese monoton gesprochenen, letzten Worte des Riesen, das Lachen steckt mir tief im Hals, und zum ersten Mal verstehe ich sie, diese banale, treffende Phrase: Es herrscht betretene Stille.  

Sonntag, 9. April 2017

Der andere Bond

Bond passiert immer alles. Immer im Auftrag seiner Majestät, immer auf der Jagd nach koketten Kriminalgesichtern, immer mitten in der globalen Weltenrettung, und immer gelenkt vom unreflektierten Selbstverständnis der Situation, von dieser absoluten, fraglosen Traum- und Pornomentalität. Er ist der sichtbare, der immer präsente. Über ihn weiß ich alles: Wie er seinen Martini genießt, wie er seine Frauen verführt, wie er seine Gegner tötet.

Der andere, unsichtbare, hat mit dem sichtbaren nur wenig gemein. Er macht sich zwar auch einen Martini, wenn er nach der Weltenrettung zurück ins kahle Appartement kommt, in dem sich immer noch die Umzugskisten stapeln – aber er genießt ihn nicht. Er verbringt zwar auch jede Nacht mit einer austauschbaren, unglücklichen Frau – aber er verführt sie nicht. Und noch während er auf ihr liegt, denkt er an die vielen anonymen Gegner, die er zuvor getötet hat, und obwohl er weiß, wie notwendig es war und wie sehr sie alle den Tod verdient haben, da verfolgen sie ihn dennoch, die abrupten Schreie der ungezählten Handlanger. Und dann, später, wenn er wieder alleine im Bett liegt und dem bedrohlichen Ticken der Uhrzeiger lauscht, da fragt er sich erneut, warum er immer noch niemanden hat, den er anrufen möchte, und warum sie ihm immer noch nicht erteilt wurde, die Lizenz zum Leben.

Niemals aber trifft der andere auf den Agenten mit der Doppelnull, auf den nonchalanten Traumtänzer und Riesentöter, der die Gedanken des anderen nicht teilt, weil er keine Zeit für sie hat. Der andere existiert nur in jener kurzen Phase zwischen Verfolgungsjagd und Casino, zwischen Schleichmission und Kreuzlegung, in der leeren Zeit zwischen zwei megalomanen Schurkenplänen. Er ist nicht der Agent ohne Eigenschaften, er ist die Eigenschaft ohne Agent. Er muss die leere Zeit füllen, die ihm der Doppelnull-Smoking überträgt, die Wartezeit, die in keiner rasanten Geschichte Platz findet, die inneren Qualen, die unsichtbaren Zweifel und den elendigen Hass, gegen sich selbst und gegen den Weltenretter, der nie zögert und alles kann, solange er niemals anfängt, darüber nachzudenken.
     
Ich weiß nicht, wer von beiden auf den anderen verzichten könnte.

Mittwoch, 5. April 2017

Ewiges Rätsel

Ich lese Knausgård. Genauer, ich lese seine Essays, nicht das vorangegangene Selbstbeschäftigungsphänomen in sechs Bänden, für das ich keine Ruhe finde. Auch die Essays sind immer einen Tick zu lang, genau jenen Tick aber, den es braucht, um gedanklich abzuschweifen und sich noch während der Lektüre in eigene, wilde Bewusstseinsströme zu stürzen.

Ich lese Knausgård, die Stunde ist sonnenlos, und ich frage mich: Warum nennt ein norwegischer Schriftsteller, der bekanntermaßen Hitler gelesen hat, seinen sechsbändigen, autobiografischen Romanzyklus Min Kamp? Ist es ein Akt der Provokation? Ist es Revolte? Trotz? Oder geht es ihm bloß um die Aufdeckung der Banalität des Kampfbegriffes? Ich weiß es nicht. Und, um ehrlich zu sein, ich möchte es auch nicht wissen. Wüsste ich es, wäre die Titelwahl eindeutig und somit uninteressant, wie alles Eindeutige. Lieber entscheide ich mich dafür, das Wissen nicht zu suchen, obwohl es sich unschwer finden ließe, ein paar Klicks im Netz, ein Artikel, ein Interviewfetzen, es kostete mich keine fünf Minuten. Warum aber verzichte ich auf diesen ach so leichten Wissensgewinn?

Es heißt, Wissen ist Macht, doch das ist unpräzise. Wissen allein ist machtlos, erst die Wissenskontrolle erschafft Macht. Gebe ich vor, was zu wissen und was nicht zu wissen ist, habe ich das Momentum der Geschichte in der Hand. Entscheide ich mich aber freiwillig dafür, etwas nicht wissen zu wollen, falle ich aus dem gewinnorientierten System der Wissenszunahme heraus – aus freien Stücken zu sagen, ich möchte die Beweggründe einer literarischen Kampfansage nicht wissen, weil es dem Werktitel seines Geheimnisses beraubte, das ist die eigentliche, scheinbar schwache Entscheidung, durch die ich mir einen bewussten Rest an Rätsel erhalte. Denn Rätsel ist das kunstvolle Pseudonym des Nichtwissens, das sich erst in seiner Auflösung auflöst; belasse ich es im festen Zustand, hält es ewig. Es überdauert Hitler, es überdauert Knausgård, es überdauert mich und mein gesamtes, rätselhaftes Sein.

Es gibt Tage, nicht wenige, an denen glaube ich, umso weniger zu begreifen, je mehr ich erfahre. Das allwissende Netz trägt seinen gastlichen Teil bei, bewirtet mich mit hochprozentigen Wissensdestillaten, die mich verkatert zurücklassen, während die Konturen des Rätsels nach und nach schwinden. Es ist schade, immer alles erfahren zu können, immer zu sehen, was in dieser oder jener Welt geschieht, was sich wer worüber warum denkt, weshalb das Falsche falsch ist und das Richtige richtig. Es fällt mir schwer, unendlich schwer, mich loszulösen von den Verlockungen des Wissens, mir die Ewigkeit des Nichtwissens aufrechtzuerhalten, das Rätsel in meinem Kopf zu hegen, damit er sich nicht auflöste.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich überhaupt schreibe, warum ich einer Tätigkeit nachkomme, für die ich mich so beschämend unqualifiziert fühle: Weil es mir hilft, das Nichtwissen zu bewahren. Alles, was ich schreibe, ist zutiefst lückenhaft, voller Zweifel, Ängste und Unsicherheiten, und ich werde schon morgen nicht mehr wissen, wie ich diesen Text heute verfassen konnte. Aber eben dieses Nichtwissen um die eigene Form und seinen möglichen Inhalt, dieses unerfüllte Nichtwissen ist es, was es so unwiderstehlich und überdauernd macht, und mit jedem noch so schlechten Satz wirken die Zweifel, Ängste und Unsicherheiten weniger schlimm.

Schreiben ist ein ewiges Rätsel, es ist die Entscheidung, nicht zu wissen, sondern zu suchen, aber nicht nach einer Antwort, sondern nach – ja wonach eigentlich? Nicht einmal das weiß ich genau. Und, um ehrlich zu sein, ich möchte es auch gar nicht wissen.

Sonntag, 26. März 2017

Unter dem frittengelben Doppelbogen

Auf meinen Spaziergängen durch die Stadt verschlägt es mich immer wieder in eine der austauschbaren Filialen jener genussbefreiten Schnellimbisskette mit dem frittengelben Doppelbogen im Logo. Ich trete ein, obwohl ich das Markenkonzept dieser Einrichtung zutiefst verachte. Ich trete ein, weil mir das Bild im Inneren mehr erzählt als tausend Blogs und ich nach genau diesen Bildern giere, die umgehend einen Schalter in mir betätigen und den Beobachtermodus des Sicherheitsorgans aktivieren. Stoisch betrachte ich all die heiter bis apathischen, modebewussten Schüler und Schülerinnen, die sich in den Sitzecken sammeln und unter dem Dach des Konsumtempels ein selbsternanntes Jugendzentrum einrichten, das sie in ihrer maßlosen, überfordernden Freizeit auffängt. Wann immer ich eine Filiale betrete, sind die Jugendlichen bereits da; sie bilden eine soziale Konstante in meinem Leben, ohne je mit ihnen Kontakt zu haben.

Doch meine Aufmerksamkeit gilt nicht ihnen. Mein Blick ergreift sie nur so lange, bis ich die sauber blitzende, raumschiffartige Theke erreicht habe und in die Gesichter dahinter sehen darf – die jungen, emsigen, ausgebeuteten Mitarbeiter der Marke, Mitarbeiter, die täglich variieren und mir dennoch seltsam vertraut erscheinen. Vielleicht erkenne ich mich in ihnen wieder, vielleicht kann ich mir vorstellen, an ihrer statt zu stehen – wenn ich ihre Geschwindigkeit hätte und eine Kasse bedienen könnte.

Zögernd stehe ich an der sterilen Raumschiffverkleidung und bestelle schließlich einen einzelnen Cheeseburger, während ich den Euro in der Hosentasche ertaste und mit meinen Blicken bei den drei jungen Thekenkräften verbleibe, die ich schon in der Warteschlange fixiert hatte – drei Menschen, in denen sich das ethnische Spektrum der Stadt bündelt, deren Körperhaltungen und Hautfarben nicht unterschiedlicher sein könnten. Menschen mit verschiedensten Wurzeln, deren Stammbäume Kontinente überschatten. Bunte Menschen aus aller Welt, vereint unter dem frittengelben Doppelbogen.

Wie kommt es, dass ich immer wieder hier lande, obwohl der Burger kaum schmeckt und ich mich offen schäme, diese lieblose Einrichtung mit meinem Euro zu unterstützen? – Ich sage, ich bin hier wegen ihnen. Wegen der kleinen Inderin mit dem Trainee-Button auf der Brust, dem tätowierten Deutschen mit dem Riesenbizeps, der übermüdet lächelnden Dame mit dem dunklen Afro. Diese Menschen auf der anderen Seite der Theke sind es, Hintermenschen, die mich herlocken, in diese sonderbare Raumschiffstation, und mir meinen dunklen Tag erhellen, allein durch das Wissen, dass es sie gibt. Ich bewundere sie, jeden einzelnen von ihnen, sie machen einen wunderbaren Job zu furchtbaren Konditionen, werden annähernd schlecht entlohnt wie ich, doch sind sie zusätzlich einem kulturlosen Umfeld ausgeliefert, das nur aus Normierung und Kapital besteht, einer Schnellkonsumphilosophie, die nirgendwohin führt, einer Droge ohne Genuss. Ich bewundere sie, die Tag und Nacht einer Arbeit nachgehen, die niemand machen möchte, für die es mitleidige Mienen setzt, wenn man den Arbeitstitel nur ausspricht.

Jedes Mal, wenn ich wieder in der Warteschlange stehe, bevor ich meinen Euro hervorhole, da stelle ich mir ihre Geschichten vor, frage mich, woher sie kommen und was ihre Träume sind, wofür sie arbeiten und wofür sie einstehen – und wenn ich mich traute, ich wollte sie ausfragen und ihnen lauschen, über Stunden und Wochen, alles, ja, alles wollte ich von ihnen wissen, ihre gesamte Geschichte, von ihrer Geburt bis hin zu der Geste, die mir den Cheeseburger in die Hand drückt.

Und ich stelle mir jede einzelne ihrer unbekannten Geschichten um so vieles spannender vor, als es das normierte Erfolgsmärchen des Markengründers je sein könnte.

Dienstag, 21. März 2017

Donnerstag, 16. März 2017

Das absolute Kunstwerk

Immer wieder habe ich das seltsame Gefühl, filmisch zu träumen. Also eben so zu träumen, als befände ich mich in einem interaktiven Filmkunstwerk, mitsamt all seinen handwerklichen Raffinessen und medialen Markenzeichen, mit seinen sanften Überblendungen, harten Schnitten, dynamisch-rhythmischen Montagen und, manchmal, sogar überstilisierte Zeitlupeneinstellungen, in denen sich das unmittelbare Geschehen wie ein beschwertes Pendel in bodenlose Langsamkeit zieht.

Doch wie könnte – trotz all dieser Eigenheiten – ein nächtlicher, unbewusster Trauminhalt jemals filmisch sein? Der Traum existiert seit Menschengedenken, die Filmgeschichte weist gerade einmal lächerlich kurze 120 Jahre auf. Warum also sollte sich der Traum für eine pubertäre, unreife Erfindung wie den Film interessieren? Was nützte er ihm? Mein Traum kennt kein Filmvokabular, er kennt nur mich, und auch von mir nicht mehr als mein Unterbewusstsein.

Ich sage, ich träume filmisch, doch im Grunde sage ich damit das Gegenteil, ich sage, gewisse Filme weisen Merkmale des Traums auf. Denn der Traum muss immer vor der Kunst stehen und jedes Kunststück muss vom Traum beeinflusst sein – ganz gleich, ob die Kategorie nun Film, Literatur, Musik oder Malerei heißt, die Künste werken allesamt nach den Regeln des Traums, bauen Ängste und Wünsche ab wie Erz und verpacken sie in eine sinnlose Form, die sich selbst genügt; eine Form, in der ich Bedeutung finden möchte, weil es keine gibt, und die mich dadurch erst recht zur Suche animiert. Im Schreiben bin ich ein Sklave meiner Gedanken, im Traum aber bin ich der gedankenbefreite Künstlerautomat, der sich wie auf Schienen dem Bilderreigen nähert und an sich selbst vorbeizieht, gleichzeitig Architekt und Tourist seiner eigenen Welt ist, sich mitreißen lässt vom Unterbewusstseinsstrom, der uns Menschen überhaupt erst ermöglicht, im Wachen zu schöpfen – denn ohne Traum gäbe es keine Ideale und Paradiese, keine göttliche Komödie, keine Erinnerung an schmelzende Uhren, keine dunkle Seite des Mondes, keine kreisförmigen Ruinen, keinen Bloom’s Day, keine Montage der Attraktion. Jedes Kunstwerk ist eine hilflos beschränkte Annäherung an den Traum, dessen absolute Erfahrung nie vollständig dargestellt werden kann, weil die verschlafene Erinnerung ihn bereits abschwächt und zusammenfasst. Zeit seines Lebens wollte er etwas schreiben, dass sich ganz wie ein Traum anfühlt, sagte Borges einmal. Es sei ihm nicht gelungen, ergänzte er.

Ich sage, ich träume filmisch, weil es mir an präziseren Worten mangelt, um das vage, unhandliche Traumerlebnis in seine nachträgliche Form zu überschreiben. Die morgendliche Sehnsucht, den Traum im Wachen so wiederzugeben, wie er sich im Schlaf zeigte, muss stets unerfüllt bleiben; und jedes Kunstwerk muss ein unvollendeter Traumtransfer bleiben, weil der Traum introvertiert ist und sich niemandem zeigt, außer dem Träumer selbst. Es gibt nichts Intimeres als den Traum – und weil der Traum immer privat ist, kann er nie ein äußeres Publikum finden. Nie wirklich.

Das absolute Kunstwerk, es wäre ein öffentlicher Traum.

Mittwoch, 8. Februar 2017

Relationen (VII)

Es gibt Tage, die vergehen, und es gibt Tage, die bestehen.

Samstag, 21. Januar 2017

Die Alten

Was liegt mir daran, jung zu sein? Ich habe meine Neugier, meine Konstitution, aber was weiß ich schon? Ja, möglich, Wissen ist nicht alles, ja, Montaigne hielt schon fest, wo der Verstand fehlte, sei alles Wissen umsonst; allein, um den Verstand zu schärfen, braucht es Jahr um Jahr um Jahr, es braucht Zeit, oder besser – Erfahrung. Etwas, das die Jugend nicht haben darf, weil sie sonst nichts mehr zu suchen brauchte. Jungsein heißt, nur nach vorne schauen zu können. Den Jungen gehört die Zukunft, natürlich, doch den Alten gehört die Vergangenheit. Sie haben das selbst erfahrene Wissen der Vergangenheit intus, haben es mit Hirn und Seele verschlungen, wie jener geladene Greis, der mir jüngst beim Festmahl im Fürstenpalais erklärte, er sei schon einmal hier gewesen; anno 1944, auf jener pompösen Hochzeit des Adels, auf der es abschließend Eis gab, jenes verheißungsvolle Desserteis, das ihm verwehrt bleiben musste, weil die Hochzeitsrunde sich just in dem Moment erhob, als ihm der kalte Nachtisch serviert werden sollte, und der Junge von damals nur mit seiner enttäuschten, eiskalten Erinnerung zurückblieb, die erst jetzt, in der Rückschau eines Lebens zu jenem bedeutsamen Detail wachsen konnte, das alle Erinnerungen und Erfahrungen einer gelebten Epoche in sich trägt – noch Jahrzehntelang vor meiner Geburt.

Nur die Alten können das Desserteis einer vergangenen Epoche lebendig machen, weil nur sie es hautnah erfahren durften. Wissen ist nicht alles, doch alles Wissen ist umsonst, wo das Detail fehlt. Ich erlebte immer wieder, mal im Dienst, mal im Warten, wie sich die unerhörten Alten neben mich stellten und mir ganz selbstverständlich ein Kapitel ihrer Lebensgeschichte erzählten, zufällig aufgeschlagen auf einer scheinbar willkürlichen Seite, und immer, ja immer, war das Kapitel mit unglaublichen, lebendigen Details durchsetzt, die niemals jemand erfinden konnte. Details, die im Rausch der Jugend kaum fassbar sind, die erst mit der Zeit zu dem werden, was sie sind – Blätter, die den Baum tragen. Unerhörte Erzählungen, in denen sich das gesamte Wissen und die Erfahrung eines Lebens widerspiegelt.

Warum aber bleiben die detaillierten Alten so gerne unerhört? Warum wird ihrer Stimme kein Gewicht verliehen, warum werden sie wie sture Arbeitsverweigerer behandelt, die am regen Gesellschaftsbau nicht willkommen sind? Weil ihre faltenreichen Gesichtsfurchen keine Belastbarkeit erkennen lassen; weil der junge Blick auf die Alten keine Zukunft mehr sieht; weil ihre Körper abgenutzt sind und schwach und ihre Schwäche nichts zu sagen hat.

Ich bin nicht überzeugt davon. Ich finde keinen Gefallen an der strikten Klassentrennung zwischen zukunftsreicher Jugend und verblichenem Lebensabend, an der Überhöhung des Kommenden gegenüber dem Gewesenen. Die Zukunft ist nichts anderes als uneingelöste Vergangenheit, die Jugend nichts weiter als unwissendes Altern.

Ich denke wieder an das uneingelöste Desserteis von 1944 und wie unmessbar viel es dem greisen Geschichtenerzähler bedeutet haben muss. Ich denke: Junge Menschen haben etwas zu sagen, alte Menschen haben etwas zu erzählen.

Freitag, 13. Januar 2017

Surroundings

Kafka hatte einen. Pessoa sowieso. Lange Zeit auch Borges. Und vielleicht ist es gar nicht so schlecht, einen schlechten Job zu haben. Er sorgt für Bescheidenheit und Demut, Begegnungen und Ruhe; Dinge, die ohne ihn undenkbar wären. In all meinen schlecht bezahlten Runden durch Museumsräume, Prunksäle und Empfangshallen begleitet mich das Wissen, mich bewusst für diesen karrierebefreiten Teilzeitweg entschieden zu haben, mit dem ich mein Schreiben rechtfertigen kann, ohne das permanente Albtraumgefühl des freien Sozialfalles zu erleben. Ein schlechter Job ist die Voraussetzung, um mir die Arbeit an mir selbst leisten zu können. Denn was wäre Schreiben auch anderes?

Es gibt Dienste, die sind lang, aber niemals langweilig. Langeweile ist die Einbildung eines Geistes, der sich vor der Welt verschließt. Sobald ich aber mit meinen billigen, mäßig polierten Herrenschuhen den ersten Schritt in die exotische Arbeitswelt wage, beginnt sich alles um mich herum zu einer großen Bühne zu wandeln, einer Bühne, auf der immer und immer wieder neue Szenen improvisiert, vorgetragen, variiert und abgebrochen werden. Sie sind meist banal, oft dilettantisch, manchmal herausragend, doch immer faszinierend, und immer liegt in ihnen der Zauber der Unberechenbarkeit, die Ahnung des Konjunktivs, ein Was-wäre-wenn, das jede kleine Geste und jedes Wort begleitet und das nie eingelöst wird; nie eingelöst werden muss. Es genügt, ihre Vorstellung zu sehen.

Der schlechte Job schärft meine Aufmerksamkeit und meine Gedanken, er wirft mich in die Vielfalt der Eindrücke und Schicksale, mitten hinein zwischen den oberen Zehntausend und  Kaffee mit zwei Putzfrauen, zwischen verschwenderischen Galadinnern und ruhelosen Ausstellungshetzern, zwischen Unmengen an vernichteten Gourmetresten und bescheiden belegten Broten, die niemals so gut schmecken können wie in der endlichen Arbeitspause einer hungrigen Schicht.

Kürzlich fragte mich eine ältere, kanadische, knallbunte Museumsbesucherin mit abgewetzter Umhängetasche, ehrlich beglückt von der geballten Biedermeierkunst an den Wänden, ob ich denn gerne hier arbeite. „Yeah“, antworte ich, halb nickend, halb zögernd, „I like the surroundings.“

Samstag, 7. Januar 2017

Popeye, neu erzählt

Ein alter Seemann, der das Meer längst hinter sich gelassen hat, verbringt seine späten Tage in schummrigen Hafenvierteln und hält sich mit schlecht bezahlten Boxkämpfen über Wasser. Freunde oder Ziele kennt er nicht, soziale Verbindlichkeiten meidet er. Nur ein einziger Mensch existiert in seinem Leben – eine junge, zarte, wunderschöne Frau; doch ihre Beziehung krankt unter seinen vielen Kämpfen, seinem zwanghaften Drang, ständig auszuteilen, sich wieder und wieder in männlichen Wettstreit zu stürzen und für ein paar Münzen und ein bisschen Stolz falsche Stärke zu beweisen. Die vielen Prügel, jeder Ringkampf, tausend Schläge haben ihn über die Jahre gezeichnet: das rechte Auge tief verquollen, das Sprachzentrum ist angeschlagen. Doch der Seemann kämpft weiter.

Er kämpft halbblind und ohne Fokus und er steckt ein, lange und viel. Doch er will, er kann diese Kämpfe nicht aufgeben, er braucht das Geld, aber noch viel mehr braucht er den Wettstreit, das Stärkemessen, das ihm längst zur Sucht geworden ist; bald greift er zu härteren Mitteln, um noch mithalten zu können, er putscht seinen Körper mit billigen Steroiden, die er in Spinatkonserven tarnt, um sie zuhause vor der Frau zu verstecken. Es ist der Trugschluss des Süchtigen; seine Wut, die Aggression, seine rohe Gewalt, nichts davon lässt sich verstecken. 

Hilflos steht sie ihm gegenüber, muss zusehen, wie er um sich schlägt, wie er sich unverwundbar fühlt, während sein Körper weiter verfällt. Sie könnte ihn verlassen, einfach gehen, doch sie bleibt; sie bettelt, sie ruft, sie weint – es ändert nichts. Zu stark fühlt sich der Seemann im Rausch, zu sehr braucht er das Gift aus der Konserve. Die Steroide benebeln seine Sinne, wieder und wieder schwappen sie über ihn, wie die Flut, die ihn zurück am Sand lässt. 

Erst nach vielen Jahren, als er sich die Droge nicht mehr leisten kann und die letzte, leere und zerdrückte Konserve von sich wirft, da blickt der alte Seemann noch einmal auf sein verwirktes Leben zurück. Und er erkennt unter Tränen, dass er immer dann am schwächsten war, wenn er sich stark gefühlt hat. Noch einmal blickt er durch die verquollenen, schmalen Augenschlitze, blickt hoch zu der Frau, die ihm bis zuletzt beisteht, die nicht von seiner Seite weicht und ihm noch jetzt die blutleere Hand hält, trotz allem, und er wispert ihr mit schwacher Stimme zu: „Ich wünschte, ich wollte niemals stark sein.“

Dienstag, 3. Januar 2017

Ist das Biedermeier?

Nachdem die fabelhaften Figuren, Landschaften und Skizzen eines Franz von Stuck endlich wieder aus den Museumsräumen entwichen sind, erstrahlen die Ausstellungswände in neuen, gehaltvollen Farben. Auf feuerroten, minzgrünen und sanddornfarbenen Hintergründen breitet sich die kuratierte Titelfrage aus, ob diese unzähligen Porträts und Panoramen denn wirklich Biedermeierkunst wären. Ob die frühen Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts nicht doch etwas mehr hervorgebracht haben, als schwülstig schwere Leinwandmotive in naturalistischer Vollendung. Sie haben.

Natürlich, da gibt es die ganz großen Dramen, etwa bei den Italienern: das blutige Resultat einer Vendetta am Wegesrand, die stilvoll trauernde Witwe am Grab des Geliebten. Da ist Amerlings Zartheit, die ein Taubenmädchen zur Madonna erhebt. Da ist Danhausers Erzählkunst, die verkehrte Rollenbilder und Genderfragen in einer elitären Schachpartie versteckt. Daneben die Erhabenheit zentraleuropäischer Bergmassive, der Hafen von Venedig, Meeresküsten, Sonnenauf- und -untergänge, und immer wieder Wald- und Wiesenquerschnitte der verschiedensten Malerschulen. Doch gehört der Fokus der Werkschau dennoch einem einzigen Talent, einem, dessen sonnendurchflutete Gemälde in ihrer fantastischen Präzision selbst unter Meistern unerreicht blieben. 

Wenn die Biedermeierkunst einen Star brauchte, dann fand sie ihn mit Ferdinand Georg Waldmüller. Sie fand ihn mit seinen zahllosen, fröhlich pfeifenden Kinderarbeitern, die barfüßig bei Winterskälte Reisig sammeln und dabei vergnügt lächeln, stets munter, motiviert und nie allein. In sämtlichen Räumen hängen Waldmüllers regungslose Heimatfilme, deren Licht für heilige Konturen und deren Inhalt für verhüllte Realitäten sorgen. Die stumme Kritik des Künstlers am unmenschlich brutalen Bauernalltag, sie bleibt allzu unsichtbar hinter den lachenden Gesichtern und fetischartigen, blitzeblanken Fußsohlen der immerglücklichen Kindergestalten seiner perfektionierten Glanzbilder.

Bis auf eines. Ein einziges Gemälde ist es, das sich von den ästhetischen Kitschfesseln befreit, das die Ausstellung im Alleingang über seine Zeit erhebt, das mehr ist, als der kleinbürgerliche Biedermeierbegriff suggeriert; im vorletzten Raum der Galerie, da hängt es, fast unscheinbar, zwischen den mächtigen, einschüchternden Farbkompositionen ringsum, ein leises, ein sanftes, ein unfassbares Bild von unermüdlicher Schönheit. Die Erschöpfte Kraft einer Mutter, 1854 niedergepinselt, schlafend liegt sie am Boden eines nächtlich-düsteren Kinderzimmers, sich selbst wie dahingeopfert für den wohligen Schlaf des Nachwuchses im Bett daneben, für das Kindchen, auf dessen Stirn die einzige Lichtquelle von der Kommode aus leuchtet – hier scheint sie durch, die Dokumentation seiner Zeit, in der sich Mütter bis zum Umkippen verausgabten und auf den Bodendielen rasteten, weil die Kraft sich noch vor der Bettkante erschöpfte; hier pinselt Waldmüller endlich ohne rotbackige, mäzendiktierte Heiterkeit die verfluchte Härte des Lebens in all seinen unendlich feinen Schattierungen, komponiert Licht und Schatten in überirdischer Perfektion, fängt jedes Detail, jede Abstufung, jedes Staubpartikel ein, das Halbdunkel des Zimmers, die noch offene Tür in den finsteren Gang, das wenige Kerzenlicht, die Anstrengung des Tages, die unheimliche Todesahnung, die unerbittliche Mutterliebe, die perfekte Verkürzung des liegenden Frauenkörpers, die nuanciert erleuchtete Kindermine im Bettchen; einfach alles.

An einem nächsten Nachmittag im Museum beobachte ich eine besonders redefreudige Besucherin mittleren Alters, sie schreitet in Begleitung zweier Herren durch die Ausstellung und vergibt hier und da ein schnelles Kunsturteil. Im Vorbeigehen blickt sie auf das Gemälde der erschöpften Mutter, macht eine kleine Handbewegung hinüber und bemerkt laut, ohne stehen zu bleiben: „Puh, ist das finster! – Aber gut, hat er nicht viel malen brauchen.“