Nach langer, viel zu langer Zeit gehe ich wieder einmal ohne
Dienstanzug ins Museum, sehe mir die Rubens-Schau in der kunsthistorischen
Konkurrenz an. Es ist ein süßes Gefühl, die Aufseher des Hauses einmal im Licht
der Freizeit zu betrachten, einmal zum Beobachter der Beobachtenden zu werden,
und still mit ihnen mitzufühlen, wenn die Bildalarme losheulen und die Dienstanzüge
durch die Räume hetzen. Fast verliere ich mich in ihren Gesten und Gesichtern
und muss mich erst daran erinnern, für wen ich eigentlich hier bin.
Rubens, ein Name so klingend wie ein Popstar (der er auch
war), ein „Tarantino der Malerei“, wie ihn das Staatsfernsehen wenig subtil bewarb,
ein stilistisches Vorbild für alle Graphic-Novel-Pioniere und Superheldenzeichner,
die ihre Ästhetik aus wild wuchernden Muskelbergen und übertrieben üppigen
Schenkeln beziehen, aus dem Fleischlichen, Schwitzenden, Unverhüllten, Sinnlichen.
Überall posieren die Überkörper in makelloser Anspannung, und doch fehlen hier,
in dieser umfangreichen, ausgelasteten Ausstellung, ein paar wichtige Werke. Ich
stelle es ohne Überraschung fest, weil ich weiß, wo sie wohnen: In meinem
zweiten Wohnzimmer, dem Fürstenpalais. Dort, im ersten Stock, treffe ich sie
alle paar Wochen, grüße Rubens’ intimste, spannendste Bilder bei privaten Führungen,
freue mich jedes Mal auf ein Wiedersehen mit dem Porträt der beiden Söhne, dem
Bildnis der Tochter, der Venus im Spiegel.
Sie alle fehlen hier. Stattdessen wollen meterhohe
Kirchenthemen und antike Mythenfiguren überwältigen (sie tun es), und dennoch
hält mich erst ein spätes Bild in den letzten Räumen, ein Bild, das aus Rubens’
Ölmassen massiv heraus sticht. Es ist Der
gefesselte Prometheus, eine
lebensgroße Darstellung des göttlich Gestraften, dem ein Adlervogel die Leber
zerfrisst, gewohnt dramatisch, kraftvoll und explizit. Doch etwas ist anders an
diesem Werk, etwas hebt es ab, etwas stimmt nicht mit den Strichen.
Es steht darunter, winzig klein, wie eine Fußnote, eine
marginale Ergänzung, fast schon ein Gefallen, es zu erwähnen: der Adler im
Bild, der geflügelte Henker, der den Prometheus Tag für Tag verzehrt, stammt
nicht von Rubens. Er stammt von einem anderen, flämischen Malergenie, nämlich
von Frans Snyders. Er muss es tun, denn er ist zu gut, die Federn zu genial, um
von irgendjemand anderem zu sein, außer ihm; wenn Rubens der Tarantino seiner
Zeit war, dann war Snyders der Andy Serkis seiner Zeit – derjenige, der immer
dann angefordert wird, wenn irgendwo eine Tierdarstellung vonnöten ist. Denn
Snyders konnte Tiere zu Leben erwecken wie kein zweiter, er verstand es, Vogelwesen,
liegende Löwen und erlesene Meeresgaben enzyklopädisch genau wiederzugeben, sie
zu zeigen, als wäre er einer von ihnen. Als wäre er ein Adler in Mannsgestalt, allein, um seine Artsverwandten malen zu können.
Er war der vielleicht größte Tiermaler seiner Zeit, doch er
war die Nummer eins in einer Nische; deswegen strömen die Generationen zu
Rubens und nicht zu ihm, deswegen ist eine Erfolgsschau nach dem Popstar
benannt und nicht nach dem Charakterdarsteller. Und ich stelle mir vor, Snyders
wusste das. Er wusste, dass er mit dem, was er tat, nie so berühmt werden
könnte wie ein Rubens, weil seine Perfektion nie aus der Nische treten würde.
Und egal, wie brillant und dynamisch sein Adler im Prometheus auch ist, es bleibt ein Adler, der ein Rubensbild
vollendet. Es ist ein gefühltes „nur“, das leise in Snyders’ Nische durchklingt:
Er ist „nur“ für seine Tiere bekannt, er hat Rubens’ Meisterwerke „nur“
ergänzt, weshalb wir uns heute nur an Rubens erinnern.