Montag, 24. Juli 2023

Brief an Modiano

Walter Benjamin hat mal geschrieben, die Übersetzung eines Buches solle wie eine Arkade sein, durch die das Licht des Originals hindurchscheine; das ist ein schönes, ein ganz wunderbares Bild, das mir immer in den Kopf kommt, wenn ich eine gute Übersetzung lese und dabei zu spüren glaube, die Stärken, den Witz, den Rhythmus und das Rätsel des Originals mitzulesen, seinen Stil durchzuhören, ein kraftvolles Echo im Arkadenhof, das lange nachhallt. Umso ärgerlicher seine Antithese: der schrille Ton der schlechten Übersetzung, das aufdringliche, überkonstruierte Gebäude, das den sanften Schein des Originals entstellt oder verdrängt.

Wie in der Schauspielkunst, der Malerei, Musik und Poesie, wie in jeder Disziplin, die nur irgendwie nach Kreativität verlangt, muss es auch im Fach der literarischen Übersetzung verschiedene Herangehensweisen und Techniken geben; die Frage, wie viel Freiheit ich mir gegenüber dem Original einräume, wie weit ich in der Übertragung abweiche, hängt nicht nur von Talent und Vorliebe der Übersetzenden ab, nein, es sind Grundsatzfragen: Versuche ich (muss ich versuchen), so nah wie möglich am Original zu bleiben und den Inhalt Wort für Wort in meine Sprache abzugleichen, oder will (sollte) ich doch eher das Gefühl des Originaltextes in meine Sprache übertragen, und mich dafür – wenn es sein muss – inhaltlich von der Vorlage weiter wegbewegen? Wie ich es auch angehe, was ich sicher nicht tun sollte, was nie und niemandem hilft, ist, das Original in der Übersetzung zu kommentieren; es zu erklären.

Wenn ich die letzten kurzen Romane eines Patrick Modiano lese, verstehe ich auch auf Deutsch sofort, warum er den Literaturnobelpreis verdient – die Unmittelbarkeit, mit der er in seine Geschichten hineinzieht, die Auslassungen, die er setzt, immer bekomme ich das Gefühl, es steckt mehr in diesen leichten Sätzen, diesen Orten, Namen, Erinnerungen, die sich in rätselhafter Nostalgie vermengen. Modiano spielt mit Geheimnissen, mit Doppeldeutigkeiten, doch hier fängt das Problem an: Sein letzter Roman ist hierzulande unter dem Titel Unterwegs nach Chevreuse erschienen, was nicht schlimm wäre, wenn es nicht eine falsche, eine grobe, eine völlig verzerrte Übersetzung darstellte. Denn im französischen Original heißt das Buch schlicht und grandios: Chevreuse.

Die Unterschiede wirken marginal, doch sie sind es nicht, ganz im Gegenteil: Schon auf der allerersten Seite philosophiert der Ich-Erzähler über diesen Titel, Chevreuse, doch er sinniert nicht einfach über den Ort, den der Name beschreibt, sondern über den Begriff selbst, seinen nebulösen Klang, der ihn über die Jahre verfolgt und ihn zurückzerrt, durch die Lücken der Vergangenheit, seine Vergangenheit, sein Mysterium: „Chevreuse“. Der Name steht zugleich für die Gegend und für das Geheimnis, das Wort ist ein Geheimnis, es ist rätselhaft, mehrdeutig, mystisch, wie die Erinnerung selbst, das große, das ewige, das Lebensthema des Autors.

In der deutschen Übersetzung geht dieser Mehrwert flöten; durch das unmotivierte, völlig unnötig hinzugedichtete Element des Unterwegsseins verliert Chevreuse seine Absolutheit, wird reduziert auf eine austauschbare französische Ortschaft. Sicher, es ist legitim, oft notwendig, etwas umzudichten, doch einen Titel auf solche Art zu verfälschen, ihn abzuschwächen, indem angehängt wird, wo nichts war, wo es nichts braucht – warum? Ich kann mir nur eine Antwort darauf geben: Angst. Eine kapitale Furcht der Verleger, ein deutschsprachiges Publikum könne sich unter Chevreuse womöglich nichts vorstellen, weshalb es einen Zusatz braucht, einen Eingriff, künstlerische Freiheit ohne jede Kunst, ein schales, vages Gefühl von Aufbruch und Reise, weil Reisen geht immer, und so erscheint ein ambivalenter, höchst geheimnisvoller Inhalt unter einem mäßigen, beschwingten Werbetitel, in der bangen Hoffnung, dadurch ein paar Bücher mehr zu verkaufen.

Und hier bröckelt Benjamins Bild, denn Unterwegs nach Chevreuse gibt es keine Arkade, kein durchscheinendes Licht, es gibt nur die sture Düsternis eines ängstlichen Marktes, der mir zu viel erklärt und zu wenig zutraut, weil er blind den Gesetzen folgt, die er selbst aufstellt, und vermutlich gar nicht begreift (oder ignoriert), wie viel dadurch verloren geht.   

Das, denke ich, ist das Paradox der Übersetzung: je mehr sie dem Original hinzufügt, umso mehr nimmt sie ihm.

Donnerstag, 13. Juli 2023

Der melancholische David

Seit 500 Tagen wütet jetzt schon der Krieg in der Nachbarschaft, nur zwei Grenzen entfernt, während ich Woche für Woche die barocken Schlachtengemälde eines Peter Paul Rubens bewache (die erst kürzlich wieder aus der Restaurierung zurück sind). Zu Beginn, da wurde die abgewehrte Invasion, die Verteidigung gegen diesen Angriffskrieg pathetisch beschrieben als ein neues, biblisches Duell David gegen Goliath, kleine und große Medien haben den Vergleich aufgenommen, ihn immer wieder stur und willig wiederholt – und nichts könnte falscher sein.

Ein Duell ist eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, ein angesetzter Zweikampf unter gleichen Voraussetzungen, für den geltende Regeln festgelegt wurden – zu einem Duell trifft man sich, es braucht eine Vereinbarung; Krieg ist das Gegenteil der Vereinbarung. Es ist dumm, es ist gefährlich, von einem Duell zu sprechen, weil es die Voraussetzungen verfälscht, außer Acht lässt, was wirklich passiert ist: ein freies Land wurde überfallen, es wird besetzt und zerstört, ohne Rücksicht auf ein Regelwerk, auf Einverständnisse, auf alles. Dass sich der Überfallene zur Wehr setzt, dass sich die Verhältnisse am Schlachtfeld umkehren, das macht es nur verführerisch (und viel zu einfach), den verkitschten David-Vergleich zu bemühen, die ewige hollywoodsche Sehnsucht nach der unwahrscheinlichen Erfolgsgeschichte, dem romantischen Triumph des Underdogs gegen eine tumbe, überhebliche Übermacht.

Es gibt viele, unzählige Bilder und Statuen des David in der Kunstgeschichte, in der ganzen Welt sind zu verteilt, doch jene Darstellung, die mich am allermeisten bewegt, sie hängt ausgerechnet hier, in meiner Stadt; in einem der schönsten hiesigen Museumshäuser (das ich ausnahmsweise privat durchgehen darf), hier hängt Caravaggios David mit dem Haupt des Goliath; es ist kein spektakuläres Gemälde, in der Größe überschaubar, fast schüchtern, zurückhaltend, auf den ersten Blick, und vielleicht zieht es mich gerade deshalb in seinen Bann. Aus der Schwärze des Hintergrunds löst sich der junge Heroe, hält den abgetrennten Kopf des Feindes hoch und schultert das Schwert, während der Blick ernst, konzentriert, etwas müde zur Seite schaut. Caravaggio zeigt uns diesen David unmittelbar nach seinem Triumph, nachdem er alles erreicht hat – nur warum sieht er dann nicht wie ein Sieger aus?

Caravaggios David präsentiert uns das Haupt des Goliath wie einen Pokal – doch er ist für uns gedacht, nicht für ihn selbst; in Davids Blick scheint keine Genugtuung, keine Euphorie des Geschafften auf, seine Augen suchen nicht die Bühne, das Publikum, sie sehen ins Abseits, von etwas abgelenkt, als wäre er noch jetzt, im Moment des Sieges, in seine Gedanken vertieft. Der nachdenkliche Blick, er befreit ihn von all dem vordergründigen Heldenpathos, denn Helden denken nicht, sie handeln, sie tun die Dinge einfach. Und immer frage ich mich, woran denkt dieser David, jetzt, wo er alles erreicht hat?

Caravaggio lässt ihn dunkel nachsinnen, er macht den Helden zum melancholischen Gewinner. Sein David ist ein Denker, und für einen Denker wird der Sieg nie genug sein – denn schon im Triumph macht er sich Gedanken über die Folgen, über das, was danach kommt, was die Tat mit ihm selber macht; deshalb sehe ich in dem Bild nicht einfach den Sieg, über den alle Welt Bescheid weiß, ich sehe die Ungewissheit, die er mit sich bringt. Ich sehe einen jungen Mann, der entgegen allen Vorzeichen gewonnen hat; der aber auch begreift, was er dafür tun musste. So sehen wahre Sieger aus, die unmenschliches geleistet haben – müde und schwermütig über das Erlebte.

Selbst im Triumph noch einen Hauch von Melancholie in den Augen, das macht mir diesen kleinen David größer und zugleich näher und glaubhafter als jede andere Darstellung des siegreichen Außenseiters. 

Dienstag, 11. Juli 2023