Dienstag, 18. April 2023

Macabéas Erbe

Ich lese Lispector. Nicht ihre neu übersetzten, wilden Erzählungen, sondern ihren letzten und schmalsten Roman, Der große Augenblick (die Autorin gibt noch zwölf weitere Titelvorschläge), ein Text über Armut und Tod, der mit einem großen Ja endet, einem Montaigneschen Ja zum Leben, trotz Armut und Schwindsucht, trotz allem.

Im Buch geht es um ein naives krummes Ding mit kümmerlichen Brüsten und schwacher Lunge, ein mageres Wesen, das niemand gern hat, eher eine Anomalie, als eine Person, geschweige denn ein Individuum; erst nach der Hälfte des Romans erhält Macabéa überhaupt einen Namen, später einen Kaffee, doch viel mehr bekommt sie nicht – sie hat weder Glück in der Liebe, noch im Beruf, und dennoch, erzählt uns der fiktive Autor, da gibt es kein Mitleid und keine Traurigkeit für Macabéa, nein, im Gegenteil, sie spiegelt den verborgenen, inneren Reichtum der Armen, denn Traurigkeit war nur was für Reiche: „Traurigkeit war Luxus.“ Macabéa aber weiß nicht, was Luxus ist. Sie weiß nicht einmal, dass sie eigentlich unglücklich sein müsste. Also ist sie glücklich.

Seit einigen Monaten habe ich einen neuen Kollegen im Museum, der mich an Macabéa erinnert. Er ist nicht mehr der Jüngste, hat schon ein Leben hinter sich, doch er strahlt wie ein Kind, dass noch keine Enttäuschung kennt, er ist überpünktlich, motiviert und hilfsbereit, er trägt sein Lächeln wie eine Dienstwaffe, er jammert nicht (nie), ganz egal, wie lang und monoton und schlechtbezahlt die Dienste auch sein mögen. Er weiß nicht, dass er nach sozialen Standards unglücklich sein müsste, und deshalb ist er die Sonne selbst, er erzeugt das Licht, das ihm nicht beschienen ist, kurzum: er ist ein geborener Romanheld.

Genau wie die arme Macabéa kann er sich keine Traurigkeit leisten; nein, im Gegenteil, er trägt die Rückschläge des Lebens nicht nur, er verlacht sie, er übertönt den Schmerz mit guter Laune, hat eigentlich Architektur studiert, war fünfzehn Jahre ohne Pause in Bauprojekte involviert, hatte Verantwortung für Menschen und Millionen, bis der Körper irgendwann nicht mehr wollte oder konnte und der Arzt ihn vor die Wahl stellte – weniger Arbeit oder früheres Grab, denn der endlose Bau, er hat ihn kaputt gemacht, ihn physisch ausgebrannt, er konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr gerade gehen, nicht mal an Autofahren war noch zu denken; bis heute steigt er nicht mehr hinters Steuer.

Doch heute, hier, im schlanken Dienstanzug, da wirkt er ganz in seiner Mitte, und selbst gegen ein Virus ist seine Laune immun: erst vor ein paar Wochen hatte es ihn erwischt (die Pandemie ist aus den Nachrichten, aber nicht aus der Welt), erstaunlich heftig, Fieber, Schwindel, Zahnfleischbluten, und er leidet immer noch an den Folgen, wird sehr schnell müde, sagt er am Ende einer Elfstundenschicht, an Tennisspielen ist gar nicht zu denken. Und dann schmunzelt er wieder.

Er ist glücklich und dankbar, in einem Museum, in einem Palais zu stehen, für zu wenig Geld zu viele Stunden zu machen, nur eines will er nicht mehr: massenhaft berufliche Verantwortung. Wie Clarice Lispectors letzte Heldin will er einfach nur sein, was er gerade ist: grundlos zufrieden. Sogar der Umstand, dass alle Kollegen (auch ich) seinen persischen Vornamen ständig falsch aussprechen, kann ihn nicht aus der Ruhe bringen, im Gegenteil, er wünscht sogar, dass wir die falsche Variante weiterführen, um uns vor Schwierigkeiten zu bewahren.

Es gibt Menschen (nicht wenige), die so ein Maß an Gelassenheit nicht aushalten, es macht sie verrückt, so wie es Macabéas lieblosen Liebhaber völlig irre macht, wenn sie ihm unnützes Wissen aus dem Radio vorträgt, so lange und vergnügt, bis er sie sitzen lässt, natürlich, denn Glück ist überschätzt, und ihre Schöpferin weiß, dass Gerechtigkeit Verrat ist, und deshalb schenkt sie ihrer Heldin am Ende auch den tragisch großen Augenblick, einen filmreifen Abgang aus einer Welt, die sich nicht um sie geschert hat; und trotzdem – trotzdem – entlässt mich der Roman in seinen letzten Zeilen mit einem selten hellen Gefühl, das so unverwüstlich ist, wie das Schmunzeln meines unaussprechlich guten Kollegen:

Nicht vergessen, erst mal ist Edbeerzeit. 
Ja.