Der Kollege, über den ich heute schreibe, gehört zu den Menschen, die immer wieder überraschen; sie tun es nicht bewusst, es liegt einfach in ihrer Natur, weil sie eine innere Freiheit ausleben, die sich nicht um Erwartungen schert, sich nicht ständig die Frage aller Fragen stellt: Was werden sie von mir denken?
Sich dieser Frage zu entziehen (oder sie zu ignorieren) ist Größe. Der Kollege ist eine Spur größer als ich, seine Haltung suggeriert immer eine latente Rückenlage, statt des ersten, hat er immer den zweiten Knopf seines Dienstsakkos zugeknüpft, das Aufsichtsschild trägt er gelegentlich verkehrt herum, aber mit Würde. Vor eineinhalb Jahren hat er aus dem Nichts mit der Fotografie angefangen; hat sich eine Kamera zugelegt, einen Kurs besucht, sich Ziele gesteckt – eine eigene Ausstellung, ein Artikel in der Zeitung (einer guten). Er verfolgt seine Leidenschaft mit angemessener Neugier und Ernsthaftigkeit, er kann über Fotografie sprechen wie über die Bücher von Stephen King, und noch in der kürzesten Pause findet er Zeit, mir seine Ansichten zu erörtern.
Vor kurzem hatten wir ein großes Projekt im Palais, ein internationaler Dreh, der über mehrere Tage in den Prunkräumen des Hauses stattfand, und über dessen Inhalte wir zum Schweigen verpflichtet waren (was die Zeitungen und das Internet nicht davon abhielt, zu berichten und zu spekulieren). Mehr als sonst gilt für die Aufsichten in diesen Stunden: Diskretion, Zurückhaltung, Unsichtbarkeit. Ich stehe in einem Raum neben dem Kollegen mit dem fotografischen Gusto, und während des Aufbaus für die nächste Szene flüstern wir über Inspiration. Ich schreibe gerade wenig, sage ich, und frage, wie es bei ihm mit der Fotografie steht. Nein, sagt er ganz selbstverständlich, die Kamera hat er schon seit Monaten nicht mehr in die Hand genommen, es ist auch wichtig, kreative Pausen zu machen. Es klingt ehrlich, uneitel, er ist kein Mann der Posen. Stattdessen, fährt er fort, spielt er jetzt wieder viel PlayStation.
Und wieder ist sie da, die Überraschung, der Gestus eines gut geschriebenen Charakters: Er hat alle neuen Konsolen zu Hause, PS5, XBox One, doch sie sind ihm völlig egal, er spielt doch lieber wieder nur Resident Evil 4 auf der antiken PS2. Nicht trotz oder obwohl die Grafik von damals heute vollkommen klobig, veraltet und überholt ist, sondern genau deswegen. Heute, sagt er, setzten alle Engines auf fotorealistischen Einheitsbrei, doch bei einem Klassiker wie Resident Evil 4 (immer noch das beste Gameplay, sagt er, unübertroffen), da ist die Immersion viel stärker als bei heutigen Hochglanztiteln – eben nicht trotz, sondern weil die Grafik viel einfacher und abstrakter ist und du deine Fantasie aktiv einsetzen musst, ganz nach Shakespeares flammenden Publikumsappell: „Ergänzt mit euren Gedanken uns’re Mängel.“
Wie klar und kindlich begeistert mein Kollege mir seine These erzählt, ich kann nicht anders, als ihm zuzustimmen, und mich selbst über das Paradox zu wundern, weil es stimmt: es ist leichter, mich in eine abstrakte Welt fallen zu lassen, die ich mit meinen Gedanken ergänze, als mich in einer Kopie der Realität zu Hause zu fühlen; im Roman geht mir die Welt der Auslassungen näher als die ermüdenden Beschreibungen prosaischer Raumausstatter; auf der Bühne kann ein Schauspieler mit weißem Shirt, auf dem „HUND“ steht, mir stärker und authentischer erscheinen als der gleiche Darsteller im echten Fellkostüm mit Schwanz und Schnauze. Die Immersion verlangt keine Perfektion, im Gegenteil, die vollständige Versenkung in fantastischen Welten gelingt vielleicht überhaupt nur, wenn sie sich durch gewisse Mängel vom Realismus abgrenzt, um meine Fantasie nicht außen vor zu lassen.
Auch das eine Erkenntnis, die ich meinem überraschenden Kollegen verdanke.