Samstag, 23. März 2024

Über die Beschwerde

Eine der größten Errungenschaften der Demokratie ist die Möglichkeit der Beschwerde; persönlichen Unmut öffentlich kundtun zu dürfen, darauf hinzuweisen, dass etwas ganz gewaltig stinkt, dass dieses Land, dieser Laden in die falsche Richtung rennt, ohne deshalb mit Knast und  Knochenbrüchen rechnen zu müssen, das ist keine gegebene Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: es ist noch eine relativ junge Idee der Menschheit, die persönliche Beschwerde zuzulassen, sie zu begrüßen. Ich hatte immer die Vermutung, wo sich die Leute besonders laut beschweren, da geht es ihnen im Grunde ziemlich gut; denn wem es wirklich schlecht geht, dem fehlt die Kraft (und die Stimme) zur Beschwerde. 

Heute ist Donnerstag, der Frühling hat begonnen und die neuen Ausstellungen sprießen in der Stadt. Im Fürstenschloss bewache ich seit einigen Wochen eine barocke Sonderschau, die einem Fürsten, Mäzen und Bauherrn gewidmet ist, einem Herkules der Künste, wie ihn das Plakat bescheiden nennt, ein feinsinniger Sammler und mithin das schönste Doppelkinn des ausgehenden 17. Jahrhunderts (so prachtvoll, er ließ es auf einer Goldmünze verewigen). In sieben Räumen hängen unzählige Gemäldeschätze in allen Größen, dazwischen Herrschaftsbronzen und Sagenskulpturen, gewaltige Büchervitrinen und fernöstliche Porzellanmotive, und über allem wacht der Geist des Halbgottes, der eine ganze Raumdecke schmückt.

Das unerhört Besondere daran ist, diese Kunstschau darf bei freiem Eintritt bestaunt werden; ein Novum, fast ein Sakrileg in der heimischen, aktuellen Museumslandschaft, die seit dem erklärten Ende der Pandemie wieder Rekordzahlen mit Rekordpreisen schreibt. Doch hier, in dieser sechswöchigen Sonderausstellung gibt es Rubens und van Dyck für lau, für alle und jeden; es gilt bloß das übliche Jacken- und Rucksackgebot, die Abgabepflicht, die niemanden überraschen kann, und es dennoch immer wieder tut. Was unvermeidlich dazu führt, dass irgendwann irgendjemand den ersten Stein nach uns wirft: in einem Monat gab es zwei schriftliche Beschwerden über uns Aufsichten, weil wir getan haben, was mit Nachdruck von uns verlangt wurde – die Hausordnung durchzusetzen. Keine Überraschung, kein schlechter Wert, und doch ist etwas verblüffend an der Sache.

Als Museumsaufsicht bist du sehr nah dran an der Gereiztheit der Gesellschaft, du lernst, mit Ignoranz und Respektlosigkeit umzugehen, du bist die erste Anlaufstelle für aufgestaute schlechte Laune, du reagierst gelassen auf den Dampf, der dir entgegenkommt, weil es dein Job ist. Und du erkennst: Manche Menschen haben ein Talent dafür, sich ungerecht behandelt zu fühlen, sie finden einen Weg, ein generelles Verbot auf sich persönlich zu beziehen, und sie haben genug Kraft, sich darüber lautstark zu beschweren. Doch es gibt einen Punkt, an dem sich selbst die Beschwerde erschöpft; wie ich später erfuhr, handelte es sich bei einer dieser schriftlichen „Beschwerden“ bloß um einen Kommentar auf den verhetzten Sozialwerken, der nicht nur meine Museumskolleginnen, sondern das gesamte Ausstellungsteam beleidigte, es persönlich angriff, überempört und unter der Gürtellinie, wie im Netz gewöhnlich, doch verblüffend, ja, unbegreifbar für mich war die Reaktion des Hauses darauf: anstatt die Suada zu ignorieren, die eigenen Leute eventuell zu verteidigen, den gewählten Ton anzuprangern, wurde die hemmungslose Palaisbeschimpfung mit einer kleinlauten Entschuldigung belohnt: Tut uns Leid, wenn Sie eine schlechte Erfahrung bei uns gemacht haben. Beleidigen Sie uns bitte bald wieder.

Der letzte Satz wurde so nicht geschrieben, klar. Aber es läuft genau darauf hinaus: wenn der derbe, raue, unumwunden übertriebene Ton, der sich speziell im Internet entlädt, aufgrund von offensichtlichen Imageängsten als vollkommen normal gehandhabt wird, ermutigt das nur mehr und mehr Überreizte zur verbalen Entgleisung – weil auf sie eingegangen, weil ihnen recht gegeben wird. Weil kein Museum, kein Restaurant, keine Ordination sich durchringt zu sagen: So nicht.

Dieses unterschwellige Gefühl, dass sich der Ton an jeder Ecke verschärft, es zeigt mir wieder nur den wachsenden Schatten der Errungenschaft, die so simple und gefährliche Erkenntnis: Wenn die Grenze zwischen Beschwerde und Beschimpfung nicht klar gezogen wird, verschwindet sie.