Es gibt eine Stelle in Jean Cocteaus Kinder der Nacht, da wird von einem absurden Zimmer berichtet.
Nachdem Elisabeths Angetrauter Michael, ein perfekter, unfassbar amerikanischer Dandy, an seinem teuren Dandyschal krepiert (während der Fahrt im
Sportcabrio weht ein Schalende in die Reifen und reißt seinem Träger
den perfekten Kopf ab), nach diesem unschönen Unfall, wird der jungen Witwe das Haus des Toten vererbt; in das sie kurz darauf mit ihrem Bruder Paul,
einer Schachfigur (Gérard) und einer tragischen Unschuld (Agathe) einzieht. Zu
viert leben sie ohne Verpflichtung, ohne Ziel in Michaels perfekten Milliardärsbau,
der kühl und steril in fünfzig makellosen Grautönen steht.
Bis auf dieses eine, absurde Zimmer. Eine unscheinbare Galerie,
die gar keine ist, die kein Mensch brauchen kann, die trotzdem nicht
weggeht, der störende Rest einer Division mit falschen Zahlen – Kanapee,
Schaukelstuhl, Globus, ein paar Leerstellen, ein Billardtisch, viel zu hohe
Fenster, kurzum: nichts passt zusammen in diesem Zimmer. Und genau dieser Umstand macht ihn zum Herzstück einer sonst seelenlosen Maschine – „wo bei Michael ein
Berechnungsfehler auftrat, dort konnte das Leben erscheinen; dies war der
Augenblick, wo die Maschine menschlich wurde und zurücktrat.“
In den Augen von Elisabeth und Paul ist dieser Raum aus
Stilbrüchen, dieses obskure, heimliche Restzimmer einer vermeintlichen
Perfektion der einzige Ort, an dem das reiche Erbe menschlich wird. Mehr noch:
selbst der tote Besitzer erhält durch dieses Zimmer erst seine Menschlichkeit. Ohne
es zu wissen, hatte Elisabeth diesen reichen Amerikaner nur wegen einer ärgerlichen Rumpelkammer
geheiratet. Denn „dieser ungeheuerliche Abstellraum war Michaels Schwäche, sein
Lächeln, das Beste seiner Seele.“
Ich stelle mir vor, dass Cocteaus Ironie vor diesen Worten stockte, dass sie kurz innehalten musste, weil der Autor an das Empfinden seiner schrecklich jungen Helden wirklich und
fest geglaubt hatte. Weil er wusste, dass die eigentlichen Glanzlichter des Lebens aus seinen
versteckten kleinen Nischen blitzen, die weder Nutzen, noch Vorzeigewert haben,
und gerade deshalb so kostbar sind – sie posieren nicht, sie stehen einfach für
sich. Sie sind verträumte Kunstwerke, Refugien, die niemand brauchen und
niemand schätzen kann, außer diejenigen, die in ihnen wohnen, in ihnen leben.
Dass bei Cocteau noch Intrige, Gift und Selbstmord in dieses
Zimmer finden – geschenkt. Die Tradition des Romans verlangt nach solcher
Tragik, der Erfolg bekräftigt sie. Mich lässt es kalt. Wenn ich Kinder der Nacht lese, interessiert mich
die reine Idee des Zimmers so viel mehr als das spätere Lügenschach, die kalkulierte Liebelei, der Abgang darin. Nicht für den Abriss des Bürgertums, sondern für den Aufbau
eines Kleinkunstreiches bewundere ich Cocteaus zeitlose Erzählung. Für die
feine Hervorhebung dessen, was die Welt sein kann, wenn ich sie so sehen will, sei es auch nur kurz: Ein kunstsinniges Zimmer voller Seele und Stilbrüche, in dem ein lächelndes
Herz schlägt.