Mittwoch, 29. Dezember 2021

Requiem für einen Wandkalender

Mein Vater hatte einen, mein Cousin hatte einen, man kann sagen, ich bin mit ihm aufgewachsen. Ich sah ihn an Bürowänden, in Umkleiden, Badezimmern, an schlecht beleuchteten Kalkmauern, zuletzt in den labyrinthischen Kellergewölben des Auktionshauses: Dort hängt er zwischen den Depots für Gemälde vergangener Jahrhunderte und wirkt selbst wie ein Relikt vergangener Zeiten: der erotische Wandkalender. 

Er hängt über dem Boden, nicht anders als ein Kunstwerk, doch er ist selten öffentlich zugänglich; man findet ihn zumeist in privaten, überwiegend männlichen Refugien, schüchtern, fast verschämt hängt er an der Wand, stellt sich selten in den Mittelpunkt, hält sich eher randseitig, im Dämmer, und lädt dich ein, näherzutreten.

Er ist ein Zauberer, der zwölf Monate in zwölf Posen verwandelt, ein Hüter der beständigen Erinnerung an eine Zeit, eine Ära, als das Analoge und Haptische vorherrschte, und den entblößten „erwachsenen“ Bildern noch eine Aura des Geheimnisvollen und Verruchten umgab; für nicht wenige war er ein stiller Aufklärer, ein erster Bezugspunkt zu einer Welt, die es zu entdecken galt, eine viel zu kurze, zu einfache, verheißungsvolle Antwort auf eine Frage, die noch nicht gestellt wurde.

Er gab dir zwölf Bilder für das ganze Jahr, überraschte dich beim Blättern durch die Monate, erwärmte dir den November, Dezember, ließ dich staunen, zu welch Posen diese Körper fähig waren, noch bevor du je von Yoga gehört hast, ließ dich wundern, warum den Modellen im Winter nie kalt wurde. Mit seinen zwölf Bildern eröffnete er dir das Tor zur Fantasie, ohne es einzutreten, wie seine digitalen Nachfolger, denen er immer eines voraushaben wird: er ist limitiert und greifbar, und deshalb hat er Gewicht – er weckt ein Verlangen, das er nie ganz stillt, er ist die zu kurze Zigarette, die verwirrend schmeckt, er liefert dir zwölf Bilder, um dich wählen zu lassen, dir einen Lieblingsmonat festzulegen, um dich selbst besser kennenzulernen.

Er war ein Lehrer, der selbst nie eine Schule besuchte, er nahm es hin, verbannt zu werden, zu empören und zu erregen (vor allem zu erregen); er konnte ein Komplize sein, wenn Mann einen brauchte, eine Sehnsucht, wenn es sonst keine gab. Über seine Bilder konnte länger diskutiert werden als über einen Picasso, sie prägten sich in deinen Kopf, als hätten sie Bedeutung, sie waren ein geheimer Kompass, eine Konstante, sie alterten nicht; das Jahr verging, ein neues begann, die Bilder waren da. Die Körper räkelten sich, egal was kam, egal was noch kommen würde.

Heute führt er ein Schattendasein in stiller Einsamkeit. Er weiß, dass es nicht mehr viele von ihm gibt, er wurde ausgedünnt wie die Telefonzellen in der Stadt, und womöglich wird er bald ganz verschwinden, weil er wie die Telefonzelle nicht mehr gebraucht wird, weil er nur zwölf Bilder für ein Jahr bietet, wo seine Nachfolger vierundzwanzig Bilder pro Sekunde liefern.

Irgendwann wird auch der letzte erotische Wandkalender abgehängt sein und die Welt wird es nicht merken, weil er ohnehin nie im Mittelpunkt stand. Er wird nicht vermisst werden, er wird nicht fehlen, doch die, die ihn kannten, werden sich an ihn erinnern, mit einer nahezu unverständlichen nostalgischen Demut, die nur all jene nachvollziehen können, die noch Wertkarten in eine Telefonzelle gesteckt haben.

Freitag, 10. Dezember 2021

Eine Weihnachtsgeschichte

Es gibt Traditionen, die werden mit bedingungslosem Willen aufrechterhalten, selbst wenn die Erde stillsteht. Am ersten Freitag im Dezember wird der Christbaum in der Sala Terrena des Fürstenpalais aufgestellt, weil er hier jedes Jahr aufgestellt wird, weil es immer so gemacht wurde, weil es Tradition ist, selbst wenn niemand ins Haus darf, um den Baum zu bestaunen; er muss stehen. Die Tradition gibt Struktur, der Baum gibt Halt, und selbst die größten Skeptiker der Menschheit können schwer leugnen, dass sie nicht etwas brauchen, woran sie sich festhalten können.

In diesen Tagen ist es der Tannenbaum, der gefällt wurde, um errichtet zu werden, um seine Nadeln im Warmen zu behängen und ein paar Wochen später zu entsorgen. Zwei kräftige Männer tragen den Baum, der wortwörtlich ins Netz gegangen ist, stellen ihn in eine Vorrichtung neben dem Haupteingang, wie jedes Jahr, und öffnen das Fangnetz – und in dem Moment geschieht das Unerwartete, aus dem dichten Nadelkleid der meterhohen Naturinstallation springt eine Maus; eine flinke, weiße, nicht gar so kleine Maus, die sich im Baum versteckt oder verirrt hatte, sie springt heraus und wetzt über die glatten Marmorfliesen. Woher kommt sie, wohin will sie – für die beiden Fragen ist kein Platz in der Geschichte, denn die beiden Männer, die den Baum errichtet haben, reagieren schnell. Sie rennen der Maus hinterher, die zu ihrem Unglück in eine Ecke läuft, und treiben sie in die Enge. Einer von ihnen bückt sich, ballt die Faust und erschlägt den Eindringling; es braucht zwei Schläge (nicht einen: zwei), um das Mäuschen zu töten. Was vor wenigen Sekunden noch ein Nagetier war, ein kleines, pelziges Lebewesen, ist jetzt nur noch ein blutverschmiertes Stück Fell.

Der Mann, der die Maus so abgeklärt erschlagen hat (es wirkt nicht so, als hätte er es zum ersten Mal getan), packt den Kadaver am Schwanz und entsorgt ihn in der Mülltonne neben dem Haus. Dabei hinterlässt das Tier eine tropfende Blutspur, um auch nach dem Tod noch Ärger zu machen. Sofort kommen die beiden Reinigungsdamen auf Befehl und schrubben den Marmor; eine beträchtliche Zeit schrubben sie an den blutroten Flecken, die sich so schwer entfernen lassen, egal, ob sie von Mäusen oder Menschen stammen. Im Alten Testament wurden Verträge noch mit Tierblut beschlossen, um wasserfesten Handel zu betreiben – weil selbst ein Tropfen roter Mäusesaft dicker ist als Wasser.

Es dauert, dauert an diesem Dezembertag, bis alle roten Schlieren am Bodenmarmor beseitigt sind, damit nichts mehr von dem Baum ablenkt, den niemand bestaunt. Nur draußen vor der Tür, da finden sich noch – wenn man ganz genau hinsieht – ein paar schwache, kleine Kleckse am kalten Stein der Vorterrasse. Es sind die letzten Spuren einer Unbekannten, sie schimmern schwach im zarten Rot, bis der erste Schnee fällt und auch sie verwischt.

Sonntag, 5. Dezember 2021

Die Kassiererin

In den Wochen, in denen das Land sich wieder herunterfährt, in einen erzwungenen Sparmodus wechselt, um Kontakte zu verringern und Krankenhäuser zu entlasten, wirkt der Gang in den Supermarkt wie ein letzter, rebellischer Akt sozialer Interaktion.

Während die Museen wieder verschlossen, die Kultur wieder abgesagt ist, trete ich in den Supermarkt, um meinen bescheidenen Wochenendeinkauf zu erledigen; bescheiden, weil ich nicht weiter vorausdenken kann, vielleicht gar nicht weiter vorausdenken will. Mit fünf säuerlichen Äpfeln Marke Kronprinz, Toastbrot, Nudeln und der Zeitung reihe ich mich ein an der einzigen besetzten Kassa und erkenne die Mitarbeiterin schon von weitem. Eine junge Rothaarige sitzt dort hinter dem transparenten Schutzschild, sie erinnert an die schottische Titelheldin aus dem schönen Pixar-Film, doch sie schultert keinen Bogen, sie ist keine Prinzessin, sie hält „nur“ den Laden, das Land am Laufen. 

Entgegen der Empfehlung zahle ich bar, als ich vor ihr stehe, und bei der Rückgabe des Wechselgeldes berühren sich unsere Hände, nur einen Moment berühren sie sich, doch etwas passiert in dieser Sekunde, sofort löst sich ein Gedanke; ich stelle mir vor, mein eigener Protagonist zu sein, in einer Geschichte, die ich vielleicht nie schreiben werde: Der Held, der natürlich keiner ist, lebt in einer schwierigen, verwirrenden Zeit, er sehnt sich nach Wärme und Nähe, die ihm niemand gibt, und er geht in den Supermarkt, jedes Mal in den gleichen Supermarkt, in der Hoffnung, dort die junge rothaarige Kassiererin zu treffen, die er schon von weitem erkennt, und er bezahlt jedes Mal bar, in dem Wissen, dass sich beim Erhalt des Wechselgeldes ihre Hände berühren werden; er geht jeden Tag in diesen Supermarkt, bei jedem Wetter, er kauft sich Dinge, die er vielleicht gar nicht braucht, vielleicht eine Pixar-DVD, nur um den Moment zu erleben, in dem sich ihre Hände berühren, was für die Kassiererin eine ganz normale Geste darstellt, doch für ihn ist es mehr, diese Sekunde hat Bedeutung, sie berührt ihn, sie hilft ihm durch diese Zeit.

Und er weiß, dass er sich zuerst die Hände waschen muss, wenn er nach Hause kommt, und er tut es, genauso gründlich wie glücklich – die Kassiererin gibt ihm den Grund dazu. 

Mittwoch, 17. November 2021

Berufsproblem

Vor ein paar Wochen sprach ich mit einem Kollegen, einem sehr guten, über unsere Arbeit, oder besser, unseren Job; wir standen vor dem Haupteingang des Fürstenpalais’, ich auf Pause, er auf Position, die Veranstaltung im Gange, und wir hatten ein paar ruhige sternenklare Minuten, nur gelegentliche Raucher in unseren Rücken, die uns weder hörten noch verstanden.

Es belastet ihn schon, sagt mein Kollege, und ich weiß, was er meint, bevor er es ausspricht – es ist nicht die Arbeit selbst, sondern das Wissen um ihr Ansehen. Wenn er Freunde trifft, sagt er, dann verschweigt er, womit er sein Geld verdient, er lenkt vom Thema ab, weil er sich für seine Arbeit schämt, es ihm peinlich ist, den Beruf zuzugeben. Andere zumindest haben eine Ausrede, finanzieren sich damit parallel ihre Träume (ich?), ihre Studien (viele), doch er, er hat nur das. Er ist noch sehr jung, aber reflektiert, er weiß, was die Leute über einen denken, der ihrer Ansicht nach nichts aus seinem Leben macht; es kommt einer Beleidigung gleich, dein Beruf wird dir übel genommen, zwar nicht in lauten Urteilen, nicht in Gewalt, aber in ihren Gesichtern. Die Rechnung kommt in Blicken.

Ich kenne die Reaktionen, die leise Frage „Was ist in deinem Leben schief gegangen?“, das Unverständnis, sich freiwillig für eine so sinnleere, schlecht entlohnte Arbeit zu entscheiden, gerade mal genug Geld zu haben, um Scheiße zu fressen und sich die Füße wund zu stehen, statt eine andere Richtung einzuschlagen. Es belastet ihn schon, sagt mein Kollege, er ist verlässlich, freundlich, unfassbar besonnen, wurde vor Monaten einmal bei der Arbeit angegriffen, bekam einen Messerstich in die Hand und niemals Entschädigung; es tut ihm nicht weh, es hat ihn nicht kündigen, nicht einmal daran denken lassen, aber es belastet ihn schon, das Wissen, dass diese Narbe nicht anerkannt ist, es niemals sein wird. Ich weiß, er wird niemals mit der Narbe vor Freunden angeben, weil sie für immer mit dem Dienst verbunden ist. Es ist ein tiefer Stich, doch schmerzhafter sind die Sticheleien, in diesem Job zu versauern.

In ihm wie in mir (womöglich in allen Aufsichten) steckt ein tiefes Empfinden, ein Empfinden, das dir sagt, dich für den Job irgendwo schämen zu müssen. Es belastet schon sehr, ja, es ist ein verdammter, ein permanenter innerer Druck, doch er wird von außen gemacht: Das ist das Problem meines Berufs – er besteht aus Beaufsichtigung, aber er wird nicht angesehen. Die reine Option, diesen Job eventuell zu mögen, ihn beizeiten gern oder gut zu machen, ist kategorisch ausgeschlossen. Und dennoch mag ich ihn.

Ein kränklicher Däne schrieb 1846, in die Schule zu gehen, das heißt nicht nur lesen, lernen und gehänselt werden, es „bedeutet fast so etwas wie mitinteressiert zu sein an dem Problem des Schulunterrichts.“ Was Kierkegaard damals in seiner Kritik der Gegenwart aufzeigte, gilt in meinen Augen genauso fürs Berufsleben: Aufseher sein, das bedeutet auch, sich für das Problem der Aufsicht zu interessieren. Es ist eine carrollsche, tägliche Nicht-Arbeit, die man dennoch (wie alles) sehr schlecht machen kann, und die dir manchmal noch übel genommen wird, wenn du sie gewissenhaft erledigst, doch in dieser unlösbaren Problematik steckt ein noch viel tieferes Mysterium, dem mein allergrößtes Interesse gilt: bei all dem Wahnsinn der Welt freundlich und gut zu bleiben.

Es ist schwer, sich bei der Ausübung eines schlechten Berufes nicht schlecht zu fühlen, doch viel schwerer ist es, sich trotz all der Blicke die Freundlichkeit zu bewahren, das Interesse am Gespräch nie zu verlieren, während die Gäste im Palais ihren Chardonnay gustieren. Ich weiß nicht mehr, wie der Dialog mit dem Kollegen endete, aber ich erinnere mich wieder, warum ich diesen Job mag, trotz allem. Und mir fällt das Lied einer kanadischen Band ein, Damage heißt die Nummer, es geht um Schaden und Narben, und diese eine Zeile: „Scars tell nothing at all.“

Narben erzählen überhaupt nichts, nur wie ich mit ihnen umgehe. Gleiches gilt für den Beruf. 

Montag, 27. September 2021

Die Bibliothek ohne Namen

Immer wieder ertappe ich mich dabei, Dinge zu tun, die mich bei anderen stören; vielleicht ist diese Inkonsequenz menschlich, und somit Teil von mir; es ändert nichts. Ich ertappe mich dabei, wie ich ein Gemälde am Bildschirm anstarre und mich automatisch frage, ob es ein Rubens, ein Monet, ein Warhol ist; und mich noch bestätigt, beinahe stolz fühle, wenn ich richtig liege. Als würde der prominente Name irgendetwas am Inhalt ändern, kann ich nicht einfach nur das Bild betrachten, es anonym genießen, nein, ich muss wissen, wer es gepinselt hat, weil ich trainiert wurde, dem Bild mehr Wert zu schenken, wenn ich seinen Schöpfer kenne – als würde sich das Bild jemals dafür interessieren, wer es gemalt hat.

Es ist Ende September, der Sommer kaum vorbei und schon werben die großen Museen mit den kommenden großen Ausstellungen: Modigliani, Tizian, Munch, es sind immer die Namen, mit denen geworben wird, Namen, die wieder für Massen sorgen sollen, Namen, die Vorverkäufe und Vorfreude auslösen; doch diese Freude hat ihren Preis. Sie fordert Erwartung, fördert Enttäuschung, vor allem aber hindert sie mich daran, das Werk für sich stehend zu betrachten; weil der riesengroße Name nicht zu übersehen ist. Weil er immer darauf, daneben, darüber steht, und sich alle den Namen hingeben, selbst die Experten (vor allem die Experten). Wäre es nicht möglich, muss es nicht möglich sein, den Verrat der Bilder zu betrachten, ohne beim Anblick der Pfeife zu denken, wie genial war dieser Magritte? Kann ich überhaupt ein Kunstwerk genießen, ohne den Schöpfer zu hinterfragen? Und wie befreie ich mich vom elenden Personenkult, dem ich angehöre? 

Natürlich, der Name verkauft sich, und ich muss gestehen, dass ich mich auf angekündigte Werke freue, nur weil ich den Namen des Schöpfers, der Schöpferin kenne und schätze. Doch letztlich generiere ich damit wieder nur Vorurteile, positive, aber doch. Extremer als in den Museen verhält es sich nur in Film und Buch. Ausgerechnet die Literatur, diese rätselhafte Wunderkammer, ist heute so sehr auf die Namen und Herkünfte ihrer Macher fixiert, als hätte es den Tod des Autors nie gegeben. Immer und immer wieder werden die Autoren heute im Text zum Leben erweckt, als hätten sie nach dem Tod noch etwas zu sagen; schlimmer noch, ihre Biografien werden mit ausgegraben und in das Werk hineingelesen oder über das Werk gestülpt, der unhandliche Inhalt wird in einen vermarkt- und haltbaren identitären Darm gepresst, bis die Form den Erwartungen entspricht und sich genießen oder ablehnen lässt – nicht selten, ehe es gelesen wird.

Es hat den Anschein, als könnten (oder wollten) viele Lesende heute nicht mehr zwischen Erzähler und Erzeuger unterscheiden, als müsse das Geschriebene mit der Lebensgeschichte des Schreibenden übereinstimmen, um es zu rechtfertigen, und als wäre umgekehrt eine Erzählung automatisch Gold, nur weil sie selbst erlebt wurde. Borges hat diese eigenartige Fixierung bereits vor langen Jahrzehnten erkannt, in seinen Harvard-Vorlesungen Ende der Sechziger hält er fest, dass wir vom „Sinn für Geschichte belastet, überlastet sind“. Und doch pflegte er den unermüdlichen Optimismus, dass eine Zeit kommen wird, „in der sich die Menschen nicht sehr um die Zufälligkeiten und Umstände der Schönheit kümmern werden; ihnen wird an der Schönheit selbst liegen. Vielleicht werden sie nicht einmal Wert auf die Namen oder Biografien der Dichter legen.“

Von dieser Zeit sind wir heute freilich meilenweit entfernt. Die Tendenz drängt in die Gegenrichtung, Namen und Biografien werden zunehmend essentieller, stellen Erfolgsgründe, geben Halt und Argumente, anstatt wortlos im Werk unterzugehen. Was aber sagt es über mich aus, wenn ich ein Werk nicht mehr losgelöst von Herkunft, Geschichte, Geschlecht seines Schöpfers lesen kann? Und wie verhalte ich mich dann erst gegenüber einem Werk, das anonym geblieben ist? Das herauszufinden, könnte die große Aufgabe, das Ideal einer Zukunft sein, die vielleicht nie kommen wird, weil wir von zuviel Wissen umgeben sind, um es gänzlich auszublenden. Ein Kunstwerk unvoreingenommen und wertefrei zu genießen, das bedeutet, sich auf das Rätsel des Universums einzulassen, alles auszublenden, das nicht im Werk selbst steckt. Das bedeutet, den Autor im Grab zu lassen, den Tod des Schöpfers umstandsfrei zu akzeptieren und alle Namen und Biografien vollständig zu vergessen. Doch solange Kunst über Namen besprochen und (vor allem) über Namen verkauft wird, so lange wird Borges’ kühne Hoffnung einer Welt, in der uns nur an der Schönheit (also der Kunst selbst) liegt, ein rätselhaftes Ideal bleiben, das wir uns mit Wissen und Wertung eifrig vom Leib halten. 

Und doch ist es ein schöner Gedanke, eine Utopie der reinen sinnlichen Erfahrung: in einer kommenden Zeit, einer idealen Welt wären alle Kunstwerke anonym. Auf Gemälden wären keine Signaturen, auf Buchumschlägen und Filmplakaten nur noch die Titel zu finden. Ich würde keinen Monet mehr betrachten, sondern eine Seerose, keinen Magritte, sondern nur das Bild einer Pfeife. Und ich würde nicht Borges zitieren, sondern nur seine zeitlosen, anonymen Texte, die in jeder guten Bibliothek ohne Namen aufliegen würden.

Mittwoch, 28. Juli 2021

Über das Beginnen

„Es geht immer ums vollenden“, singt ein junger Musiker, vielleicht der größte meiner Stadt. Ich liebe, bewundere diese Zeile, jedes Mal, wenn sie mir im Kopf erklingt. Doch ich bin nicht überzeugt von ihr.

Muss ein Kunstwerk vollendet sein, um vollkommen zu erscheinen? Muss es überhaupt vollkommen sein? Die letzten Werke von Gustav Klimt, die allesamt hier im Touristenschloss hängen, sind allesamt unvollendet geblieben. Klimt begann sie simultan, bekam das Fieber, bevor sie fertig wurden; es ändert nichts an ihrer Meisterschaft. Im Gegenteil: gerade weil sie nicht fertig sind, erscheinen mir die Gemälde um Adam und Eva, um die elegante Zuckerkandl, um verträumte, verschlungene Nymphenkörper als seine allergrößten. An den Stellen, an denen Farbe fehlt, wo der Grafit, die Vorzeichnung noch schüchtern durchschaut, wo Andeutung statt Ausgemaltes herrscht, da zeigt sich mir nicht nur ein Motiv, ein weiteres Werk – ich sehe nicht nur das Bild, ich sehe die Methode, den gesamten Prozess dahinter. Deshalb erzählt das Unvollendete noch so viel mehr als die Vollendung.

In der Kunst, der Musik, der Literatur, überall finden sich Fragmente, unfertig Gebliebenes (oder Vernichtetes), das nicht trotz, sondern wegen seiner Offenheit die Zeit überdauert. Das Fragment erhält seinen Mehrwert durch das, was fehlt. Gogols Tote Seelen, Kafkas Amerika brauchen kein Ende, um grandios aufzuhören; es genügt, dass es die Bücher gibt, so wie sie sind. Frei nach Tagore: Nicht um das fehlende Ende trauern, sondern froh sein, dass etwas begonnen wurde.

Und hier tritt sie ein, meine ängstliche Wahrheit: Anfänge machen mich fertig. Was immer ich tue, es fällt mir unendlich schwer, einen Einstieg zu finden, es also überhaupt zu tun, zu initiieren: ein Gespräch, ein Buch, ein kurzer Text wie dieser – immer weiß ich nie, wie ich beginnen soll. Die Vollendung einer Sache kann gelingen oder nicht, doch nichts im Leben ist schwerer, als den Anfang zu machen. Beginne sind die massivsten Elemente eines Lebens, das mehr sein will, als nur zu existieren. Denn Leben, wildes, aktives Leben, das ist der ultimative Beginn, jeden Tag, jede Stunde, wieder und wieder.

Das ist die Erkenntnis, die nicht locker lässt; nicht im Ende lauert meine Angst, sondern im Anfang. An manchen Tagen (vielen Tagen) habe ich keine Panik vor dem Tod, nur Panik vor dem Leben. Den Beginn einer Sache, deren Angehen mir Angst macht. Ich wollte die Welt umrunden, könnte ich nur den ersten Schritt überspringen. Stattdessen schreite ich die Ausstellungen dieser Stadt ab, die ich nicht verlasse, schreibe eine Skizze, einen kleinen Versuch, für den mir kein erster Satz einfällt, weshalb er mit einem Zitat anfängt, einer Liedzeile, an die ich nicht glaube, es niemals könnte, weil es auch in diesem Text nicht ums Vollenden gehen kann.

Es geht immer ums Beginnen.

Freitag, 23. Juli 2021

Stillleben

 



Freitag, 16. Juli 2021

Kafkas Schwester

Während draußen die Temperaturen unerbittlich ansteigen, die Pole schmelzen, der Permafrost weiter aufbricht, fliehe ich in den Schatten und lese Anna Kavan. Genauer, ihre singuläre Dystopie, Ice, die Vision einer Welt, einer Gesellschaft, der jede Wärme abgeht, weshalb sich das Eis unaufhaltsam über die Erdkugel ausdehnt. In meisterhafter Konfusion erschafft Kavan (die eigentlich Ferguson hieß, heroinsüchtig, zweimal geschieden war) einen Leserausch, der mich verwirrt, verkatert und ohne Katharsis zurücklässt. Was wundervoll ist; denn die besten Bücher sind mir immer noch die, die ich nicht kapiere. 

Klarheit ist eine Kunst, kontrolliertes Chaos eine Gabe. Was an Ice aber am meisten fasziniert, ist die Perspektive, aus der Kavan erzählt: Ihre frostige Fabel über emotionale Kälte, Machtmissbrauch und weibliche Unterdrückung liest sich (überwiegend) aus Sicht eines männlichen Ichs, dem natürlich nicht zu trauen ist. Dieses Ich sucht eine Frau, die in den Fängen irgendeines ominösen Patriarchen steht, der sie als Besitz, Tier, Sklavin hält – oder auch nicht; denn klar ist nichts in diesem Buch, der Himmel ist nicht blau, das Eis nicht erklärbar und der Erzähler nicht bei Trost. Er will die Namenlose vor ihrem Peiniger retten, bevor die ganze Welt erfriert, doch die Frau (die vielleicht alle Frauen ist) hat nicht darum gebeten, sie will nicht gerettet, sie will nur in Ruhe gelassen werden, und doch verfolgt sie der Erzähler wie ein Wahnsinniger, er kämpft um sie, ohne zu fragen, er will unbedingt ihr Erlöser sein und ist letztlich nicht besser als ihr Unterdrücker (der er vielleicht auch ist).

Sicher hätte Kavan die Geschichte aus Sicht der Frau schreiben können, die einfach nur ein Zimmer für sich will, hätte sie in den Mittelpunkt stellen können, anstatt sie gespensterhaft durch eine neue Eiszeit schwirren zu lassen, hier, da, überall und nirgendwo, rastlos, haltlos, immer in und aus dem Blick des Mannes; sie hat sich dagegen entschieden. Und gerade deshalb scheint mir das Schicksal dieser Namenlosen so bedrückend: weil die Autorin zeigt, wie dieser Erzähler, wie alle Männer in dem Buch sie sehen, wie sie über die Schneedame denken, wie egomanisch und einseitig dieses Denken ist, wie emotional gestört, dass es dem Ich selbst gar nicht auffällt. Nur im Lesen kann es auffallen, dieser maskuline Machtanspruch, die Frau haben zu wollen, die den vermeintlichen Erretter mit dem Erniedriger vereint. Kavan steigert sich in eine völlig vereiste, männliche Psyche, in der Wahn und Pflichtgefühl wie in einem Schneesturm durcheinander wirbeln, nicht mehr zu durchschauen sind, und letztlich nur das Gefühl bleibt, etwas begriffen zu haben, obwohl man nichts kapiert.

Literatur, das heißt doch auch, die eigene Perspektive verlassen zu können: und Anna Kavan erschafft einen literarischen Gletscher, weil sie sich in eine Perspektive hineinwagt, die nicht kuschelig ist, die verstört und wehtut und beim Ausbleiben jeder Wärme doch nicht kalt lässt. Gerade durch den subjektiven Tunnelblick ihres männlichen Erzählpsychos wird deutlich, wie verzweifelt und verzehrend Kavans Kampf ist, ein ewiger, weiblicher Kampf gegen das zweite, eisig kalte Gesicht aller Albtraumtypen.

Kavan wurde gern und oft als Kafkas Schwester bezeichnet, doch sie ist eine aufmüpfige Schwester, eine, die nichts mit dem Bruder gemein haben will – außer den ersten Buchstaben im Kunstnamen und der ewigen Mission, im Traum die Axt zu schleifen, um dem inneren Eismeer etwas entgegenzuhalten. Auch wenn in Ice am Ende alles vielleicht nur Einbildung ist – das Gefühl, das bleibt, ist echt.

Montag, 12. Juli 2021

Adam und Eva, neu erzählt

Zwei Menschen erwachen eines Morgens splitternackt auf einer Wiese und finden sich gefangen in einer gigantischen Gartenanlage. Die beiden Menschen, eine Frau, ein Mann, kennen einander nicht, sie kennen niemanden, sie wissen nicht, warum sie hier sind oder was sie gefangen hält, doch sie verstehen, dass sie zusammenhalten müssen, wenn sie in dem Gefängnis überleben wollen. 

Obwohl die beiden nackt sind, leiden sie unter der Hitze, der unerbittlichen, denn es regnet nie, es gibt keine Wolken und keine Sonnenmilch in der Anlage. Sie ziehen sich zurück in den Schatten, sie leiden und schwitzen unter den perfiden Regeln und Bedingungen, die ihnen eine fremde, unsichtbare, blecherne Stimme vorgibt. Sie müssen sich hier selbst um Nahrung kümmern, doch das gesündeste Obst wird ihnen verboten. Sie dürfen im Fluss baden, doch sie haben keine Seife. Erschöpft, erschlagen, ohne Mundhygiene und ohne jede Hoffnung vegetieren sie in den Wirrnissen der Anlage, die sie ewig hier hält, ummantelt von Mauern, die ihnen den Blick verbauen. Die Tage vergehen, doch es scheint, als wäre die Zeit hier stehen geblieben, jede Stunde wird ihnen lang, zieht sich unaufhaltsam auseinander; eine Siesta, die nie vergeht. Eine Idylle ohne Ausweg.

Es ist schließlich die Frau, die einen Plan fasst. Sie gerät in Kontakt mit einer ehemaligen Aufsicht, einem lispelnden Außenseiter, der aussortiert, freigestellt wurde; als einziges Wesen erkennt die Aufsicht das Martyrium der beiden Menschen, sie bietet ihre Hilfe an, kennt immer noch alle Pfade und Geheimnisse der Anlage. Der Schlüssel, sagt sie, er liegt versteckt in der Frucht des Obstbaumes (deshalb das Verbot), und die Frau begreift endlich, sie geht zum Baum, wiegt die Früchte und ertastet sofort die richtige; sie weiht den Mann ein und beißt in den Apfel, und tatsächlich, der Schlüssel ist da, er passt, und das Tor der Anlage öffnet sich umgehend, sie fassen einander an den Händen und sie fliehen gemeinsam, sie verlassen die Anlage, zum allerersten Mal, sie atmen, sie lächeln, sie haben Angst. Sie erwarten das schlimmste, doch niemand verfolgt sie, niemand ist hinter ihnen her. Sie gehen weiter, wissen nicht, was vor ihnen liegt. Sie sind frei.

Montag, 21. Juni 2021

Ein guter Schluss

Es gibt Künstler, denen begegnest du im Dienst immer wieder; manche bleiben Bekannte, du nickst ihnen zu, drehst dich schnell ab, tust schon mal so, als hättest du sie nicht gesehen; andere werden zu guten Freunden. Einer meiner besten war Vorarlberger, starb vor 82 Jahren und bringt kleine, englischsprachige Gäste zum Lachen, wenn sie seinen Namen aussprechen: Rudolf Wacker.

Das erste Mal traf ich ihn vor fünf Jahren im Touristenschloss, sein Porträt hing damals in der Haussammlung, bevor die neue Direktorin kam; expressionistisch, grell, verzerrt, mit Mütze am Kopf und Schaum vor dem Mund – Rasierschaum, wohlgemerkt. Sofort war er mir sympathisch, der gepinselte Mann aus Bregenz, doch es dauerte, bis wir einander wiedersahen, erst zwei Jahre später durfte ich die große Schau zur Zwischenkriegszeit bewachen, wieder und wieder, bis ich ihn das zweite Mal im vorletzten Raum bei der Neuen Sachlichkeit traf: wieder ein Porträt, doch diesmal ein tieftrauriges, eine kaputte Kinderpuppe sah mich aus dem Rahmen an, ein enorm detaillierter, rissiger Rumpf, ein Spielzeug mit Schmerz und Seele, aber ohne Kameraden. Auch das konnte mein Freund, vielleicht sogar am besten: das Künstliche beseelen, mich mitfühlen lassen, wenn ich ins geschundene Antlitz eines gemalten Puppenkopfes blicke.

Doch wieder dauerte es, wieder kam er mir aus den Augen, aber nie aus dem Sinn, und heute, schließlich, treffe ich ihn ein drittes Mal. Im Auktionssaal diesmal, und wieder überrascht er mich, mit einer lebendigen, knalligen Seelandschaft, ganz ohne Albtraum und Selbstironie. Die sparte er sich auf seinen späten Leinwänden, setzte sie lieber in seine Notizbücher: eine produktive Woche am See, täglich ein Bild, „von der Neuen Sachlichkeit zur Neuen Saftigkeit“, so hält er sein vitales Freiluftschaffen selber fest. Wer so schreibt, der hat Humor, und Wacker war einer, der ganz besonders über sich selbst lachen konnte (das zeigen seine Selbstporträts), doch er verstand keinen Spaß, wenn es um das ging, was ihm ernsthaft am Herzen lag: die Kunst, die freie.

Wacker starb im April 1939 kurz nach einer Hausdurchsuchung. Es heißt, als die Gestapo unangekündigt in sein Atelier stürmte und alle seine Arbeiten und Mappen durchwühlte, soll er sich so darüber aufgeregt haben, dass er einen Herzinfarkt erlitt. Bei einem anschließenden Verhör kam ein zweiter dazu, wenig später der Tod. Zu sagen, die Nazis hätten ihn auf dem Gewissen, ist nicht übertrieben: die Werkstatt eines Künstlers auseinandernehmen, heißt sein Leben nehmen. Hätte der Mann aus Bregenz Ruhe bewahrt, das Prozedere, die Demütigung still über sich ergehen lassen, er hätte womöglich überlebt, noch Jahrzehnte weiter geschaffen. Doch Ruhe bewahren ist keine Option, wenn es um dein Leben geht. Wenn dir die Kunst so sehr am Herzen liegt wie Rudolf Wacker, meinem Freund, dann musst du sie mit vollem Organ, ohne Rücksicht verteidigen, so laut und so lange, bis das Herz nicht mehr mitkommt, zum Schlagen aufhört. Weil ein Leben ohne Kunst ohnehin herzlos wäre.

Den Spartanern wird angedichtet, den „guten Tod“ am Schlachtfeld zu finden; doch wenn es überhaupt so etwas wie einen „guten“ Tod gibt, ihn jemals geben kann (und vielleicht gibt es ihn nur in dem Sinne, in dem es einen guten Schlusssatz gibt: sein Wert ergibt sich aus all den Seiten davor), dann liegt der gute Tod nicht im Kampf, sondern im Einsatz für eine Sache (seltsam, wie oft das eine mit dem anderen verwechselt wird). Nicht weniger mutig und konsequent als ein stur heroischer Spartaner setzte sich Wacker für seine saftige, grelle, kunstvolle Heimat ein, die nur vom Keilrahmen begrenzt war. Auch wenn der Tod nicht sofort eintrat, so starb er doch in dem Moment, in dem die Tür zu seinem Atelier aufgerissen wurde und sich eine braune Horde auf sein Werk stürzte; ungestüm, kunstfern, vor allem: respektlos. Ich stelle mir vor, wie der Künstler dabei rot und grün im Gesicht wird, wie in seinem frühen Selbstporträt, und die Uniformen im wüsten, unbändigen Vorarlbergerisch beschimpft, bis er vor Wut umkippt, liegenbleibt. Ich stelle mir vor, das wäre ein guter Schlusssatz, einer, der ihm gefallen hätte: Er starb im Stillen, weil er sich lautstark für sein Leben einsetzte.

Montag, 7. Juni 2021

Drei Farben Grün

In unverständlicher Regelmäßigkeit begegne ich in der Stadt, bei der Arbeit Menschen, die mir ansatzlos, ungefragt und völlig selbstverständlich ihre Lebensgeschichte erzählen. Man kann sie nicht wirklich daran hindern oder dazu ermutigen; sie tun es einfach. Es ist herausfordernd, ihnen zu folgen, unmöglich, etwas zu erwidern, sehr einfach, etwas von ihnen mitzunehmen. Denn inmitten konfuser Gedanken lauern immer wieder Geschichten, überraschende, tragische Geschichten, große Anekdoten, die es wert sind, behalten, vielleicht aufgeschrieben zu werden. Was ich hiermit tue. 

Samstagnachmittag, der Sommer lässt auf sich warten, ich stehe im größten Schausaal des Auktionshauses inmitten Alter Meister, starre abwesend auf Öl auf Holz, als mich der deutsche Pensionist von der Seite anspricht; ein obligatorischer Kommentar zur Maskenpflicht, und dann hebt er die Hand zum Bild. Wir stehen vor einer flämischen Landschaft des frühen 17. Jahrhunderts, ein Gemeinschaftswerk, wie so viele ihrer Zeit (die damals schon Geld war) und der Mann erklärt mir, dass er ein Geburtstagsgeschenk suche; diese Landschaft von Joos de Momper, vor der wir stehen, die hat was, die könnte es werden – fabelhaft, sinniert er, auch wenn Momper kein großer Perspektivmaler war, die Figuren im Hintergrund sicher zu groß, doch die Tiefenwirkung, einmalig. Momper, erfahre ich, war derjenige, der die Tiefenmalerei erst populär machte, er war es, der die Dreifarbentechnik zur Meisterschaft erhob (aber nicht erfand).

Joos de Momper, im Shakespeare-Jahr 1564 geboren, war genial genug, um eine Idee zu perfektionieren, die so einfach war, dass sie Jahrhunderte unentdeckt blieb: er unterteilte die Landschaft in drei Teile zu drei Farben, braun der Vordergrund, grün der Mittelteil, blau die Ferne. Der deutsche Gast erklärt mir das, zeigt wieder auf das Bild hinter uns, das mögliche Geschenk, die weite Flusslandschaft mit vornehmen Figuren bei einer Brücke, und wirklich, erst jetzt wird es mir bewusst, sehe, verstehe ich die Anordnung der Dreifarbigkeit, doch es ist nur das Grün, der grelle Hoffnungsschimmer, der mir ins Auge sticht, leuchtend und satt wie die hellgrüne Zauberstadt von Oz, ein wirklich fabelhaftes Bild, denke ich mit der Stimme des Mannes, der weiter neben mir steht und bald noch viel mehr aus seinem Leben, seiner Vergangenheit, seinen politischen Überzeugungen erzählen wird, bevor mich die Kollegin zur Pause ablöst.

Am späteren Nachmittag treffe ich den Mann noch einmal, er dreht immer noch seine Runden, tritt noch einmal vor das Bild, das mit jedem Mal tiefer und grüner erscheint. In seinen Augen ist zu erkennen, wie viel es ihm wert ist. Für wen das Geschenk denn eigentlich sein soll, im Falle des Zuschlages, frage ich. Er lächelt. Für ihn selbst, sagt er, fast heiter. Seit zwölf Jahren kauft er sich seine Geburtstagsgeschenke hier, und immer selbst.

Weil es sonst niemand mehr tut.

Mittwoch, 2. Juni 2021

Rückkehr ins Palais

Nach Monaten der Schließung, stiller, führungsfreier Zeit, kehre ich zurück in das Palais des Fürsten, treffe nach Monaten wieder die alte Mannschaft, die mir ehrlich abgegangen ist. Die erfahrene Kollegin aus der Zentrale kommt mir entgegen, wir stehen in der Sala Terrena, sie grüßt mich herzlich, warm, wie ich es gar nicht kenne von ihr, und wir umarmen einander, es ist, als würde man ein beliebtes, wiederaufgenommenes Theaterstück neu proben, ein erinnerter Erfolg, der lange, sehr lange ausgesetzt hatte.

Die Kollegin freut sich über meine Rückkehr, sie sagt ohne Umschweife, es sei viel passiert, sie hätte mir etwas sehr Persönliches zu erzählen. Sie schaut mir ins Gesicht und macht einen Vorschlag. Wir könnten uns am Samstag treffen und darüber in Ruhe reden, ohne die störenden Ablenkungen im Dienst. Und danach, sagt sie, können wir noch zu ihr gehen und Sex haben. Oder eine Tasse Tee trinken, falls mir das lieber ist. Sie sucht wieder meinen Blick. Ob mir so viel Offenheit Angst mache, fragt sie. Ich bin nicht mehr sicher, aber ich glaube, ich schüttle den Kopf. 

„Ehrlichkeit ohne Anstand ist verletzend“, soll Konfuzius einmal gesagt haben (was hat er nicht gesagt?), und es stimmt schon, es stimmt, wenn das ehrlich Gesagte keine Rücksicht auf Verluste nimmt, dann wird es eine Spur der Verwüstung ziehen, wird vernichten und zerstören; doch die Offenheit tut das nicht; sie ist friedlicher, weniger kriegerisch, sie verletzt nicht, sie ist entwaffnend – und ohne Waffen ist die Chance auf Leben ungleich höher.

Mehr als einmal, denke ich, wäre die Offenheit meiner Kollegin auch im Wachen wünschenswert, nicht nur in entwaffnenden Träumen wie diesen.

Sonntag, 18. April 2021

Montag, 29. März 2021

Momente und Alltag

Manche kleinen und unscheinbaren Erinnerungen wirken umso wertvoller, je unwahrscheinlicher ihre Erfahrung in der Gegenwart wäre. Ich erinnere mich an eine Zeit, als es noch regelmäßig Konzerte gab, mit Publikum, in geschlossenen Räumen. Ich erinnere mich an einen Dienst, vor knapp vier Jahren, eine meiner ersten Aufsichten im Glasbau für moderne Kunst. Ich stand in der Haupthalle und überschaute den Aufbau für ein Konzert, das an diesem Abend stattfinden sollte. Eine deutsche Punkband, die ihre besten Tage (Monate, Jahre) bereits hinter sich hatte, wollte es noch einmal wissen, schickte sich in Gatsby-Manier an, die Vergangenheit zu wiederholen und die eigene Bandgeschichte zu befeiern; denn genau hier, in dieser Stadt, in diesem Bau, geigten sie vor genau 25 Jahren auf. 

Damals waren sie jung, wild, hungrig, Kult. Heute sind sie sechs alte Herrschaften, denen ich die Tür aufhalten darf. Denn meine Position ist an der Fluchttür, rechts neben der Bühne, dort, wo es in den Garten und zu den Parkplätzen geht, wo der bescheidene, unauffällige Bandwagen steht. Ich öffne ihnen die Tür, die nur von innen aufgeht, damit die alten Nichtkonformen ihre schweren Instrumente hereinschleppen können, und betrachte diese Künstler, die ihre Berufung nicht verfehlt haben. Vor 25 Jahren müssen sie Idole gewesen sein, denke ich, haben die Wut, den Frust einer jungen Generation in die Mikrofone gerotzt, den Plattenbau zum Beben gebracht, Zeilen für die Ewigkeit verfasst. Helden waren sie früher, doch das Alter macht sie mir zu etwas anderem: zu echten Menschen.

Sie werden mir in dem Moment zu Menschen, als der Gitarrist kurz vor Konzertbeginn an mich herantritt und leise, fast schüchtern um einen kleinen Gefallen bittet: Wenn ich sehe, dass er vor der Zugabe auf mich zukommt, soll ich sofort die Tür aufhalten, damit er in den Garten und schnell wieder zurück kann; ein ganzes Konzert halte seine Blase heute einfach nicht mehr aus. Ich nicke automatisch, lächle die Verblüffung weg, und der Gitarrist zwinkert mir verschwörerisch zu, das bleibe unter uns, wäre unsere kleine Abmachung. In dem Moment sind wir nicht Aufsicht und Gitarre; wir sind Komplizen, zwei Verbündete.

Der Nachmittag vergeht, es wird Abend, draußen dunkel und das Konzert beginnt. Ich stehe an der Fluchttür, sehe aus der Distanz hinüber zur Bühne, die von vier gealterten Menschen betreten wird, Menschen, die sich mit dem ersten Akkord sofort wieder zurückverwandeln, in die lauten, bunten Punks ihrer Jugend, und für zwei Stunden, da sind sie wieder ihre eigenen Kinder, die Helden von früher, der Sänger ein hüpfender Protest aus Farbenfetzen, alle Regenbogentöne trägt er am Leib, lässt eine Schicht nach der anderen fallen, bis er mit freiem Oberkörper gegen die Zeit anschreit, und dann, tatsächlich, kommt der Moment, mitten hinein in das Abebben des Abschlusssongs, ihrer größten Hymne: Während der Bass noch brummelt, das Schlagzeug trommelt, die Menge jubelt, legt der Gitarrist das Instrument ab, dreht sich in meine Richtung und rennt abrupt von der Bühne, in unfassbarem Tempo rennt dieses kleine Männlein auf mich zu, ich halte die Tür auf und es verschwindet im Garten hinter dem Museum; keine Minute später kommt es zurückgerannt, wieder halte ich die Tür auf und schon steht der Gitarrist wieder am Instrument und die Zugabe strotzt vor altersloser, endloser Energie.

Später, als das Publikum schon lange weg ist und der Abbau schon begonnen hat, kommt er noch einmal zu mir, zu seinem Komplizen, und bedankt sich, ehrlich zufrieden, das hätte wirklich ganz toll geklappt. Bis heute habe ich diese Bilder, seine Worte nicht vergessen; der Moment, in dem er auf mich zurennt, diese irre Geschwindigkeit, die geheime Abmachung, die wundervolle Offenheit, die aufrichtige Schwäche.

Damals war es eine Anekdote, ein ziemlich guter Dienst. Heute ist es einer der schönsten und menschlichsten Konzertmomente, an die ich mich erinnere – und mit jedem veranstaltungsfreien Pandemietag scheint er mir klarer und wertvoller.

Dienstag, 16. März 2021

Super Mario, neu erzählt

Zwei hoffnungsfrohe Brüder verlassen ihre sonnige, kaputte Heimat, um in einem fernen Land ihren Traum von Freiheit auszuleben. Sie gründen ihren eigenen Betrieb als Meisterklempner, der eine trägt Rot, der andere Grün, die Farben ihrer Heimat, und mit weißen Handschuhen und dunklen Schnurrbärten wollen sie im großen Stil das schnelle Geld machen, das Klempnereigeschäft auf eine neue Ebene heben. Doch die Geschäfte laufen schlecht.

Eines Tages erhalten sie einen Anruf, unverhofft, von hoher Adresse. Der Ältere hebt ab, er soll sich um ein verstopftes Kellerrohr in einem Schloss kümmern. Ohne seinen kleinen Bruder einzuweihen, nimmt er den Auftrag an; geblendet vom Geld, wittert er seine große Chance, er will sich allein beweisen und alleine abräumen, hat nur noch die vielen, glänzenden Münzen vor Augen.

Er schlüpft in seine rote Montur und die blaue Latzhose und begibt sich zum entlegenen Anwesen. Doch in den verworrenen Heizkellern verzweifelt er am schier unendlichen System an Rohren, bis er von fern eine Musik vernimmt, die ihn verzaubert; er lässt die Arbeit liegen und folgt der beschwingten, fremden Melodie durch die Schlossgänge, hinauf zu dem Festsaal, aus dem sie ertönt. Er schielt durch den Türspalt und traut seinen Augen nicht: Der gesamte Saal ist mit Rosen geschmückt, dutzende Gäste tanzen in bunten, fantastischen Kostümen, sind verkleidet als Amphibien, Pilze, Pflanzen und Baumwerk, und zwischen ihnen, da erkennt er eine blonde Erscheinung im bodenlangen Märchenkleid, eine Krone auf dem hellen Haupt, und sieht nichts mehr außer ihr. Der Klempner weiß nicht, dass sie die Frau des Schlossherrn ist, es wäre ihm auch egal, denn sein Herz, seine Lenden führen ihn bereits, und er vergisst das Rohrproblem, alles Geld der Welt, er will nur noch sie.

In seiner roten Montur, die rote Kappe ins Gesicht gezogen, mischt er sich unter die Ballgäste, nähert sich ohne zu zögern der falschen Prinzessin; ein Lächeln, ein paar Worte, und sofort verfällt sie seinem Akzent, dem südländischen Charme, zieht ihn sofort mit sich in die Séparées – er weiß nicht, dass sie seit Wochen und Monaten auf diese Chance gewartet hat, auf ein schnelles Abenteuer, einen Auswärtigen, um sich endlich aus dem tristen Alltag zu befreien, der Abhängigkeit ihres Gatten zu entkommen; er weiß es nicht und er wird es nie erfahren, denn der Schlossherr überrascht die beiden in der Dienstkammer – außer sich vor Zorn sperrt er seine Frau in das Turmzimmer und schert den Klempner zum Teufel.

Noch Jahre später kann der Mann mit dem Schnurrbart diese Begegnung nicht vergessen. Von seinem kleinen Bruder hat er sich längst entfernt, den Beruf schon lange verloren, doch immer noch trägt er die rote Montur von damals, und immer noch hofft er, sie eines Tages wiederzusehen, die Eine, die Einzige, seine Prinzessin, die wie Pfirsich roch. In Träumen sucht er sie, sucht ihr bodenlanges Märchenkostüm, ihren Duft, ihren Zauber, die Musik, die ihn damals gelockt hat und die er nie wieder vernahm. Er läuft einem falschen Ideal hinterher, doch er erreicht es nicht, findet nie ans Ziel. Er verliert den Verstand um sie, ist längst irre, und noch in seiner Zelle, ganz in Weiß, wird er auf und nieder hüpfen und nach der Prinzessin rufen und ihr schwören, sie zu befreien, sie endlich aus ihrem Schloss zu befreien.

Mittwoch, 10. März 2021

Panierte Schrecken

Ich flaniere über einen Jahrmarkt aus warmen Farben, allein und gedankenlos, treibe durch den Trubel um mich herum, unter rotgelben Lichtern, ohne zu wissen, wie ich hierher gekommen bin (es stimmt schon, was DiCaprio in Inception sagt, man weiß wirklich nie, wie man im Traum irgendwo hinkommt). 

Obwohl ich mich nicht erinnere, etwas konsumiert zu haben, erwache ich am nächsten Morgen verkatert im Haus meiner Kindheit; ich renne umgehend von meinem alten Zimmer ins Bad und starre schockiert auf das Bild, das mich dort erwartet: Die Kloschüssel, das Waschbecken, sie sind verstopft und überfüllt mit Unmengen an panierten Hühnerteilen. Zwei Berge aus Backhendln ragen aus den rosakalten Keramikschlünden, dicht an dicht, quellen hervor wie panierte Geschwüre, haufenweise Gasthausabfälle, die mein Badezimmer überwuchern. Doch es ist nicht dieses widerwärtige Szenario, dass mich in Angst, Panik, Schrecken versetzt, es ist die Lücke, die mich wirklich entsetzt, diese schreckliche Lücke: Ich spüre unendliche Angst, weil ich nicht mehr weiß, wie und woher die unzähligen Hühnerstücke in das Bad kommen – und ob ich sie womöglich selbst geholt habe, vom überfüllten, unklaren Jahrmarkt.

Das wahre Grauen, der tiefste Schrecken, sie kommen (in Traum wie Literatur) allzu oft aus der Unschärfe, der eigenen Unwissenheit; der unruhigen Angst vor mir selbst und meinen fluiden Erinnerungen. Warum weiß ich nicht, was zwischen Jahrmarkt und Morgengrauen passiert ist? Weshalb kann ich nicht sagen, wie die Paniergeschwüre in mein Haus gelangten? Und vor allem: Wäre ich wirklich dazu fähig, könnte ich selbst mein eigenes Kindheitsbad mit Backhendlbergen vermüllen? Weil ich es nicht widerlegen kann, klopft das Herz. Weil ich es nicht glauben will, hält die Panik an. Nicht im Bild, im Gedanken dazu sitzt der panierte Schrecken, sitzt, bleibt, lähmt mich, bis endlich das Handy läutet.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, gibt es keinen Jahrmarkt und keine überfüllten Orte. Und halb verstört, halb erleichtert wird mir bewusst: Ich habe seit Pandemiebeginn nichts Paniertes mehr gegessen.

Freitag, 5. März 2021

Fragment eines Museums der Zukunft (II)

Seit einem Jahr schon hat sich der Massentourismus erledigt. Die Bilder aus dem Museum, in dem eine finnische Kollegin vom Andrang erdrückt wird, liegen nur vierzehn Monate zurück und wirken doch wie aus einer fernen Zeit, selbst schon museal, historisch, Relikte einer vergangenen Epoche, ausgestellt, um nicht vergessen zu werden. Die Gegenwart bittet um Abstand von diesen Bildern, und zum ersten Mal, da wird er wirklich eingehalten, da wird er nicht nur von ein paar Aufsichten gefordert, sondern von einer Pandemie. Aufsichten kann man ignorieren, die Weltlage nicht. Früher schrieben die Tourismustempel und Kunstschlösser ständige Rekordzahlen mit Rekordausstellungen, heute erfrieren die Rekorde im Minusbereich: Schließungen, Verluste, Verschiebungen. Wiedereröffnung, Wiedervertröstung.

Es ist der erste Freitag im März, es regnet, möchte schneien, und ich läute an der Tür zu einer Galerie. Ich gehe die Stufen hoch, in den Mezzanin, betrete die Ausstellung, nach Ewigkeiten wieder einmal privat in einem Kunstspeicher, doch dieser hier ist leer, wie ausgeraubt; ich bin der einzige Besucher, niemand sonst hat sich hierher verirrt (auch ich nur, weil ich einen dezenten Zeitungsbericht nicht übersehen habe), doch das ist nicht die Überraschung. Die Pointe ist, auch die Wände in dieser Ausstellung sind leer. Zahnarztweiß und unbehängt, wohin ich blicke – nur ein einziges Werk hängt hier, schwebt kommentarlos über dem Boden: eine lebensgroße schwarze Leinwand, ein absoluter, schwerer Monolith aus Dunkelheit, zerfurcht und zerkratzt wie eine teure Karosserie von wütenden Schlüsselbünden.

Der Galerist, der mich hineinließ, fragt, ob ich es verstanden, ob ich schon eine Idee hätte. Ich weiß nicht, was er meint, blicke auf die Leinwand, will angestrengt etwas darin suchen, bis mich der gute Mann endlich aufklärt: die schwarze Leinwand ist keine Leinwand – es ist eine aufgespannte Kuhhaut. Die Furchen und Risse hat nicht die Künstlerin gezogen, es sind Narben von den Weidezäunen. Die geschwärzte Haut, auf die ich starre, ist ein Mängelexemplar, ausgestellte Ausschussware, aussortiert von der zähen Lederindustrie (die nur zehn Prozent aller abgezogenen Kuhhäute auch wirklich verwendet, wie ich erfahre). Keine Ausstellung, sagt der Galerist, nur ein Moment der Ruhe soll es sein, ein Stellvertreterbild zum Verweilen und Versinken. Kontemplation.

Und vielleicht ist es genau das: Eine Ausstellung, die keine Ausstellung sein will, die nur ein einziges Bild zeigt, um zu zeigen, was alles nicht gezeigt werden kann, weil es abgesagt, vertröstet, verschoben werden musste, ein trockenes Fellstück, während die Welt vor die Hunde geht, um anzudeuten, worum es gehen könnte, sollte, vielleicht müsste; ein Borgesgedanke im Keilrahmen, ein Bild, das alle Bilder umfasst: das Universum auf einer Kuhhaut.

Kehlmann hat einmal gemeint, in einer perfekten Welt würden alle Schriftsteller vielleicht nur ein einziges Buch schreiben, und mit dem wäre dann alles gesagt. Ich stelle mir diesen Gedanken für die Kunstwelt vor, stelle mir vor, alle Künstler würden ihr Leben lang nur noch an einem einzigen Bild arbeiten, und auf dem wäre dann alles enthalten. Und in allen wiedereröffneten Ausstellungen dieser Welt wären dann nur noch diese einzelnen, absoluten Lebensbilder enthalten, die man ein Leben lang betrachten könnte. Und den Anfang hätte Anneliese Schrenk gemacht, die Künstlerin, die ich heute entdecken durfte. Mit einem dunklen, vernarbten Stück Restleder, in dem ein ganzes Leben steckt.

Oder wenn ich genauer nachdenke: mehrere. 

Mittwoch, 17. Februar 2021

Über das Frieren

In der Welt der Aufsicht gibt es gute, weniger gute, schlechte und unerträgliche Dienste. Zu letzteren zählen die unvermeidlichen Außendienste, die ich in steter Unregelmäßigkeit durchstehe, das Bewachen von Eingängen, Baustellen, Innenhöfen, Außenstellen, die gerade jetzt herhalten müssen, bis die Museen wieder öffnen dürfen. Ich stehe im privaten Windkanal des Auktionshauses, überblicke und regle die Parkordnung, versuche die Anliegen rumänischer Lieferanten zu entschlüsseln, und friere.

Ich stehe im Innenhof und friere, trotz Haube, Winterjacke, drei Paar Socken, ich friere, weil die Februarkälte anzieht, weil die Durchblutung mich wieder im Stich lässt, weil ich schon viel zu lange in der Kälte stehe, ich friere. Und mit dem Frieren werden auch meine Gedanken nur von Kälte beherrscht, und ich muss an die Tagebücher von Friedrich Hebbel denken, ständig beklagt er darin, wie es ihn friert, wie er wieder nicht warm wird, wie die nächste Verkühlung sein Genie bremst, wie sich Kältedramen im Schreibzimmer abspielen. Und Hebbel war beileibe nicht der einzige Schreiberling, der ständig fror: von Erasmus über Nietzsche bis Kafka – liest man über die Leben und Leiden aller großen Dichter, Denker, Philosophen, muss man glauben, die Geschichte der Literatur sei eine einzige, große Geschichte des Frierens.

Über Erasmus, den Größten aller Humanisten, schrieb Stefan Zweig: „Unwillkürlich denkt man bei diesem feinen, ein wenig konservenhaft trockenen Mönchsgesicht zunächst an verschlossene Fenster, an Ofenhitze, Bücherstaub, an durchwachte Nächte und durcharbeitete Tage; keine Wärme, keine Kraftströme gehen von diesem kühlen Antlitz aus, und in der Tat, immer friert Erasmus, immer hüllt sich dieses zimmersitzende Männchen in weitärmelige, dicke, pelzverbrämte Gewänder“ – doch nicht einmal die helfen ihm, immer braucht er ein Schlückchen Burgunder (nicht zu bitter), immer ist er blass, kränklich, überempfindlich, lebt und denkt in ständiger „Untergesundheit“ – und entwickelte die herzerwärmendste geistige Lehre des 16. Jahrhunderts.

Erasmus von Rotterdam war ein Vorzeigefröstler, einer, der sich von Kälte nicht verbittern ließ, obwohl seinen Schreibtagen kaum bis keine körperliche Wärme vergönnt war. Das Frieren liegt in der Natur des Schreibens – denn Schreiben beginnt damit, sich hinzusitzen – doch es ist ein freies, ein selbstbestimmtes Frieren, eines, für das man sich bewusst entscheidet, indem man der regen Bewegung das rechte Wort entgegenhält, der Vitalität des Lebens die Kraft der Gedanken. Bei Wind und Wetter muss man sich in sie versenken und alles um sich vergessen, selbst die Kälte, den Wind, die starre Sitzhaltung, die zum Frösteln neigt. Schreiben, das ist zutiefst ungesund, wie ein sturer Außendienst an arktischen Wintertagen, es ist ein zitterndes Syndrom, eine Anleitung zur Kränklichkeit, die alle großen Dichter und Denker befolgt haben – doch in ihr selbst liegt auch die Heilung: Denn ohne das eingehende Frieren im Sitzen hätten sie nie zu den Gedanken gefunden, an denen sich ihr Geist erwärmte.

Die Geschichte des Schreibens ist eine Geschichte des Frierens; es ist ein windig schönes, allzu menschliches Paradox, das sich durch alle schlecht beheizten Schreibstuben der Weltliteratur zieht: Sich auf das Frieren einzulassen, es überhaupt erst zu suchen, um schreibend gegen die Kälte anzukämpfen, sich an den Gedanken zu wärmen, während der Körper erkaltet. Nur passend, dass die vielleicht schönste literarische Liebeserklärung an das Frieren von einem Chilenen stammt: Alejandro Zambra lässt in Der chilenischste Mann der Welt seine Hauptfigur nach Belgien reisen, wo sie sich an den stillen Vater erinnert, der immer dann ein neuer Mensch wurde, wenn er den Witz vom verfrorendsten Chilenen erzählt, vom "chilliest man in the world", der natürlich eines Tages erfriert. Er kommt in den Himmel, doch auch dort friert er, also schickt ihn Gott in die Hölle, aber selbst hier ist es ihm zu kalt – also sperrt ihn der Teufel in ein Zimmer im Kern der Sonne, dem heißesten Ort des Universums. Ewigkeiten hört man nichts von dem Chilenen. Irgendwann wird der Teufel unruhig, er reist zur Sonne, öffnet die Tür zur Kammer und umgehend ertönt eine bibbernde Stimme aus dem Inneren: "Tür zu, es zieht!"